Veronika beschließt zu lieben

Von Michael Wolf

25. Februar 2020. Noch vor allen Figuren tritt der Erzähler selbst auf. "Die Verpflichtung 'jedes wirklichen Kulturmenschen' ist, das zu schildern, 'was sich niemals ereignet hat. Schreibt Oscar Wilde. Und genau das mache ich", so lauten die ersten Sätze des neuen Romans "Weiter." des Regisseurs und Schriftstellers Thomas Jonigk.

Die Fiktion ist seinem Alter Ego Flucht aus der nicht näher beschriebenen, aber offenbar unerträglichen Existenz: "Ein Ausweg. Eine Überlebensstrategie." Diese Parallelwelt erschafft er in einer erstaunlich klischierten Schreib-Szene: mit Bleistift und Anspitzer bewaffnet im Café sitzend. Gleich auf der ersten Seite wird klar: Dieses Buch möchte unbedingt Literatur sein, auf keinen Fall aber zeitgenössische.

Cover 280 Jonigk WeiterMief der alten BRD

Mehr noch überrascht dann die folgende Geschichte. Denn der Ausweg aus der Wirklichkeit kommt nicht als Einladung ins Abenteuerland daher. Im Gegenteil steigt der Erzähler in den Mief der alten Bundesrepublik hinab, entwirft mit fahrigen Strichen das Aufwachsen der unglücklichen Veronika. Ihre saufende Mutter wollte sie abtreiben, ihr Großvater missbraucht sie, ihr Vater auch, später dann noch ein Lehrer. Die Erwachsenen sind hier allesamt soziale Monster, heißt: von der kleinbürgerlichen Tristesse zu solchen gemacht. Liebe, Zuneigung oder Hoffnung scheinen in dieser norddeutschen Provinz nicht vorgesehen.

Jonigks Geschichte arbeitet sich an den Mächten ab, die das Mädchen gewalttätig zurichten. Sex ist hier, aller Zärtlichkeit oder Lust entbehrend, nur eine Kontrollinstanz. Veronika wurde nie geliebt und kann daher die romantische Liebesvorstellung nur als weiteres Gefängnis ansehen, als Einordnung in den engen, vorgezeichneten Lebensweg aus Heirat, Schwangerschaft und Ehe. Und all das ohne jede Hoffnung auf Geborgenheit, um die das Mädchen gleichwohl bettelt.

Man mag dem Erzähler in seinem Café unterstellen, dass er zu viel Foucault gelesen hat und selten in den Arm genommen wurde. Sein Verhältnis zur Hauptfigur ähnelt dem, das Veronikas Mutter zu ihrem eigenen Körper unterhält: "Sie wäscht ihn wie einen lästigen, aber notwendigen Gebrauchsgegenstand: routiniert, lieb- und interesselos, meist grob." Denn so klingt auch Jonigks Sprache.

Zwei Gestrandete in Berlin

Sein Alter Ego plaudert sich durch die schreckliche Kindheit dieses Mädchens, als präsentiere er den geschundenen Mädchenkörper in einem vulgärsoziologischen Seminar. "Veronikas diagnostizierte Minderwertigkeit bzw. Hässlichkeit hat aber auch ihre Vorteile: Offenbar löst Veronika nämlich Mitleid beim starken Geschlecht aus, das ist (aus ihrer Sicht) die einzige Erklärung für die ansteigende Anzahl ihrer sexuellen Begegnungen."

Nach dem Abitur zieht sie nach Berlin, um zu studieren, kommt aber wegen ihrer Depressionen nur selten aus dem Bett. An einem Tag im Mai 1986 beschließt sie sich umzubringen und kauft bei Karstadt einen Strick, doch natürlich kommt alles anders. Sie trifft auf Robert, der gerade von einem erfolgreichen Opernregisseur für einen Jüngeren sitzen gelassen wurde und nun völlig haltlos durch die Stadt streift. Auch er ist ein Opfer: ein Opfer der Midlife-Crisis seines Ex-Freundes, ein Opfer seiner Geltungssucht und der Sehnsucht nach Geborgenheit in den falschen Armen.

Der Erzähler als deus ex machina

Wüsste diese Figuren von ihrem Schöpfer, riefen sie wohl erzürnt: Mein Gott! Mein Gott! Warum hast du mich erschaffen? Die Antwort ist nicht schwer zu finden, sind die Wege dieses Herrn doch recht vorhersehbar. Er hat noch einen Plan mit ihnen. In hölzernen Dialogen nähern sich Veronika und Robert einander an. Gemeinsam gelingt ihnen schließlich binnen weniger Stunden die Flucht aus der lebenslangen Fremdbestimmung. Sie erfinden sich selbst, einander und die Liebe ganz neu. Das Ende des Romans trieft so vor Kitsch, dass man kaum die Seiten umgeblättert bekommt.

Wozu das Ganze? "Weiter." spielt ein Programm durch. Erst imitiert der Erzähler die unmenschlichen Kräfte, denen Menschen ausgesetzt sind: als Kinder, als Männer und Frauen, als Liebespartner und Arbeitnehmer. Dann lässt er seine Figuren als deus ex machina frei. Nach diesem Gnadenakt verlässt er schließlich selbst das Café mit neuem Lebensmut und einer selbsterfüllenden Prophezeiung: Die Literatur ist der einzige Ausweg aus der Umklammerung der Fremdbestimmung. Wenigstens in ihr ist eine echte, ganz freie Liebe jenseits jeder Doktrin möglich. So lautet seine frohe, biedermeierliche Botschaft. Glauben kann man ihm leider kein Wort, ist man da doch schon längst vom Glauben abgefallen.

Weiter.
von Thomas Jonigk
Roman, Literaturverlag Droschl 2020
200 Seiten, € 20

 

mehr bücher