Lesbos, weitergedacht

von Max Florian Kühlem

Düsseldorf, 13. Februar 2020. In Sabrina Rox‘ Bühnenbild stehen Sandstrand und Himmel nicht für Weite, Öffnung und Freiheit, sondern für Enge und Abgeschlossenheit. Der Himmel ist eine breite Holzwand und läuft spitz auf den Sandboden zu. Dazwischen ist gerade so viel Platz, dass die Figuren der Uraufführung von Thomas Freyers neuem Stück "letztes Licht. Territorium" im Kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspielhauses gebückt stehen können. Sie werden erdrückt von ihrer verdrängten Vergangenheit wie das Stück von seiner Symbollast.

Alles schreit hier: "Dystopie!"

Das Territorium befindet sich an einem vergessenen, fast verlassenen Ort: Einem Strand mit einer Anhöhe, umschlossen von einer Mauer, die nachts manchmal zu wachsen scheint. Es ist ein Ort "wie abgestellt. Irgendwo in ein altes Regal. Ganz nach hinten. Wo man's vergessen kann." So lässt Thomas Freyer es Ander erklären, einen der beiden jungen Menschen, die hier mit zwei älteren leben.

letzteslicht territorium3 560 sandra then uErdrückend: Die Bühne von Sabrina Rox © Sandra Then
Sie sprechen in einer Tour diese abgehackte Kunstsprache mit krachenden Auslassungen und Einwortsätzen, geraten dabei in Sinnschleifen, kommen nicht vom Fleck wie die sengende Sonne am Himmel. Sie tragen bunte, wie aus Zivilisationsresten zusammengewürfelte Kostüme (Katja Strohschneider) und Gesichtsmasken, die wie Ausschlag, verbrannte Hautfetzen oder Schmutzpatina aussehen. Alles schreit hier: "Dystopie!" Und genau das liefert das Stück ja: unsere Gegenwart unter negativen Vorzeichen weitergedacht.

Kommentar zur Flüchtlingspolitik

Was, wenn man die berüchtigten Erstaufnahmelager für geflüchtete Menschen wie auf der griechischen Insel Lesbos einfach sich selbst überlassen würde – ohne jede humanitäre Hilfe? Thomas Freyer, dessen neues Werk wie schon der Vorgänger kein Land. August (2017 in Dresden) von Jan Gehler inszeniert wurde, hat als Antwort ein Massaker fantasiert. Begangen von den allein gelassenen, überforderten Einwohnern der Insel an den Fremden im Lager.

Ein Problem von "letztes Licht. Territorium" ist, dass die Zuschauer sehr schnell verstehen, an was für einem Ort sie sich befinden und was hier passiert sein muss. Stücktext und Inszenierung enthüllen die Ereignisse, die in der tiefen Vergangenheit der älteren Figuren liegen, allerdings erst nach und nach wie ein Puzzle sein Bild. Die möglicherweise erhoffte Spannung kommt dabei nicht auf. Als auf der Bühne plötzlich auch noch ein Mord geschieht offenbart das nur Hilflosigkeit einer Dramaturgie, die wenig Zuspitzung oder Verdichtung schafft, auf keinen Höhepunkt zuläuft.

letzteslicht territorium4 560 sandra then uAm Strand: Cathleen Baumann, Thomas Kitsche © Sandra Then

Die Figuren wollen nicht recht lebendig werden, weil sie vor allem als Kommentar zur europäischen Flüchtlingspolitik der Abschottung gedacht sind. Außerdem spielt Thomas Freyer mit ihnen die Erkenntnis aus der Psychologie durch, dass sich schwere Traumata über mehrere Generationen vererben können – vor allem, wenn sie verdrängt oder verschwiegen werden. So sind die verhärmten Dorfälteren Zauda (Cathleen Baumann) und Magel (Thomas Kitsche) scheinbar dement oder weisen zumindest große Erinnerungslücken auf.

Logo auf der Brust

Aus Zaudas Tochter Byosch, die Madeline Gabel hinter einem Körperpanzer verhärtet agieren lässt, hingegen brechen plötzlich Erinnerungen hervor, die eigentlich ihrer Mutter gehören, weil sie vor ihrer Geburt liegen. Ihr längerer Monolog, in dem sie die Lager beschreibt, die Männer in Uniform ("Haben ein Logo auf der Brust. Irgendeine Firma. Irgendwas. Blaues.2), Rufe, Heulen und Geschrei, will sich ebenso wenig organisch in den Text einfügen wie einige chorische Passagen.

Die Inselbewohner graben im Sand, weil sie fliehen oder tote Vögel vergraben wollen, aber fördern nur ihre verborgene Schuld zutage. Anstoß dazu gibt ihnen eine unbekannte Fremde mit unklaren Zielen: Anna-Sophie Friedmann ist diese Suu, die erst unbefangen, später mehr und mehr verstört wirkt, und die eine doppelte Fremde ist, weil sie offenbar aus "dem Süden" kommt, deren Menschen auf "dem Kontinent" eigentlich nicht willkommen sind. Mit ihr kommen auch noch die Themen Othering, Kapitalinteressen und Soziale Aufstiegsphantasien unter die sengende Sonne der Klimakrise und der Fluchtrouten im Mittelmeer-Raum – und so viel Politik kann vielleicht nur eine Elfriede Jelinek kunstvoll in ihr ewiges Garn spinnen.

 

letztes Licht. Territorium
von Thomas Freyer
Uraufführung
Regie: Jan Gehler, Bühne: Sabrina Rox, Kostüme: Katja Strohschneider, Musik: Vredeber Albrecht, Licht: Konstantin Sonneson, Dramaturgie: Felicitas Zürcher.
Mit: Cathleen Baumann, Thomas Kitsche, Alexej Lochmann, Madeline Gabel, Anna-Sophie Friedmann.
Premiere am 13. Februar 2020
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.dhaus.de

 

Kritikenrundschau

"Letztes Licht.Territorium" stoße szenenweise in die existenziellen Gefilde des Absurden Theaters vor. Aber das Stück streife "bis hin zu Buchenwald so viele Themen (…), dass es überfrachtet wirkt", schreibt ein*e ungenannte*r Rezensent*in in der Rheinischen Post (15.2.2020). "Die Schauspielerinnen und Schauspieler allerdings machen daraus das Allerbeste."

"Der Autor überfrachtet das Stück mit Themen: die zivilisatorischen Krisen und zwischenmenschlichen Auswüchse in Erstaufnahmelagern auf der griechischen Insel Lesbos, Klima-Erwärmung und dann auch noch die Investment-Haie, die eines Tages auf dem verwüsteten 'Territorium' Immobilien errichten wollen. Die Verdichtung auf einen Schwerpunkt hätte eine wesentlich größere Wirkung auf das Publikum", meint auch Michael-Georg Müller von der Westdeutschen Zeitung (15.2.2020).

 

 

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