Familienfragen und andere Rätsel  

von Simone Kaempf 

Berlin, 14. Mai 2007. Ausgerechnet Mama. Mama erkennt als erstes, dass Toteaus zentrales Problem nicht die Männer sind, so schrullig die Nichtsnutze auch daher kommen. Bo ist ein kleinkrimineller Autodieb. Der Fotograf Ray fotografiert nicht mehr, weil alle Motive unter seinem Niveau liegen würden, und der schwule Joe kennt Kochen und Schlafen als die einzigen Beschäftigungen in seinem Leben.

Die Mutter aber sagt, sie "kann sich nicht für Toteaus Probleme interessieren, weil sie die Männer nicht auseinander halten kann." Damit spricht sie auf Umwegen die unangenehme Wahrheit aus, die jetzt im Raum steht: Das Problem ist Toteau selbst, die ihre Fehler mitschleppt von Samuel über Ray zu Bo und dann zu Joe. Allerdings will die junge litauische Autorin Arna Aley mit dieser Erkenntnis keine Entlarvungs-Psychologie betreiben. Es geht weniger um das Aufzeigen eines Fehlers als um die Lücken beim Aufzeigen – was benannt ist, ist von der Hauptfigur Toteau noch lange nicht gebannt.

"4 ½" von Arna Aley: rotzig und fern von jeder Routine
Monologische Rückblende, Stationendrama, Beziehungskiste – Aleys "4 ½" hat von allem etwas und von nichts so viel, dass es in Kitsch, Klamauk, Katastrophe abrutschen könnte. Vor allem hat die knapp 30-Jährige eine eigenwillige Sprachkraft, die ihr selbst der Berliner Studiengang "Szenisches Schreiben" nicht austreiben konnte: extrem musikalisch, bisweilen auf hehre Weise rotzig und von der Straße, und fern von allen routinierten Theatertönen. Aley selbst ist Cellistin, hat an der Litauischen Musikakademie studiert, bevor sie Mitte der Neunziger Jahre nach Berlin kam. Für ihr Mini-Stück "Toteau und der Autodieb" wurde sie bereits bei Drama Köln und bei Stückwerk II in Leipzig ausgezeichnet. Unter dem Titel "4 ½" wurde der Text, erweitert und umgeschrieben, aus knapp 500 Einsendungen für den Stückemarkt des Theatertreffens ausgewählt.

Nach der differenziert behandelten Identitätsproblematik in Çetindogans "Eine Migrantenhochzeit" (nachtkritik hier) präsentierte der zweite Teil des Stückemarkts im weitesten Sinn Familienstücke, die keine vordergründige Abrechnung sein wollen. Die Eltern tragen nicht deswegen Schuld am Unglück der Kinder, weil sie diese zur Welt gebracht haben. Die Mutter tritt in Aleys "4 ½" gar nicht auf. Ihre Stimme, herbeiphantasiert von der Tochter, klingt wie ein Echo aus der Vergangenheit, in der es noch ein Versprechen auf Geborgenheit und einen festen Platz gab. Das ist Schmerz genug, und auch ziemlich verrätselt.

Wahrscheinlich bedarf es eines Regisseurs mit einem selbstbewussten, eher atmosphärischen Zugriff, um den Text auf der Bühne in der Schwebe zu halten. In der szenischen Lesung wollte ihn Sabine Harbeke dagegen dingfest machen. Zusammen mit den Schauspielern Sarah Viktoria Frick, Kathrin Angerer und Samuel Finzi erdete sie den Text unvorteilhaft auf dem realen Boden eines Pubertätsdramas, und Frick sprach eine nervend naive Hauptfigur, an der man schnell das Interesse verlor. Sollte "4 ½" am Donnerstag den Stückemarkt-Preis gewinnen und in der nächsten Spielzeit am Berliner Maxim Gorki Theater uraufgeführt werden, weiß man zumindest schon, wie das Stück auf der Bühne nicht funktioniert.

"Cotton Wool" von Ali Taylor: Vernunftlösung im sozialen Koma
Wahrscheinlich hat Ali Taylors "Cotton Wool" (Watte) ohnedies die besseren Chancen. Ganz in der Tradition des britischen Realismus erzählt es in kurzen, gut laufenden Szenen von zwei Brüdern und einem Mädchen, das in ihr Leben platzt. Am Anfang der Dreiecksgeschichte steht eine übergroße Verlusterfahrung: der Tod der Mutter, der die Brüder so eng zusammengeschweißt hat, dass kein Blatt dazwischen passt. Harriets Auftauchen empfindet Collum als Heilung. Für Gussie macht es alles noch schlimmer. Wenn er am Ende einsieht, dass sich das Leben zwar verändert, er seinen Bruder wegen einer Freundin aber nicht verlieren muss, klingt das inmitten des kruden sozialen Milieus fast wie ein allzu schönes Happy End.

Bereits vor der – von Annette Pullen eingerichteten – szenischen Lesung verkündete der Brite Ali Taylor, was diese dann auch ganz klar zeigte: it works. Die Vernunftlösung im sozialen Koma wird angenommen. Sein Stück funktioniert und kam beim Berliner Publikum richtig gut an. Nach der Erfolgswelle Ende der Neunziger Jahre ist die Kraft der neuen britischen Dramatik in Deutschland zwar verpufft, aber in England ist der Drang nach einem writers theatre ungebrochen. Nicht zuletzt wegen einiger weniger, aber hartnäckig arbeitender Theater wie dem Royal Court in London, wo auch Taylors erstes Stück vor sechs Jahren uraufgeführt wurde.

Seine Biografie zählt Workshops mit Simon Stephens und Mark Ravenhill auf. So freundlich und selbstbewusst sprach Taylor auf der kleinen Autoren-Präsentation vor der szenischen Lesung über seine Mentoren und Vorbilder, dass vor Erstaunen die Fragen ausblieben. In welche Fußstapfen er denn treten wolle? Oder welchen Platz er einzunehmen gedenkt? Und was denn eigentlich seine Mutter dazu sagt, niemand geringerer als die britische Dramatikerin Caryl Churchill. Taylor selbst spricht übrigens in höchsten Tönen von ihr und macht dennoch sein eigenes Ding. So wirkte das britische Drama ganz bei sich zuhause.

Stückemarkt II & III

4 ½
von Arna Aley

Cotton Wool
von Ali Taylor

www.berliner-festspiele.de/theatertreffen

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