Sei lieber nicht du selbst

von Michael Wolf

28. Januar 2020. Der Schauspieler Lars Eidinger zog kürzlich einen Shitstorm auf sich. Zur Bewerbung einer von ihm designten Tasche hatte er sich in einer abgetragenen Jacke vor Schlafplätzen von Obdachlosen fotografieren lassen. Die Reaktionen reichten von "geschmacklos" über "zynisch" bis "schlicht dumm". Im Interview mit der SZ verteidigte sich Eidinger denn auch mit stupender Einfältigkeit. Vor den Schlafsäcken der Obdachlosen hätte er sich nur ablichten lassen, weil die eben auf seinem Heimweg lägen und mit der Jacke laufe er immer rum, ist halt sein Look.

Tasche, Jacke, Heimweg

Eidinger scheint zu glauben, das Befolgen des ersten Gebots unserer narzisstischen Gegenwart – "Sei du selbst!" – immunisiere ihn gegen Kritik. Leider ist der selbsternannte Instagram-Künstler damit kein Einzelfall. Am Theater grassiert die Sehnsucht nach dem Echten. Matthias Lilienthals Kammerspiele erheben es zum Programm, Falk Richter erforschte kürzlich die Männlichkeitsvorstellungen seines Ensembles, und selbst Thomas Ostermeier flirtete schon mit dem Authentischen.

kolumne wolfLängst weiß ein Abonnent mehr über das Intimleben des Ensembles als über das Personal Shakespeares. Das Reale ist einfach zu verlockend. Indem er als echter Mensch auftritt, kann ein Schauspieler leichter die Affekte des Publikums erregen. Die Wirkung jeder seiner Aktionen wird biographisch verbürgt. Das bedeutet aber umgekehrt auch, dass jede Aktion und Emotion nicht nur dargestellt, sondern live erlebt werden muss. Und hierbei erweist sich der Performer dann doch allzu oft als unglaubwürdiger Schauspieler und damit: als schlechter.

Misstrauisch wurde ich vor einigen Jahren, als ich eine Repertoirevorstellung von Yael Ronens Inszenierung Denial besuchte. Maryam Zaree präsentierte darin ihre Lebensgeschichte, die der Tochter einer vor dem Mullah-Regime geflüchteten Iranerin. Auf der Bühne litt sie fürchterlich an den Traumata, die sich in ihrer Familie fortsetzten. Sie fürchtete und hoffte zugleich, dass ihre Mutter, mit der sie niemals über den Horror der Vergangenheit gesprochen hatte, im Publikum sitzen würde.

Echte oder falsche Tränen

In der Premiere hätte mich Zarees Spiel womöglich ergriffen. An diesem Abend aber – im Wissen, dass sie diesen vermeintlich einzigartigen Moment ihrer Biografie schon in den zwanzig Vorstellungen zuvor reproduziert hatte – glaubte ich ihr kein Wort und keine Träne.

Man mag einwenden, dass Yael Ronen um diesen Schwachpunkt ihrer Ästhetik sehr gut weiß. Sie selbst misstraut dem Authentischen und manipuliert ihre eigenen Spielregeln. So vertauschte Ronen zum Beispiel bei Common Ground die vorgetragenen Lebensgeschichten zweier Schauspielerinnen. Ihre Arbeiten gehören damit immerhin zu den intelligenteren eines Genres, das vorgibt, sich für Menschen zu interessieren und doch eigentlich nur menscheln will.

Der Dramaturg Bernd Stegemann kritisiert diese Art Theater schon lange. Er identifiziert im Performer den Prototyp eines vom neoliberalen Kapitalismus ausgebeuteten Arbeitnehmers, von dem nicht nur Leistung, sondern auch persönliche Identifikation eingefordert wird. Ich finde, man muss nicht gleich politisch werden, um den authentischen Spieler zu kritisieren. Es genügt zu bemerken, dass sein Auftreten einen ästhetischen Rückschritt markiert.

Zurück zur Verteidigung der eigenen Welt

Das authentische Theater entlastet sein Publikum von jeder Abstraktionsleistung, gibt die Suche nach Wahrhaftigkeit für die Versicherung einer Wahrheit auf. Das ist kein Realismus, das ist Reality-Theater. Die Schauspieler verteidigen ihre Domäne zu keinem Zeitpunkt gegen die Ansprüche der Welt, öffnen bereitwillig auch die erste, zweite, dritte Wand, fluten ihre Bühne mit einer Realität, anstatt deren Herstellung zu reflektieren und zu verwirren.

Für die Kunst als autonome Sphäre in der Gesellschaft, als Korrektiv, als störendes Moment bleibt so kein Platz mehr. Auch thematisch droht ein Theater, das sich der Authentizität verpflichtet, zu verarmen. Es kann kein Ort der Träume sein, kein utopisches Medium, muss es doch immer verhandeln, was Schauspieler gerade halt so beschäftigt. Um zu erkennen, wie schief das gehen kann, braucht man denn auch gar nicht mehr ins Theater gehen. Da genügt es schon, ein Interview mit Lars Eidinger zu lesen.

Michael Wolf, Jahrgang 1988, ist Redakteur bei nachtkritik.de. Er mag Theater am liebsten, wenn es schön ist. Es muss nicht auch noch wahr und gut sein. 

 

In seiner letzten Kolumne warb Michael Wolf für ein posttheatrales Theater.

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