Die Logik des Kapitals

von Frank Schlößer

Schwerin, 8. Februar 2020. Die Studiobühne im E-Werk Schwerin ist eine Spielfläche, auf die das Publikum hinunterblickt: Ein großes Hintergrund-Prospekt mit Bäuerinnen vor einem allzu weiten Feld bietet nicht nur räumliche Tiefe, sondern auch einen Blick auf das Thema des Abends – das Leben auf dem Lande.

Vom Traum ist nichts mehr übrig

Ein zweiter, schwarzweißer Prospekt versperrt den Blick in die Ferne: Drei barocke Eingänge sind das alte Gutshaus, das die Bauern in dem Nachkriegsdorf während ihres Aufbruchs in den Kommunismus ständig daran erinnert, wie der ländliche Raum bis dahin geordnet war: Da wohnte der Herr. Für den arbeiteten wir. Was wir bekamen, war von seinen Gnaden. War es ein guter Herr, dann ging es uns gut. Jetzt ist er weg – und die Bauern lassen natürlich nichts ungenutzt dort stehen. Sogar die Bücher kann man – nein, nicht lesen. Verkaufen.

UMSIEDLERIN1 560 SilkeWinkler uJunker*innenland in Bäuer*innenhand in Spekulant*innenhand: Anna Yoffe, Julia Keiling, Stella Hinrichts, Katrin Heinrich © Silke Winkler

Der Theatertext von Heiner Müller gehört natürlich nach Mecklenburg-Vorpommern. Und dort hat Milan Peschel ihn nun inszeniert. Der Text bezieht er sich ganz klar auf die Bodenreform und die Kollektivierung der Landwirtschaft in der Besatzungszone und in der jungen DDR. Inzwischen ist die Privatisierung der Landwirtschaft vollzogen, aus Junkerhand kam das Bauernland in Spekulantenhand. Vom alten Traum ist nichts mehr übrig, die Logik des Kapitals hat übernommen.

Gebrochen von der Last der Geschichte

Doch so recht ist von diesem Drama nun nichts zu sehen. Schon die indifferenten Kostüme weisen jede Idee zurück: Man läuft rum, so wie wie man eben rumläuft auf einem Dorf. Wo es keinen Unterschied macht, ob man gerade arbeitet oder Feierabend hat, da nimmt man sich das T-Shirt, den Pullover, der oben auf dem Stapel liegt. Untenrum tun es ein paar Leggins, die im Discounter grade im Angebot waren. Die Frauen dürfen etwas bunter sein. Äußerlich sind das keine Bauern, keine Konsumkritiker, keine Armen, keine Bürgermeister, keine Penner und schon gar keine Parteisekretäre, wie in Müllers Original. Sie sind nur irgendwie gleich. Genauso gleich wird gegessen und getrunken: Wurst mit Bier.

Mit "Die Umsiedlerin" rauschte Heiner Müller 1961 kurz nach dem Mauerbau zu ersten Mal mit der Staatsmacht zusammen. Zusammen mit dem Regisseur Bernhard Klaus Tragelehn handelte er sich ein Aufführungsverbot ein, Ausschluss aus dem Schriftstellerverband (was damals gleichbedeutend war mit einem fast kompletten Berufsverbot). Müller beschreibt in seinen Erinnerungen, mit welcher Lust und unter Abwesenheit jeder Kontrolle er seinen Stoff von 1956 umschrieb – während Tragelehn schon probte. Wie er auch das Politische zum Material werden ließ: Was eigentlich der Inhalt, die "Botschaft" sein sollte, nutzte er für witzige Dialoge und heitere Konfrontationen. Dazu gehört auch das Spiel mit revolutionärer Symbolik: Rote Fahnen, die das Ensemble zum Flattern bringen muss, Losungen, rote Losungen in Frakturschrift, rote Lieder des Oktoberklubs – alles ist gebrochen durch die Last der Geschichte.

UMSIEDLERIN2 560 SilkeWinkler uMit roten Fahnen ins Gutshaus: das Ensemble © Silke Winkler

Der Soundtrack des Stückes kommt in Peschels Inszenierung jetzt von Neil Young. Für den Film "Dead Man" von Jim Jarmusch aus dem Jahre 1995 improvisierte er mit seiner Gitarre im Studio. Auch der Monolog des dicken Indianers Nobody aus dem Film ist als Fremdtext eingearbeitet – unter anderem mit Brechts "Lob des Kommunismus" und der überlieferten Rede des Häuptlings Seattle an den Gouverneur von Washington aus dem Jahre 1855. Damit weitet sich der Blick: Amerika, der Traum eines freien Landes mit freien Menschen, ersoff schnell im Blut seiner Ureinwohner.

Nostalgie kommt zwischendurch trotzdem auf: Damals hat man wenigstens noch darum gestritten, ob und wie der Mensch in der Lage sein könnte, für ein gesellschaftliches Ideal zu kämpfen. Inzwischen ist sogar diese Frage abhanden gekommen. Es tut gut und weh, die elend lange Aufzählung all der Dörfer und Kleinstädte zu hören, in denen die DDR einst "Kulturpaläste" geplant hatte – wo sie wirklich entstanden, sind diese Häuser heute den Landgemeinden eher ein Klotz am Bein.

Respektloses Theater

Was übrig bleibt, ist Theater: 15 Bilder vom Leben auf dem Land, in denen mit Lust die Widersprüche aufeinander gehetzt werden. Regisseur Milan Peschel bietet genügend Gelegenheiten zu intensivem und körperlichen Spiel, das Ensemble – immerhin 13 Schauspielerinnen und Schauspieler auf dieser relativ kleinen Bühne – nimmt diese Angebote dankbar an. Der Text wird laut gesprochen, manchmal auch gebrüllt, es wird exzessiv geprügelt und gesoffen. Die artistische Meisterleistung des Abend besteht aus dem Leeren von zwei Ein-Liter-Humpen – auf ex. Und ja, am Ende zieht sich auch einer aus. Milan Peschel – seine Frau Magdalena Musial machte die Ausstattung – liefert bei seiner ersten Regie in Schwerin ein respektloses Stück Theater. Respektlos gegenüber den großen Fragen, die man damals auf der Bühne verhandelte. 

UMSIEDLERIN3 560 SilkeWinkler uAckern auf der Scholle: Marko Dyrlich (Flint) und Janis Kuhnt (Fondrak) © Silke Winkl

Ganz ehrlich. Ich kann niemandem empfehlen, sich "Die Umsiedlerin" anzusehen. Das Stück hat mich an keiner Stelle ergriffen, als Mensch nicht und auch nicht als Journalist. Ja, um mich herum haben die Leute geklatscht und gelacht. Ich auch, gelegentlich. Aber ich bin ratlos. Ich hab das Gefühl, dass es den Theatermachern hier nichtneverniemals darauf ankam, etwas zu transportieren. Ich meine: Irgendetwas. Spaß oder Lust oder Tragik oder Gedanken. Nix. 

Gut: Milan Peschel inszeniert im Landeshauptdorf Schwerin! Das ist toll! Den kennen alle aus dem "Tatortreiniger", der Oskar-Reihe und aus "Halt auf freier Strecke". Dem gönn' ich jeden Spaß der Welt! Mit seinen Theaterleuten. Ist vielleicht auch unmodern geworden, seiner Arbeit irgendwelche Relevanz zuzumessen, sich irgendwelches Sendungsbewusstsein zu bewahren. Den Trend kenn ich ja auch aus dem Journalismus.

Und – uff: Ja, es war ganz hübsch. Und natürlich darf man das Publikum irritieren. Aber wenn man dann noch 'ne Premierenkarte bezahlen müsste?

 

Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande 
von Heiner Müller 
Regie: Milan Peschel, Ausstattung: Magdalena Musial, Musik: Neil Young, Dramaturgie: Jennifer Bischoff, Andrea Koschwitz.
Mit: Frank Wiegard, Julia Keiling, Katrin Heinrich, Robert Höller, Marko Dyrlich, Flavius Hölzemann, Martin Neuhaus, Vincent Heppner, Ana Yoffe, Janis Kuhnt, Stella Hinrichs, Johannes Hegemann, Tom Scherer.
Premiere am 8. Februar 2020 
Dauer 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.mecklenburgisches-staatstheater.de

 

Kritikenrundschau

"Peschel zeigt mit seiner Inszenierung, dass er ein Ensemble führen und Bilder bauen kann", schreibt Gabriele Struck in der Ostsee-Zeitung (10. 2. 2020). Die Zuschauer erleben aus ihrer Sicht "ein großes und hochkonzentriertes und wandelfähiges Ensemble, dem Peschel einiges abverlange. "Schöne Utopie, aus der ja bekanntlich nichts wurde," so die Kritikerin über das Thema des Abends: die Umverteilung von Junkerland in Bauernhand. "Nur wütend sind die Bauern über vorgegebene Zwänge bis heute."

Kann und soll man dieses Stück heute noch spielen? schreibt Manfred Zelt in der Schweriner Volkszeitung (10. 2. 2020) und befindet angesichts dieser dramaturgisch konzentrierten Inszenierung: "Ja!" Denn in die Gegenwart von Konflikten mit industrieller Landwirtschaft passt die "Rückschau auf ein historisches Woher" aus seiner Sicht durchaus. Peschels Inszenierung belege die Aktualität des Dramas in der Art des Radikal-Dramatikers Heiner Müller und treibe das Streitpotenzial "hart geschnitten und rythmisch, oft zu explodierenden Situationen". Peschel schaffe symbolische Bilder, lese "Die Umsiedlerin" als Stück "aus wilder Zeit". Das "expressionistische Spiel" des Ensemble erreiche im Rollenwechsel eine hohe Temperatur. 

 

 

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