Die Geschichte, die niemals zu Ende erzählt ist

von Deborah Vietor-Engländer

London, im Februar 2020. Sir Tom Stoppard, einer der berühmtesten und begabtesten englischen Dramatiker hat mit 82 Jahren beschlossen, zu seinen Wurzeln zurückzukehren. Er hat bisher in seinen Stücken jüdische Themen nicht behandelt. Der als Tomáš Straussler 1937 in Zlin / Tschechoslowakei Geborene entkam als Zweijähriger mit seinen Eltern nach Singapur. Als die Japaner kamen, floh die Familie weiter nach Indien. Sein Vater, der Arzt war, starb dort. Seine Mutter heiratete wieder und Tom Stoppard wuchs mit dem Namen seines Stiefvaters als englisches Kind auf. Erst in den 1990er Jahren erfuhr er, dass die Geschwister seiner Mutter und seine vier Großeltern in Konzentrationslagern starben und das Ergebnis ist nun dieses Stück, soeben gedruckt und in London in der einfühlsamen Regie von Patrick Marber (selbst Dramatiker) uraufgeführt.

Verlorene Menschen

Marbers Inszenierung zeigt uns Familienszenen in verschiedenen Stadien der geschichtlichen Entwicklung, er lässt dafür zahlreiche Schauspielerinnen und Schauspieler auftreten und mehr als ein Dutzend Kinder. Er erzielt damit eine starke Wirkung, da er auf diesem Weg auch den immensen Verlust sichtbar macht. In einem Interview hat er berichtet, dass es ihm genau so erging wie Stoppard: Auch er erfuhr erst sehr spät, dass der Großteil seiner Angehörigen in der Shoah ermordet wurde. Stoppards Sohn Ed, selbst ein bekannter Schauspieler, sagt, dass er erst jetzt sein jüdisches Erbe erkannt hat, in seiner Rolle als Ludwig im Stück seines Vaters.

Leopoldstadt 1 560 Marc BrennerWeihnachten bei der Familie Merz in Wien  © Marc Brenner

"Leopoldstadt" ist ein Muss für London-Besucher. Tom Stoppard hat das Stück nach Österreich verlegt, um es von den eigenen biografischen Bezügen etwas abzurücken. Der von einer armen jüdischen Bevölkerung geprägte Wiener Stadtteil Leopoldstadt steht für die Anfänge der Familie von Hermann Merz, die er ins Zentrum seines Dramas stellt. Stoppard beschreibt darin die Jahre österreichisch-jüdischer Geschichte als Herausforderung: den "Aufstieg" der Juden in Wien, nachdem sie von Kaiser Franz Josef 1867 die Bürgerrechte erhalten hatten. Anhand der Geschichte einer einzelnen Familie untersucht er die gesellschaftliche Lage der Wiener Juden und ermisst ihren kulturellen Beitrag, der beim "Anschluss" an Nazideutschland im März 1938 so abrupt abriss.

Der Aufstieg

Da ist der (getaufte) Hermann Merz, dessen Großvater noch im Kaftan mit dem gelben Fleck in Leopoldstadt herumlaufen, die Mütze vor jedem Österreicher abnehmen, jedem Österreicher auf dem Bürgersteig Platz machen musste. Merz’ Vater ging dann schon im Zylinder in die Oper und empfing persönlich die Sänger zum Dinner, unterstrich stets stolz den Beitrag der Juden zur Wiener Kultur, angefangen mit Schnitzler und Mahler (mit etwas Häme über Mahlers Taufe) und wie sehr man doch das kulturelle Leben Wiens stütze. Von den "ostjüdischen" Großeltern in Galizien will diese assimilierte Familie nicht mehr viel wissen.

Leopoldstadt 2 560 Marc Brenner uDer Beginn des mörderischen 20. Jahrhunderts in der Bürgerwohnung in Wien. Im Hintergrund der Bühne von Richard Hudson ein Bild von Gustav Klimt, das dann "arisiert", also geraubt wird.  © Marc Brenner

Das Stück beginnt mit einer Weihnachtsfeier und einem Davidsstern, der am erst am Weihnachtsbaum befestigt und dann wieder entfernt wird: sofort wird die gespaltene Identität der assimilierten Familie deutlich. Auch die Mischung jüdischer und christlicher Bräuche – ein Junge erlebt die Brit Millah (Beschneidung) und in der gleichen Woche die christliche Taufe – spiegelt die Verwirrung ihrer Identität. Oder die Seder-Zeremonie zu Beginn des Pessach-Fests – in der Nacht, die den Auszug der Juden aus der ägyptischen Sklaverei in die Freiheit feiert –, in Wien erklingt auf der Straße dazu der Radetzkymarsch, von einer Militärkapelle gespielt. Gleichzeitig wächst bei den Angehörigen der Familie Merz die langsame Erkenntnis, dass sie selbst als christlich Getaufte in Österreich immer Juden bleiben werden – nicht satisfaktionsfähig im Duell, weil ohne Ehre.

Eine jüdische Heimstatt?

Die Alternative jener Jahre, 1902 von Theodor Herzl in seinem Buch Altneuland entworfen, ein eigenes Land für Juden in Palästina, wird in der Leopoldstadt abgelehnt, weil die Wiener Juden sich ein Leben in der Wüste nicht vorstellen können. Auch die Balfour Declaration Großbritanniens vom 2. November 1917 mit der Möglichkeit eines "national home for the Jewish people" in Palästina stößt in Stoppards Stück auf Skepsis bei der Wiener Familie Merz. Sie ist berechtigt, denn, auch dies zeigt das Stück, die Briten lassen keine Juden ins Land, nachdem sie nach dem Ende des 1. Weltkriges das Völkerbundsmandat über Palästina übernommen haben. Das gesamte Stück ist geschichtsträchtig und voller Anspielungen, die von den Schauspielern packend ausgespielt werden. Die Konferenz von Evian, die Pogrome vom 9. und 10. November 1938 und schließlich der Raub des jüdischen Besitzes und die Flucht.

Leopold 560 3 Marc Brenner uDie Juden in Wien vor der Shoah: Bürgerlicher Aufstieg ja, aber keine Anerkennung als vollwertiges Mitglied der sich schlagenden Gesellschaft  © Marc Brenner

Für Stoppard war es eine große Herausforderung, in seinem Text seinen Figuren die Sensibilität, die Rhythmen und die Sprache europäischer Juden zu geben, denn bisher war dies nicht seine Welt. Im Interview mit der Times sagte er, dieses Stück habe ihn viele Tränen gekostet.

Erinnerung an die Ermordeten

Nun gab es viele Tränen im Publikum. Im letzten Akt kehrt der junge Leo Merz als der junge Engländer Leonard Chamberlain zurück. Nun erfährt er, was mit seiner Familie geschehen ist – so, wie es eben auch Tom Stoppard selbst in den 90er Jahren erfuhr, als eine Überlebende aus seiner Familie ihm erstmals Stammbaum und Schicksal einer Angehörigen erklärte. Dies ist die erschütterndste Szene am Schluss: als die Liste mit den Schicksalen der Mitglieder der Familie Merz vorgelesen wird. Es war zu spüren, dass viele im Publikum in diesem Londoner Theater hier nun an die Listen ihrer eigenen Familien dachten: Selbstmord, Tod auf dem Transport, Todesmarsch, Dachau, Auschwitz, Auschwitz und immer wieder Auschwitz. Vorhang.

 

Leopoldstadt
von Tom Stoppard
Regie: Patrick Marber, Bühne: Richard Hudson, Kostüme: Brigitte Reiffenstuel, Licht: Neil Austin, Musik und Ton: Adam Cork, Bewegungstraining: EJ Boyle. Casting: Amy Ball CDG, Kinder-Casting: Verity Naughton, Produktion: Sonia Friedman Productions.
Mit: Sebastian Armesto, Jenna Augen, Rhys Bailey, Faye Castelow, Joe Coen, Felicity Davidson, Mark Edel-Hunt, Clara Francis, Ilan Galkoff, Caroline Gruber, Sam Hoare, Natalie Law, Avye Leventis Noof McEwan, Dorothea Myer-Bennett, Jake Neads, Aaron Neil, Alexander Newland, Yasmin Paige, Adrian Scarborough, Sadie Shimmin, Griffin Stevens, Ed Stoppard, Luke Thallon, Eleanor Wyld, Alexis Zegerman.
Und den Kindern: Jarlan Bogolubov, Toby Cohen, Zachary Cohen, Olivia Festinger, Tamar Laniado, Maya Larholm, Daniel Lawson, Louis Levy, Libby Lewis, Jack Meredith, Chloe Raphael, Beatrice Rapstone, Ramsay Robertson, Montague Rapstone, Joshua Schneider.
Wyndham’s Theatre London bis zum 13. Juni 2020

leopoldstadtplay.com

 

Vietor Englaender 140 privatDeborah Vietor-Engländer, in London geboren und aufgewachsen. Promotion bei Walter Jens in Tübingen über "Faust" in der DDR. Viele Veröffentlichungen in der Exilforschung. Lehrtätigkeit an den Universitäten Saarbrücken und Darmstadt. Herausgeberin einiger Werkbände von Alfred Kerr und Hermann Sinsheimer. "Alfred Kerr. Die Biographie" 2016 bei Rowohlt. Präsidentin der Alfred-Kerr-Stiftung. 

vietor-englaender.co.uk



Kritikenrundschau

"Anders als sonst bei diesem Meister des komödiantischen Ernstes" gebe es diesmal "nicht allzu viel zu lachen", berichtet Gina Thomas für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (13.2.2020). "Stoppards epische, verwirrende, mitunter von schitzlerischem Lebensgefühl durchwehte Erzählung" beziehe ihre Wirkung "nicht zuletzt aus der Voraussetzung, dass das Publikum weiß, welche Abgründe sich auftun werden, während die Protagonisten an Weihnachten 1899 noch voll der großen Hoffnungen dem neuen Jahrhundert entgegenblicken". Stoppards Text sei panoramatisch breit und anspielungsrreich, und der "stop­pard­sche Witz be­wahrt vor Sen­ti­men­ta­li­tät, glei­tet je­doch lei­der zu oft ins Plum­pe ab."

Leopoldstadt könnte Stoppards letztes Werk sein. "Es ist gewiss sein persönlichstes", schreibt Sebastian Borger in Der Standard (15.2.2020). "Lang liegt die Bühne im Halbdunkel, als wollte Regisseur Patrick Marber die Figuren gnädig im Unklaren lassen über ihr Schicksal, von dem das Publikum längst weiß. Oder symbolisiert der Mangel an Licht unser aller Ungewissheit?"

 Auf der Webseite des New York Review of Books schreibt Kate Maltby: "For Stoppard the elder, this play is a personal 'coming-out'. For many mid-century Jewish refugees, the cost of becoming British – and, if you really tried, English – meant not just changing your name but swelling the ranks of the local Anglican church (…) Stoppard touches intelligently in Leopoldstadt on English anti-Semitism as a subset of English 'snobbery' (…) This is a play about what it means to be English, what it means to be Jewish, and what it means to bury the latter identity in the hope of outrunning the next European genocide. For those of us who are the offspring of similar twists of family fate, Anglo-washed by the surnames of Gentile fathers or stepfathers, these habits of suppression, easy as breathing, are resonantly familiar – seeing them staged is a punch to the gut."

Hier außerdem die Kritik aus The Guardian von Arifa Akbar.

In der Süddeutschen Zeitung (online 25.2.2020, 18:47 Uhr) schreibt Cathrin Kahlweit:  Wenn sich nach der Vorstellung die Zuschauer "beklommen ansehen", frage sich "vermutlich mancher": "Wie naiv … ist meine Gewissheit, gesellschaftlich akzeptiert, sicher und behütet leben zu dürfen?" Da doch alle, die jhier herkämen, von der Geschichte wüssten, fragt Kahlweit, warum setze dann, "wenn auf der Bühne die letzten drei Worte - 'Auschwitz, Auschwitz, Auschwitz' - verhallt sind, dieses Erschrecken ein"? "Leopoldstadt" in der Regie von Patrick Marber sei "bei weitem Stoppards konventionellste Arbeit", das Stück "bisweilen überfrachtet" und "belehrend" und doch "fesselnd, atemberaubend und manchmal sehr komisch". Stoppard schreibe, "als ahne er, wie wenig die Zuschauer noch wissen über diese untergegangene Welt". Stoppard habe "Leopoldstadt" "mindestens ebenso sehr für sich selbst wie für seine Zuschauer geschrieben. Und für beide Seiten ist es ein lebensnotwendiges Werk."

"Es ist ein intimes Drama, das einen epischen Bogen schlägt – mit einer letzten grossen Dringlichkeit. Man spürt, dass hier etwas unbedingt noch gesagt werden musste", schreibt Marion Löhndorf in der Neuen Zürcher Zeitung (12.3.2020). "Es ist ein monumentales und sehr altmodisches Stück und eine Tragödie, die nicht ohne komische Momente auskommt." Löhndorf lobt auch "die atmosphärisch dichte, fast feierliche Inszenierung" von Patrick Marber. "Die Choreografie des mit mehr als dreissig Schauspielern besetzten, vielfigurigen Dramas ist ein Meisterwerk."