Der Windmühlenkämpfer

von Thomas Rothschild

27. Februar 2020. Gattungen haben ihre Gesetze. Alfred Kirchner verstößt gleich gegen zwei, deren Einhaltung das Attribut des Untertitels "Autobiografische Splitter" zu fordern scheint: Er erzählt in der dritten Person, nicht von einem Ich also, sondern von einem Alfred, und er schert sich nicht um die Chronologie. Jedes Kapitel setzt neu zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt ein, und so versammelt "Der Mann von Pölarölara" eine Reihe von relativ autonomen Geschichten.

Verkleidetes Alter ego

Dieses Buch des Regisseurs und Theatermachers, 1937 geboren, ist nicht die Selbstdarstellung eines Mannes, der sich zu wichtig nimmt. Es ist Literatur im engen Verständnis. Entsprechend vergnüglich liest es sich. Die wenigsten ausübenden Künstler können schreiben (ja, es gibt Ausnahmen, Rolf Boysen, Manfred Krug, Josef Bierbichler, Joachim Meyerhoff), und nicht einmal alle Schriftsteller können es. Hier ist ein Literat zu entdecken. Hier stellt sich ein Alfred Kirchner vor, den wir nicht kannten.

Es beginnt mit einem Bombenangriff auf Süddeutschland, Alfred ist sieben Jahre alt. Dann, zwischen dem ersten und dem zweiten "Splitter", vergehen 45 Jahre und Alfred hat an der Wiener Staatsoper "Chowanschtschina" inszeniert. Aber in die Zeit der Kindheit, der Schulzeit und der Jugend kehrt er später immer wieder zurück.

Abholzung des Kirschgartens

Der historische Hintergrund, die "große Politik", schleicht sich eher beiläufig ein, als Teil der privaten Erfahrungen, ohne die Besserwisserei aus dem Nachhinein. Sogar die abgeholzten Bäume im Stuttgarter Schlossgarten kommen vor. Freilich, denn es handelt sich um das Buch eines Theatermanns, mit einem Verweis auf Tschechows "Kirschgarten".

Cover AlfredKirchner 280Mittendrin die Sottisen eines milden Spötters: gegen die "Wiener Philharmoniker, die phänomenal spielen konnten, wenn sie wollten", oder über "Graf Johann Nikolaus de la Fontaine und d‘Harnoncourt-Unverzagt", mit dem er sich nicht über das Tempo der Auftrittsarie von Donna Elvira einigen konnte. Ganz korrekt übrigens schriebe sich der Dirigent mit den vielen Namen "Nicolaus“, wie Johann Kresnik nicht Kressnik heißt, aber solche kleine Schnitzer in den Splittern sind verzeihlich. Nobody is perfect.

Natürlich enthält das Buch die erwartbaren Theateranekdoten – etwa über Kirchners gerühmte "Mutter Courage" in Bochum, über "Frühlings Erwachen" 1974 in Stuttgart, über seine Inszenierung von Bernd Alois Zimmermanns "Soldaten" an der Frankfurter Oper, über Hans Werner Henzes "Wir erreichen den Fluss" im fernen Santa Fe oder über Kurt Hübner, der bei einer Probe zu "Romeo und Julia" dazwischenruft: "Hallwachs, was du da spielst, ist doch lackierte Kinderkacke" –, und natürlich lässt er unterwegs schmeichelhafte Beiwörter für Schauspielerinnen und Schauspieler fallen, die an seinen Erfolgen beteiligt waren.

Wegbegleiter großer Namen

Manche Weggefährtinnen und Weggefährten haben nur einen Vornamen. Alfred ist diskret, wenn er etwa "die schönste und klügste Dramaturgin der Welt" erwähnt (Insider wissen eh, wer gemeint ist). Wie ein Essay über die Diskrepanz zwischen Biographie und Rolle, über die Verwirrungen, in die Theater und in der Folge die Politik geraten können, liest sich dagegen das Kapitel über Thomas Bernhards "Heldenplatz", den "Freund Peymann" mit Wolfgang Gasser statt mit dem trotzigen Hans-Michael Rehberg inszeniert hatte.

Die literarische Verkleidung, der lebendige, jargonhafte Elemente nicht scheuende Sprachstil machen auch erträglich, was gemeinhin in Autobiografien nervt: das gelegentliche Selbstlob, die mangelnde Bereitschaft, sein Licht unter den Scheffel zu stellen. Die Rede ist ja nicht vom Autor, sondern von Alfred, und die objektiviert, was in der Ich-Form peinlich wäre. Der Beifall, der "unglaublich frenetisch“ war und über eine Stunde anhielt, gewinnt halt einen anderen Stellenwert, wenn der, dem er gilt, elliptisch umgangen wird. Selten, zum Glück sehr selten, gibt Kirchner einer Kränkung nach, etwa wenn er zu seinem "Faust", der "nicht so gut" angekommen, "von manchen als Flop gesehen" worden sei, ergänzt: "Peter Stein sah das anders." Mittlerweile hat der Kronzeuge selbst Wertungen einstecken müssen, die nicht nur er als ungerecht empfindet.

Es gibt Ranglisten, die die Bedeutung von Wissenschaftlern an der Häufigkeit, mit der sie zitiert werden, bemessen. Das ist selbstverständlich Unsinn. Auf den Bereich des Theaters übertragen, darf man wohl behaupten, dass Alfred Kirchners Name seltener genannt wird als der mancher anderer Regisseure aus seiner engeren Umgebung. Man muss jedoch schon ziemlich naiv sein, um anzunehmen, dass es zwischen Talent und Prominenz einen ursächlichen, gar einen zwingenden Zusammenhang gebe. Die Bekanntheit oder, in den heute geltenden Kategorien gedacht, der Marktwert eines Künstlers hängt zumindest ebenso sehr wie von seinen schöpferischen Fähigkeiten von seiner Begabung zur Selbstdarstellung, im besten Fall von seinem Charisma, im schlechtesten vom erzeugten oder provozierten Radau ab. Wenn tatsächlich künstlerisches Genie und Selbstanpreisung zur Deckung gelangen, dann ist das ein Glücksfall, keine Gesetzmäßigkeit.

Bemerkenswerte Perspektive

Der unmittelbare Nachfolger von Peter Palitzsch am Staatstheater Stuttgart war nicht, wie vielfach angenommen, Claus Peymann, sondern Alfred Kirchner. Der "Spiegel" höhnte nach nur einer Spielzeit: "Sind die mageren Monate des Stuttgarter Staatsschauspiels bald vorbei? Nachdem die Lokalpresse schon der vergangenen Saison bestenfalls 'durchschnittliche Stadttheater-Qualität' zubilligen mochte, seit Beginn der laufenden Spielzeit jedoch nur noch 'rapiden Verfall‘ konstatiert, leidet Oberspielleiter Alfred Kirchner 'unter Psycho-Terror'."

Dass Kirchner zu den eher Stillen der Branche gehört, sagt nichts über seinen Stellenwert in der deutschen Theaterlandschaft aus. Seine "Heilige Johanna der Schlachthöfe" beispielsweise hat ohne Zweifel ihren Beitrag geleistet zur überwältigenden Bilanz von Peymanns Bochumer Intendanz. Mit den "autobiografischen Splittern" fügt der "Mann von Pölarölara", dessen Titel sich einer imaginären Figur verdankt, vom vierjährigen Alfred erfunden, um sich seiner Schwester gegenüber zu behaupten – "nicht Alfreds Doppelgänger, aber doch ein Windmühlenkämpfer für ihn", wie es einmal im Buch heißt –, dem Bild von Kirchner eine bemerkenswerten Perspektive hinzu.

 

Der Mann von Pölarölara
Autobiografische Splitter
von Alfred Kirchner
Hollitzer Verlag Wien 2019, 263 Seiten

 

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