Stoff oder Papier

von Reinhard Kriechbaum

Linz, 22. Februar 2020. Sie kommt nicht aus einer anderen Gesellschaftsschicht, sondern gleich aus einer anderen Galaxie. Langsam senkt sich die Rakete und heraus stürmt Nora, so blond wie pink im Tüll-Kleidchen. Sie, die man in den 1970er Jahren in diesem Outfit vielleicht noch als Flittchen klassifiziert hätte, hätte damit in die Feminismus-Debatte gepasst wie Elfriede Jelineks 1977 geschriebenes, 1979 uraufgeführtes erstes Bühnenstück überhaupt: Selbst pessimistische Frauenbewegte dieser Ära haben sich damals nicht ausgemalt, wie schlecht Nora es in der Jelinek'schen Ibsen-Fortschreibung treffen würde. Wie schnell die eben noch scheinbar selbstbewusst ins eigene Leben aufbrechende Frau einknicken, sich als anpässlerische Gespielin wieder einklinken würde in die männerdominierte Gesellschaft.

Keine Vorbehalte gegen Parodien

Sympathisantinnen in der Feminismus-Szene hat die Jelinek sich mit dem Stück eher nicht gemacht. Kann man dem angejährten Text heute noch trauen? Ein gewisser Pessimismus ist ohne Zweifel am Platz, und an solchem lässt es die Regisseurin, die ihre Nora per Rakete auf die von lebenden Plüschbären belebte Bühne der Linzer Kammerspiele geschossen hat, nicht fehlen. Charlotte Sprenger setzt aufs Grelle und schickt ihre Hauptdarstellerin (Anna Rieser) in ein popiges Pandämonium, von dem sie augenblicklich vereinnahmt wird. Nichts als fremdbestimmte Popanze. Da ist keine und keiner sie oder er selbst. Alle – allen voran Nora selbst – leben Rollenbilder aus, Abziehbilder gesellschaftlicher Erwartungen. Für dieses fatale Räderwerk nicht authentischen Verhaltens geizt die Regisseurin nicht mit Elementen der Farce. Gegenüber grellen Parodien hat sie überhaupt keine Vorbehalte.

Was geschah Nora 1 560 PetraMoser uVorne: Anna Wagner, Anna Rieser, Angela Waidmann, Michaela Lenhart © Petra Moser Das sichert zwar Spontaneität und Frische und erleichtert es, die vielen gestelzt-diskursiven Ausführungen, an denen es in dem Text nicht mangelt, zu ertragen. Andrerseits ermüdet der Dauerbeschuss mit Skurrilitäten, abgefeuert wie aus einer Stalinorgel. Augenrollen und Grimassenschneiden tragen als Stilmittel nur bedingt über die zwei Stunden. Ein Mindestmaß an Sprech-Genauigkeit setzte auch schon die Ur-Jelinek voraus, daran mangelt es in der Linzer Aufführung gar sehr.

Frauenmacht

Für die Jelinek galt Ende der Siebzigerjahre eine ausschließlich von Männern dominierte Wirtschaftswelt noch als völlig selbstverständlich. Charlotte Sprenger bricht diese Sicht auf, indem sie Nora in ein gleichgeschlechtliches Verhältnis zwingt: Aus dem Konsul Weygang wird eine mächtige Wirtschaftstreibende. Ein Alphatier freilich mit betont männlichem Gehabe und proletenhaft-virilem Lacher. Hanna Binder hat in dieser Rolle zwar besonders schlechte Karten, was die Glaubwürdigkeit anlangt, allein: Die aus dem Puppenheim des Torvald Helmer entwichene Nora hat ja keine andere Weltsicht kennen gelernt als die bürgerliche, in der die Frau mitzuspielen und sich anzupassen hat. Sie rasselt gleichermaßen aktiv wie passiv hinein in die neue Beziehung, in der sie von Frau Weygang zum Instrument gegen den Konkurrenten eingesetzt wird.

Was geschah Nora 2 560 PetraMoser uNora Fettberg: Angela Waidmann, Anna Rieser, Hanna Binder © Petra Moser

Torvald (Alexander Julian Meile) hat die Bankdirektors-Karriere nicht gut getan. Als eitler Geck gibt er Plattitüden von sich. Eine zentrale Szene wäre jene, in der Nora sich ihm gegenüber als Sado-Prostituierte ausgibt. Hier streift sie sich ein plüschiges Fleischberg-Kostüm über. Was als elementare Abrechnung zwischen den Ex-Eheleuten rüberkommen sollte, was einem also sogar beim Zuschauen wehtun müsste, ist bloß Geplänkel, bleibt wegen der Überzeichnung eigenartig belanglos. Das gilt eigentlich für den ganzen Abend.

Aufs Handgreifliche gesetzt

Das "Loch" (Noras neue Arbeitsstätte), das immer wieder angesprochen wird: Es hat mit seinen steil schräg ansteigenden Umgrenzungen auch etwas vom Spielfeld in einem Amphitheater, wo Nora sich wie eine Gladiatorin den Anfechtungen ihrer neuen Umwelt stellen muss. Abenteuerliche Kletterei, vor allem mit Stöckelschuhen.

"Stoff oder Papier?" fragt "Konsulin" Weygand, die der Gespielin Nora längst überdrüssig ist und sie als Kleinhändlerin versorgt wissen möchte. In der Linzer Produktion von Jelineks Bühnen-Erstling hat Charlotte Sprenger ganz aufs Stofflich-Handgreifliche gesetzt, doch wenn die Aufführung mal runter kommt von der plakativen Ebene der Farce, wenn der Ton leiser wird, beginnt gleich das Papier zu knistern. Sie schreibe "etwa im Sinne des Brechtschen Lehrstücks", äußerte sich die Autorin einige Jahre, nachdem ihre Nora-Variante beim Steirischen Herbst in Graz uraufgeführt worden war. Vielleicht ist das hier doch zu wörtlich genommen.

 

Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften
von Elfriede Jelinek
Regie: Charlotte Sprenger, Bühne und Kostüme: Aleksandra Pavlović, Musik: Jonas Landerschier, Dramaturgie: Wiebke Melle.
Mit: Anna Rieser, Michaela Lenhart, Anna Wagner, Angela Waidmann, Hanna Binder, Alexander Hetterle, Alexander Julian Meile, Jan Nikolaus Cerha, Clemens Berndorff.
Premiere am 22. Februar 2020
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.landestheater-linz.at

Kritikenrundschau

Regisseurin Charlotte Sprenger gehe "mit großem Respekt vor der Sprache und dem zugrundeliegenden Text der Literaturnobelpreisträgerin um, drückt dem Werk aber auch deutlich ihren eigenen Stempel auf", lobt Andreas Huber im Oberösterreichischen Volksblatt (23.2.2020). "Wahrlich faszinierend" sei dabei ihre "Liebe zum Detail, was die Ausstattung und das beklemmende Sounddesign angeht: Eindeutige Anleihen an Filmregielegende Stanley Kubrick lassen sich im Werk zahlreich finden; mitten im dystopischen Spiel fühlt man sich etwa immer wieder an 'Uhrwerk Orange' und 'Shining' erinnert." Auch Hauptdarstellerin Anna Rieser spiele "irrsinnig nuanciert". Gegen Ende und "nach mehreren Brandreden für den Feminismus" ermüde allerdings das "das heillos überfrachtete Stück zusehends", woran Jelineks "verklausierte Sprache" einen "großen Anteil" habe.


"Diese Nora stammt aus einer anderen Welt", schreibt Herbert Schorn in den Oberösterreichischen Nachrichten (23.2.2020). Regisseurin Charlotte Sprenger habe "ein eigenes Universum für ihre sehr freie Sicht auf Elfriede Jelineks Drama" geschaffen, deren Aussage laute: "Auch wenn Frauen an der Macht sind, ändert sich nichts. Auch sie unterwerfen sich dem kapitalistischen Spiel." Erzählt werde das in "bunten, grellen Bildern" und obwohl manche Regie-Einfälle "unverständlich" blieben, gehe "das Konzept auf" und rege "zum Nachdenken an", so der Rezesent, der zudem vor allem die darstellerischen Leistungen hervorhebt.

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