Kommt rein, hier ist was los!

von Falk Schreiber

18. Februar 2020. Die sogenannte "Doppelanlage" der Städtischen Bühnen Frankfurt ist ein städtebaulicher Glücksfall. Mitten im Bankenviertel, am verkehrsumtosten Innenstadtring, stehen zwei raumprägende Gebäude, links das Schauspielhaus, rechts das Opernhaus, 1962 eröffnet, auf den ersten Blick eine einheitliche Immobilie. Tatsächlich aber ist die Doppelanlage kein eigenständiges architektonisches Werk, sondern ein Gebäude-Ensemble aus unterschiedlichen Epochen: Reste des 1902 gebauten Schauspielhauses, das bei einem Luftangriff 1944 schwer beschädigt und ab 1949 für Opernaufführungen notdürftig wieder aufgebaut wurde, führte das Architektenbüro Otto Apel in einem Neubau zusammen und verband beide Häuser mit einem 120 Meter langen Foyer.

Das Prinzip Verführung

Dieses Foyer gibt der Doppelanlage heute ihr Gesicht: eine riesige Glasfront, die auf den unwirtlichen Willy-Brandt-Platz schaut. Nachts leuchtet das Haus in die windzerblasenen Wolkelkratzerschluchten, formuliert eine Einladung: Kommt rein, hier ist was los, hier passiert Kunst!

schauspielhausFFM 280 BirgitHupfeld uDie Glasfassade der Städtischen Bühnen Frankfurt © Birgit Hupfeld Das sollte man nicht gering schätzen: dass eine Stadt wie Frankfurt, die ihr Selbstverständnis unter anderem aus ihrer (finanz-)wirtschaftlichen Potenz zieht, die Bevölkerung mit Kultur zu verführen sucht. Auch wer nichts mit Theater zu schaffen hat, nimmt die Einladung der Städtischen Bühnen wahr, durch die Menschen, die man in den Foyers erkennt, durch die riesige Skulptur "Goldwolken" von Zoltán Kemény, die unter dem Dach des Schauspielfoyers schwebt und so den Kunstcharakter des Gebäudes nach außen trägt.

Die Doppelanlage ist also nicht nur Nutzarchitektur, ein Gebäude, in dem möglichst gut Theater gespielt werden kann (immerhin: Die Schauspielbühne ist mit 24 Metern Portalbreite und 40 Metern Tiefe der größte Sprechtheaterraum der Republik!), sie ist auch ein Anker in einem stark auf Verwertungslogik hin organisierten Stadtraum. Und die freundliche, einladende Anmutung des Gebäudes geht weit über das Theater hinaus: Sie verortet das Theater als Teil des Stadtraums, sie stellt klar, dass das Theater hier dazugehört, auch für Leute, die das Theater nie besuchen.

Sogar Yves Klein im Foyer

Eine ähnliche Funktion wie die Frankfurter Doppelanlage nimmt Werner Ruhnaus Musiktheater im Revier ein, eröffnet 1959 in Gelsenkirchen. Auch dieses Haus besticht durch seine riesige Glasfront, die den Blick ermöglicht auf das Hauptfoyer, welches mit riesigen Schwammreliefs von Yves Klein ausgestattet ist. Auch hier: Durchlässigkeit zwischen Innen und Außen, Verbindung zwischen Bildender Kunst, Theater und Musik. Dass das Musiktheater im Revier vollständig barrierefrei ist, wundert nicht, ist doch alles an dieser Architektur Abbau von Barrieren, im konkreten wie im übertragenen Sinne, in dem die Bevölkerung sich aufgefordert fühlt, den Raum zu betreten und sich mit der hier gepflegten Kunst zu beschäftigen.

TheaterimRevier gelsenkirchen 560 Thomas RobbinDas Musiktheater im Revier Gelsenkirchen: bei der Planung wurden namhafte Künstler eingebunden. Yves Klein, damals noch längst nicht so bekannt, schuf riesige ultramarinblaue Gips- und Schwammreliefs fürs Foyer © Pedro Malinowski

Wobei die Bevölkerung in Gelsenkirchen eine andere ist als im Frankfurter Bankenviertel: 1959 war das Ruhrgebiet noch klar als Arbeiterregion geprägt, und es hatte einen klassenkämpferischen Aspekt, die Schwellen der Hochkultur für die Arbeiterschaft abzubauen.

Künstlich erzeugte Schwellenangst

Aber nicht jedes Theater versteht seine Architektur als Einladung. Oskar Kaufmanns 1914 eröffnete Berliner Volksbühne hat ihren abweisenden, durch eine radikale Moderne geprägten Charakter zu einer Art sprödem Markenzeichen gemacht, ebenso wie das brutalistische Londoner Barbican Centre (Chamberlin, Powell and Bon, 1982), Heimat unter anderem der Royal Shakespeare Company und des London Symphony Orchestra. Das ist selbst ikonographische Architektur, die eine sperrige Ästhetik im Inneren verspricht (und deren Publikum so informiert ist, davon auszugehen, dass dieses Versprechen eingehalten wird).

TheaterBremen1 280 Joerg Landsberg uHier muss man durch: Säulenreihe des Theaters Bremen © Jörg LandsbergEin Selbstläufer ist so etwas freilich nicht: Wer im typisch norddeutschen Schmuddelwetter vor dem klassizistischen Bremer Theater am Goetheplatz steht, vor der dunklen Säulenreihe, die die 1948 entstandene Kopie des 1913er-Ursprungsgebäudes prägt, der fühlt sich nicht eingeladen, der fühlt sich abgeschreckt. (Und erst nachdem er durch einen dunklen Gang das Verwaltungsgebäude durchquert hat, entdeckt er die sympathische Bar im Foyer des Kleinen Hauses.) Sperrig und abweisend ist nicht alles.

Die meisten Theatergebäude im deutschsprachigen Raum sind keine Neubauten, sondern stammen aus der Jahrhundertwende oder sind wie Bremen Kopien von Vorgängerbauten aus dieser Zeit. Und das war eine Zeit, in der Abgrenzung tatsächlich eine relevante Kategorie war: Das aufstrebende Bürgertum grenzte sich einerseits zum Adel ab, andererseits zur Arbeiterschaft, zum Bauerntum sowieso. Und das machte es, indem es sich mit einer Repräsentationsarchitektur umgab, die an barocke Schlösser erinnerte, mit Türmchen und Putten und aufwendigen Gemälden: Theater als Ort, an dem sich das Bildungsbürgertum seiner selbst vergewisserte, wurde zum Verteidigungsbauwerk eines bestimmten Bildungskanons.

Symptomatisch: "Ein Denkmal bürgerlichen Gemeinsinns" steht groß über dem Giebel des 1907 vom damals vielbeschäftigten Architekturbüro Fellner & Helmer gebauten Stadttheaters Gießen. Und dieser "bürgerliche Gemeinsinn" setzt explizit auf Ausschluss; eine gewisse Schwellenangst soll dafür sorgen, dass sich nicht Kreti und Pleti in die heiligen Hallen der Kunst trauen.

Eine Schwellenangst, für die die Architektur sorgt, auch in Häusern wie dem neobarocken Hamburger Schauspielhaus (erbaut 1900 ebenfalls von Fellner & Helmer) und dem Stuttgarter Opernhaus (Max Littmann, 1909). In einer anderen gesellschaftlichen Tradition steht das historistische Wiener Burgtheater (Gottfried Semper, 1888): In Österreich hatte das Bürgertum sich nie in die Frontstellung zum Adel begeben wie in Deutschland, hier definiert sich der Adel selbst über Abgrenzung. Das Burgtheater ist durch einen (heute zugemauerten) Tunnel mit dem Rathaus verbunden, auf dass der Kaiser die Kunst möglichst ganz ohne Kontakt mit dem Pöbel besuchen könne.

TheaterGiessen1 560 Rolf K Wegst uStadttheater Gießen: Bau der Architekten Fellner & Helmer aus dem Jahr 1907. Das Duo baute bis 1919 fast fünfzig Theaterbauten in ganz Europa und schlug städtebaulich neue Wege ein. © Rolf K. Wegst

Man kann also eine Entwicklung bei den Theaterbauten feststellen, von der Abgrenzung zur Integration: Zunächst grenzten sich die Adel vom Bürgertum beziehungsweise Bürgertum vom Adel ab, was sich in Häusern wie dem Burgtheater oder dem Hamburger Schauspielhaus manifestierte, später distanzierte sich auch die Arbeiterschaft mit Häusern wie der Berliner Volksbühne von Adel und Bürgertum.

Moderne Kulturbrüche

Der echte Kulturbruch fand dann nach 1945 statt: Mit Theatern wie Frankfurt oder Gelsenkirchen, die bewusst den Dialog mit der Stadtgesellschaft suchten, die wörtlich in den Stadtraum hineinleuchteten. Zu diesen "Demokratisierungsbauten" lässt sich auch noch die Deutsche Oper Berlin (Fritz Bornemann, 1961) zählen, wobei die Offenheit hier durch Glasfronten in Richtung der Seitenstraßen erzeugt wird, während die Frontseite aus einer abweisend wirkenden Betonfassade besteht. Und einen späten Nachhall findet diese Entwicklung im futuristischen Schauspielhaus Hannover (Claude Paillard, 1992).

SchauspielHannover1 560 uFuturistisch: Claude Paillards Schauspielhaus Hannover © Staatstheater Hannover

Sollte es einen beunruhigen, dass die Demokratisierung der Theaterbauten an ein Ende gekommen scheint, dass mittlerweile ein Moment der Postdemokratie spürbar ist? Einer der wenigen Neubauten im Bereich der Kultur ist die Hamburger Elbphilharmonie (Herzog & de Meuron, 2017), berüchtigt wegen ins unermessliche steigender Baukosten und nicht zuletzt deswegen bemüht, den Gedanken an einen elitären Musentempel gar nicht erst aufkommen zu lassen. Das Bauwerk inszeniert sich selbst bewusst als "Haus für alle", und die verspielte Architektur tut ihr übriges, dass man das Konzerthaus in der Hafencity voraussetzungsfrei in sein Herz schließen möchte.

Gleichzeitig verschleiert die Elbphilharmonie gerade durch ihren allumarmenden Charakter aber auch die konkreten Machtverhältnisse: In Wahrheit ist das Gebäude gar nicht primär ein Haus der Kunst, sondern ein Investitionsobjekt, mit dem Geld verdient werden soll, durch ein Luxushotel, durch Eigentumswohnungen, die pro Quadratmeter bis zu 38500 Euro kosten. Passend dazu auch die Tatsache, dass die Erfolgsmeldungen zur Elbphilharmonie oft auch den Effekt des Gebäudes auf den Tourismus in der Hansestadt erwähnen – es geht hier um Geld, obwohl das Haus den Eindruck erweckt, dass es um Kunst gehen würde.

ElbPhil1 560 iwan baan uVor der Elbphilharmonie anlässlich des Internationalen Musikfests Hamburg © Iwan Baan

Freilich, in absehbarer Zeit wird es einen weiteren Kultur-Neubau in Deutschland geben: Ende Januar entschied das Frankfurter Stadtparlament, dass die Städtischen Bühnen ein neues Quartier bekommen sollen, die Tage der Doppelanlage sind gezählt). Details wurden noch keine genannt, bislang scheint offen, ob sich das Modell Abschottung oder das Modell Einladung durchsetzt, und beides will gut diskutiert werden.

Ära explodierter Innenstadtpreise

Sollte allerdings das Geld in der Diskussion eine größere Rolle spielen, ist zu beachten: Der aktuelle Standort am Willy-Brandt-Platz ist ein Filetstück, mit dem sich auf dem überhitzten Frankfurter Immobilienmarkt große Gewinne erzielen ließen.

Man kann diese Argumentation den Akteur*innen nicht einmal verdenken: Sollte die Stadt das Grundstück versilbern, dann würde das eine große Menge Geld freisetzen, Geld, das in der Folge theoretisch für die Kunst da wäre. Das würde Möglichkeiten schaffen: Man könnte (wenn auch außerhalb des Zentrums) ein Theatergebäude auf dem aktuellen Stand der Technik bauen! Man könnte in diesem Gebäude optimale Bedingungen für Kunst schaffen! Man könnte sogar die Künstler*innen ordentlich bezahlen! Alles richtig. Aber es ignoriert alle oben genannten Aspekte, nach denen Theaterarchitektur eine Architektur ist, die im Dialog mit dem Stadtraum lebt. Im Grunde wäre das Theater dann nur noch ein Gebäude, das nach seinem Nutzen kategorisiert wird: Kann man drin ordentlich Theater spielen oder nicht? Dass das Theater mehr ist als ein Zweckbau, dass es ein Anker ist, der eine Stadt prägt, der Kölner Dom, die Hamburger Elbphilharmonie, diese Vorstellung spielte keine Rolle mehr.

Sollten finanzielle Argumente die Regie übernehmen, dann wären alle architekturästhetischen und städtebaulichen Überlegungen hinfällig. Dann wäre Frankfurt eine andere Stadt. Und man hätte nicht einmal darüber nachgedacht.

Falk Schreiber 2018Falk Schreiber, geboren 1972 in Ulm, studierte Politik und Literaturwissenschaft in Tübingen und Gießen. 2001 bis 2018 Theater- und Kunstredakteur bei kulturnews und umagazine.de, lebt in Hamburg. Schreibt regelmäßig über Darstellende und Bildende Kunst. Mitbegründer des Bloggerkollektivs "Les Flâneurs" und der Plattform für experimentelle Tanzkritik Viereinhalb Sätze. Mitglied diverser Fachjurys, unter anderem bei der Hamburger Kulturbehörde (Förderbereich Tanz) und dem Festival Hauptsache frei. www.falkschreiber.com

 

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