Jetzt und in der Stunde unseres Todes

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 15. Februar 2020. Selbst ist die Frau: Vidina Popov greift zum Fake-Bauch und schnallt ihn sich um. Licht aus, Licht an, und sie ist die schwangere Maria. Mit der aus der Bibel hat sie in dem Stück von Simon Stephens nicht viel gemeinsam. Beide sind zwar wahrscheinlich ungefähr gleich alt (18), beide kriegen Kinder, von denen nicht ganz klar ist, wer der Vater ist. Aber weder ist Stephens' Maria noch Jungfrau ("Äh – nein?") noch ist sie eine stille Zuhörerin, die die Worte der Männer "in ihrem Herzen bewegt" (Bibel) – ganz im Gegenteil quatscht sie unbeirrbar alle an die Wand, die in ihr Leben treten, denn sie hat es satt, "dass mir Männer dazwischenreden und mir erzählen, was ich wahrscheinlich sagen werde" (Stephens).

Einsame Niederkunft

Ihr Leben IST eine Wand in Nurkan Erpulats Inszenierung am Maxim Gorki Theater. Zumindest im ersten der drei Teile, in die Erpulat das Stück visuell ein bisschen holzhammermäßig aufteilt. Vor einer grauen Wand läuft Maria auf der ansonsten leeren Bühne unermüdlich die Stationen ihres Alltags ab. Der Chef (Till Wonka) putzt sie runter und tut sich anschließend selbst leid. Der Arzt (auch Till Wonka) beruhigt sie halbherzig, als sie sagt, dass sie Angst vor der Schmerzen bei der Geburt habe. Die Großmutter (Cigdem Teke) zögert einen Moment nach der Frage, ob sie mitkommen würde ins Krankenhaus für die Geburt, und sagt dann: "Nein." Maria entgleisen kurz die Gesichtszüge, aber sie fängt sich schnell: "Ok?"

Maria 560 ute langkafel maifoto uGestrandet in einer Küstenstadt: Elena Schmidt, Vidina Popov © Ute Langkafel Maifoto

Weiter geht's zum Vater, den sie auf eine Zigarettenpause vor dem Supermarkt abfängt, wo er arbeitet. Auch er kann nicht oder will nicht. Marias Mutter ist bei einem Unfall ums Leben gekommen. Seitdem ist Marias Bruder verschwunden. So much for the family. Eine Freundin (Ibadet Ramadani Gallop) ist "superneidisch" auf das Baby in Marias Bauch, aber ins Krankenhaus begleiten möchte sie sie auch nicht, denn es könnte ja sein, dass ihr Freund etwas dagegen hätte.

Schwierige Geburt

Es ist ein Wunder, dass diese geballte Tristesse es nicht schafft, Maria die Hoffnung aus dem Gesicht zu radieren. Ihre Welt kreist um sie, auch wenn es eine Scheißwelt ist. Vidina Popov gibt Maria eine anrührende Gestalt, und so sehr man ihr glaubt, dass sie sich nicht kaputtmachen lässt, so sehr tut's trotzdem weh, wenn immer wieder deutlich wird, dass ihr Schicksal (fast) niemanden kümmert. Als ein Hafenarbeiter schüchtern versucht sich Maria anzunähern und sie ihm nett aber bestimmt zu verstehen gibt, dass sie alleine klarkommt, wird deutlich: Sie kann es sich gar nicht mehr anders vorstellen. Jede*r stirbt für sich allein, jede*r lebt für sich allein, und Maria gebärt für sich allein.

Im zweiten Teil der Inszenierung ist ihr Kind dann da, aber viel mehr erfährt man nicht als ihren Namen (Elizabeth). Die graue Wand klappt nach vorn und wird zum Boden eines Zimmers, in dem Maria wohnt und arbeitet. Sie chattet gegen Geld mit einsamen Menschen auf der ganzen Welt. Ihre Chartpartner*innen halten sich bei Erpulat mit ihr in ihrem Zimmer auf, und der virtuelle Raum ist viel gemütlicher als der physische. Hier sind Gespräche möglich, die vorher gar nicht vorstellbar waren.

Es ist die Grundidee von Erpulats Inszenierung, ganz aufs Spiel zu vertrauen, ja es zu forcieren, alle stets ein wenig übertreiben zu lassen. Diese Grundidee geht nun, im zweiten Teil, auf im Stück: Denn schließlich fühlt sich auch Maria am wohlsten, wenn sie "Christine" heißt – was nicht bedeutet, dass sie sich eine Fake-Identität zugelegt hätte. Sie spricht weiterhin über sich und ihr Leben, unverfälscht – aber mit Sicherheitsabstand. Und ihre Mitspieler*innen kreisen weiterhin um sie und wechseln die Charaktere, aber nicht ihren Spielstil.

Stimmliches Fundament

So ist Till Wonka sowohl als Chef als auch als Arzt als auch als aggressiver Chatpartner ein atemlos nervöser, lauter potentieller Brutalo. Elena Schmidt ist sanft und von erstaunlicher Offenheit, erst als Hafenarbeiter und später im Chat als ehemaliger Polizist, der sich gern als Frau verkleiden würde, aber sich nicht traut. Ibadet Ramadani Gallop, als Musikerin zu Gast im Schauspiel-Ensemble, singt ihre Partie und hebt Marias Freundin dadurch in eine beinahe solipsistische Isolation. Auch sonst grundiert sie den Abend musikalisch und schmiegt sich mit ihrer klaren Stimme in die Szenen, oft wird gleichzeitig gesungen und gesprochen.

maria2 560 ute langkafel maifoto uIn einer verkehrten Welt: Ibadet Ramadani Gallop, Elena Schmidt, Vidina Popov, Karim Daoud © Ute Langkafel / Maifoto

Die Chatszenen sind bei weitem die besten des Stücks, wie die Gespräche nahtlos ineinander übergehen und nur Maria alleine sie zusammenhält, aber stets genau weiß, mit wem sie spricht. Ansonsten ist Stephens' Stück peinlich drauf bedacht, Sozialkitsch zu vermeiden – dadurch aber auch insgesamt ähnlich abgebrochen wie die Gespräche, die Maria im ersten Teil führt. Die Übersetzung, die versucht den lakonischen Sound des englischen Originals zu imitieren, lässt manche Dialoge klingen wie aus einem schlecht synchronisierten Fernsehfilm.

"Maria" endet mit dem Tod der Großmutter, für den ihr Zimmer noch einmal um 180 Grad gedreht wird, um ein "Alice in Wunderland"-Krankenhaus-Szenario zu ergeben, in dem über Omas Krankenbett die Möbel an der Decke hängen. Dieser Absurditäts-Marker trägt ein bisschen dick auf. Sonst macht die Inszenierung aber mit ihrer Zurückhaltung wohl das meiste aus dem Text – und zeigt halt auch seine Grenzen auf. Maria behält ihre Würde, aber auf sehr engem Raum.

 

Maria
von Simon Stephens
Deutsch von Barbara Christ
Regie: Nurkan Erpulat, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Lea Søvsø, Musik: Michael Haves, Dramaturgie: Rebecca Ajnwojner, Licht: Gregor Roth, Ton: Daniel Körner.
Mit: Karim Daoud, Ibadet Ramadani Gallop, Vidina Popov, Elena Schmidt, Cigdem Teke, Till Wonka.
Premiere am 15. Februar 2020.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

 

Mehr zu: "Maria" wurde letztes Jahr von Sebastian Nübling am Thalia Theater Hamburg uraufgeführt.

 

Kritikenrundschau

"Die Schauspieler arbeiten sich von formal aufgesetzten Spielweisen mit choreografischen Elementen, Klischeeticks und Verfremdungseffekten immer weiter ins Realistische vor. So als würden sie die Schalen der Ironie ablegen und sich als Figuren einander immer weiter öffnen", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (17.2.2020). "Wird das Publikum am Anfang ziemlich vor den Kopf gestoßen, sieht es im Laufe des Abends Pathos und Melodram Funken schlagen."

Das Problem des Abends im Maxim Gorki Theater sei eines des Textes, nicht der Inszenierung, schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (17.2.2020): "Stephens’ Stück mäandert halt so vor sich hin." Wahl lobt schöne Inszenierungsideen, "aber am Hang zu Klischees und Stereotypen im Text ändert sich leider nichts."

Ein "poetisches, berührendes und tiefgründiges Theater-Erlebnis" hatte André Mumot und sagt im Deutschlandfunk Kultur "Fazit" (15.2.2020): Das Faszinierende an Stück und auch Inszenierung sei, "dass diese junge Frau immer wieder zeigt, dass sie Stärke hat und dass sie auch stärker ist als viele Menschen in ihrer Umgebung". Das Ensemble des Maxim-Gorki-Theaters sei sehr gut und Vidina Popov in der Hauptrolle "macht das wirklich fabelhaft, weil sie so eine Freude ausstrahlt".

"'Maria' ist sicher nicht der tiefste, klügste Abend, den es im Gorki zu sehen gibt. Aber anderthalb rasante, gut gemachte Stunden voller Melancholie und Spielfreude muss man auch erst einmal hinbekommen", schreibt Fabian Wallmeier auf rbb online (17.2.2020). Stephens' Darstellung der virtuellen Realität als der vermeintlich besseren, in die sich alle Wünsche projizieren lassen, von der aber letztlich nichts zurück kommt, sei "schon sehr holzschnittartig gezeichnet." Auch die soziale Not des Prekariats sei schon präziser gezeichnet worden. Aber Nurkan Erpulat lasse sein Ensemble so schnell über den Text hinwegfegen, dass auch die schwächeren Passagen funktionieren. Und "Vidina Popov spielt Ria in all ihren widersprüchlichen Facetten mit Leib und Seele. Sie hat die aufgeregte Dampfplauderei ebenso drauf wie die tiefe Verunsicherung."

"Alle Figuren scheinen zutiefst erschöpft von den Verhältnissen", schreibt Michael Wolf im Neuen Deutschland (21.2.2020). "Es ist kein politisches Stück, dafür fehlt den Figuren jede Fantasie für eine alternative Ordnung." Erpulat verstärke die Grund-Stimmung "zu Anfang recht einfallslos. (…) Dann beruhigt sich die Inszenierung." Vidina Popov gebe Maria "mit großer Sympathie für die Nöte ihrer Figur".

"Es ist kein großartiger Abend geworden. Phasenweise wirkt es wie eine Pflichtinszenierung," schreibt Tom Mustroph in der taz (22.2.2020) Wenn es Stephens in seinem Stück darauf angekommen sei, "die sozialen und emotionalen Interaktionen der Onlinewelt herauszustellen und die Chat-Kommunikation für das sonst eher digital-kritische Theatermilieu zu rehabilitieren", sei das in dieser Inszenierung gelungen. Es ist aus Sicht des Kritikers allerdings der einzige relevante Aspekts des Abends.

 

 

Kommentare  
Maria, Berlin: einige Absätze mehr
"Fehler der Redaktion": Liebe Leser*innen! Uns ist peinlicherweise ein Fehler unterlaufen – einige Absätze von Sophies Kritik wurden übersehen und ihre Arbeit unvollständig online gestellt. Sorry!!! Wir bitten die Leser*innen und vor allem Sophie um Entschuldigung und reichen hiermit die fehlenden Textteile nach. Leider wurde in der veröffentlichten Version die einzige Person of Color auf der Bühne übersehen – unangenehm! Die Redaktion möchte außerdem deutlich machen, dass Trans*-Identitäten keineswegs etwas mit „Verkleiden“ zu tun haben und entschuldigen uns, dass dieser Eindruck entstand:

Karim Daoud webt mit seinem Körper im ersten und zweiten Teil des Stücks ein enges Netz um Maria (großartig: Vidina Popov, die ständig von Till Wonka niedergebrüllt und dennoch nicht von ihm übertönt wird). Tanz und Parkour verschwimmen: Daoud (re-)kreiert mit seinem Körper die Erinnerung an Marias verschwundenen Bruder Christian. Als Christian endlich zu seiner Schwester zurückkehrt, verwischen Körper und Sprache – Christian ist zwar körperlich anwesend und spricht mit Maria, scheint aber dennoch weit weg zu sein. Neben den sich seit Jahrhunderten reproduzierenden, weißen Cis-Männern auf der Bühne – unhinterfragt ihre toxische, heteronormative Männlichkeit auf die Bühne rotzend – springt und dreht sich Daoud und durch den Abend und schafft so einen neuen Reflexionsraum.

Erpulat lässt Elena Schmidt als Gender-Bender einige der männlich-gelesenen Rollen spielen. Sie zeichnet zarte Männer, die sich gegen das brachiale und paternalistische entscheiden. Der ehemalige Polizist (auch Schmidt) wirkt zunächst übergriffig und potentiell bedrohlich. Das sanfte Outing als trans* spielt Schmidt fast melancholisch – sie zieht sich geschlechtsaffirmative Kleidung an und bewegt sich zart-tänzerisch durch den Raum und lässt so das Bild des bedrohlichen, alten Polizisten weit hinter sich zurück.

(Anm. Redaktion: Es handelt sich bei diesem Kommentar NICHT um einen redaktionellen Beitrag von nachtkritik.de, sondern um einen Leser*innenkommentar. In den Weiten der Netzkommunikation zwischen völliger Humorlosigkeit und überbordender Witzboldigkeit ist Ironie mitunter schwer auszumachen. Daher glauben wir, betonen zu müssen, dass keine Absätze des Textes fehlten. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion nachtkritik.de)
Maria, Berlin: Verkleiden
Liebe*r Kommentator*in, danke für die Hinweise – aber das Verkleiden habe ich nicht erfunden, sondern es steckt in Simon Stephens' Text – das hätte ich vielleicht deutlicher kennzeichnen müssen. Hier die Passage, auf die ich mich beziehe:

"ZWEI Manchmal wünschte ich, ich wäre eine Frau. Ich wünschte, ich könnte mich als Frau verkleiden, und wir könnten uns unterhalten, als wäre ich deine Schwester oder so.

RIA Das geht doch, wenn du willst.

ZWEI Ich würde mich zu sehr schämen."
Maria, Berlin: große Probleme
Das sind ganz große Probleme, die in dem Text angesprochen werden. Auch mein Sohn sagt, er könne sich nicht mit seiner Schwester unterhalten, weil Frauen nicht in der Lage sind, sich mit Männern zu unterhalten, die sich mit ihnen mal nur wie mit einer Schwester unterhalten wollen... Nun hat er allerdings auch keinen Bock, sich dafür extra als Frau zu verkleiden, damit er als optionaler augenhöhiger Gesprächspartnerin für die Schwester durchginge - Deshalb redet er nicht nur nicht mehr mit seiner Schwester nicht mehr, sondern gleich gar nicht mehr mit den sisters. - Ich schätze, er würde auch nicht mit einem Autor reden, der solche, den Ruf eines persönlichen Jedermann-Willens schädigende, lebensfremde Figuren erfindet.

Wenn die Figur ein Trans* sein soll, sagt sie nicht wie ZWEI in der Textstelle, die #2 zitiert, sondern:

- Manchmal wünschte ich, ich wäre eine Frau. Wir würden uns unterhalten, als sei ich deine Schwester oder so...
- Wenn du meinst, ich würde dann anders mit dir reden als so...
- Bestimmt - wenn ich mich als Frau verkleide, bestimmt...
- Das geht nicht, ich könnte nicht mit dir reden, als wenn du meine Schwester wärest, wenn du dich verkleidest.
- Wieso?
- Ich würde mich zu sehr schämen.
- Aber das bräuchtest du nicht, ich schäme mich nicht, wenn ich mich als Frau verkleide!
- Nein, aber ich mich. Ich schäme mich, wenn ich mit jemanden nur dann wie mit meiner eigenen Schwester rede, wenn der denkt, dass er sich dafür extra als Frau verkleiden muss-
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