Unwissende raus!

von Barbara Behrendt

Berlin, 23. September 2008. Wir sitzen in Berlin. 60 Frauen und 41 Männer, wie man uns sagt. An langen Tafeln mit Tischdecken im 60er Jahre Schick, vor uns Pappkartons, gefüllt mit Post-Its, Stiften und diversen Bastelmaterialien. Auf der Bühne vier Mikrophone und ein weißes Board zum Anpinnen von Zetteln, von Meinungen, Wünschen und Fakten. Eine Parteikonferenz könnte das sein, an deren Ende die große Wahlparty steht. Bevor der Sekt allerdings geöffnet werden darf, muss eine Frage einvernehmlich geklärt werden: Wer ist das, dieses "Wir", das sich an den Tischen gegenüber sitzt und zur Gruppenarbeit verdonnert wird?

Angelehnt an die Reihe "60 Jahre Deutschland" an der Schaubühne hat das junge Theaterkollektiv "Turbo Pascal", gegründet 2004 von Studierenden der Uni Hildesheim, im Studio der Spielstätte eine Performance inszeniert, die man zunächst als Moderation eines Workshops für deutsche "Mitbürgerinnen und Mitbürger" beschreiben muss. Gespielt wird äußerst wenig, erst einmal müssen Daten gesammelt, 6er-Gruppen gebildet und sich darauf geeinigt werden, welches Adjektiv denn nun für alle Gruppenmitglieder gelten kann.

Schusswaffen? Können wir nicht.

"Wir sind deutsch, chilenisch, finnisch, wir kommen aus Zürich, Moskau und Waiblingen, wir können Gespräche moderieren aber keine Schusswaffen gebrauchen. Wir haben blaue, braune, grüne Augen", sind Auswertungen, die die Frage nach dem "Wir" erst einmal recht banal beantworten. Doch vom anstrengenden Mitmachtheater entwickelt sich der Abend dann zu einer Reihe von witzigen Selbstentlarvungen, die sich, bedingt durch die sehr durchdachte Dramaturgie, ganz unvermittelt einstellen.

Schleichend werden die Fragen nach dem "Wir" drängender, kontroverser. Wie gehen wir um mit unseren Rechten und Pflichten in dieser Gesellschaft? Und wie prägt man das "Wir", während man im kleinen, feinen Heim seine Träume hegt? Umso länger man mit seinen "Mitbürgerinnen und Mitbürgern" an einem Tisch sitzt, die rosige oder schaurige Zukunft unter Anleitung der Performer – Schauspieler mag man sie kaum nennen – imaginiert und ihrem rhythmischen Sprechgesang zu Elektrotönen von "Mittekill"-Musiker Friedrich Greiling zuhört, desto ernster nimmt man diese Debatte um Demokratie und die Definition des "Bürgers".

Ratlosigkeit nicht erwünscht

Eine erstaunliche Eigendynamik entwickelt sich dann beim Offenlegen der eigenen Inkompetenz. Jede 6er-Gruppe einigt sich auf eine Wissenslücke, die für alle Gruppenmitglieder zutrifft: Kein Durchblick beim Börsengeschehen, wenig Ahnung in Naturwissenschaften, völlige Ratlosigkeit bei der Autoreparatur. Alle anderen Gruppen entscheiden darüber, ob dieses Wissen denn nicht einen wichtigen Baustein der Gesellschaft darstellt. Stimmt die Mehrheit dem zu, muss die inkompetente Gruppe die Tafel verlassen und auf der gegenüber liegenden Zuschauertribüne Platz nehmen.

Mehr und mehr Gruppen landen so auf den Zuschauerplätzen und immer weniger Menschen stimmen an der Tafel über die übrigen Gruppen ab – bis die Menge auf der Tribüne protestiert und wieder mitwählen will. "Das geht nicht, ihr seid doch inkompetent", fliegt der Einwurf eines Zuschauers von der Tafel zur Tribüne. Leicht überfordert wirken die vier Performer da mit der Situation – denn wirklich inkompetent will man sich auf der Tribüne nun auch nicht schimpfen lassen. Man stimmt also wieder mit.

Sektschlürfen für Gewinner

Am Ende bleibt eine kleine Gruppe an der Tafel sitzen, deren Inkompetenz als nicht so tragisch für die Gesellschaft bewertet wurde. Für sie knallen nun die Korken, es wird tatsächlich Sekt ausgeschenkt und getrunken, während die große Masse den Gewinnern des Spiel-Systems dabei zusieht. Schließlich steigen die Performer auf die Tische und rufen all die Wünsche heraus, die die Großgruppe zu Beginn formuliert hat: "Wir werden gesund und fröhlich sein, wir werden reich sein, wir werden super toll geküsst werden. Wir werden ans Meer fahren, im Glück ersaufen, tauchen lernen, in der Sonne liegen, Schafe züchten. Wir werden uns nicht mehr schämen!"

Die große Masse starrt noch immer auf die Bühne – und fragt sich, wie es bei all diesen demokratischen Abstimmungen zu so etwas kommen konnte. Dass da nun eine Handvoll anderer sitzt, Sekt schlürft und die eigenen Träume verwirklicht. Während man selbst durch die eigene Stimme, fast nicht rekonstruierbar, auf dem Abstellgleis gelandet ist. Keine schlechte Bestandsaufnahme der Gesellschaft am Ende dieses Theaterabends.

 

Wir werden wieder wer gewesen sein
von Turbo Pascal
Konzept: Turbo Pascal. Bühne und Kostüme: Magda Willi, Musik: Friedrich Greiling. Mit: Veit Merkle, Frank Oberhäußer, Luis Pfeifer, Eva Plischke.

www.schaubühne.de


Mehr zur Schaubühnenreihe 60 Jahre Deutschland, in deren Kontext dieser Abend steht, zum Beispiel die Uraufführungswerkstatt Deutschlandsaga, lesen Sie hier (die 50er Jahre), hier (die 60er Jahre), hier (die 70er Jahre), hier (die 80er Jahre), hier (die 90er Jahre) oder hier (die 00er Jahre).

 

Kritikenrundschau

Arbeit an der staatsbürgerlichen Identität als Bastelabend, so in etwa fasst Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel (25.9.2008) die kleinformatige Performance der Gruppe Turbo Pascal in der Berliner Schaubühne zusammen, die ihr jedoch keine wesentlichen Erkenntnisse vermitteln konnte. "Die Zuschauer sitzen an langen Tafeln und werden von den vier Performern anderthalb Stunden lang mit Aufgaben betraut, die durchaus beabsichtigt und schwer semi-ironisch mehr was von einem Pädagogikkurs für innovative Lehrmethoden haben. Manchmal sieht es aber auch einfach nur nach Kindergeburtstag aus. Zum Beispiel, wenn die "Arbeitsgruppe" am Nachbartisch – denn das Fundament modernen Lernens wie auch zeitgemäßer Demokratieausübung besteht bekanntlich in der "Gruppenarbeit" – eine "Krone basteln muss."

Als "so etwas wie die Klassenabschlussparty" des Deutschlandsaga-Projekts mit Staatskundequiz emfand Doris Meierhenrich den interaktiven Abend in der Berliner Zeitung (25.9.2008) Doch abgewinnen konnte sie der Veranstaltung wenig, denn das neunzigminütige Frage-und-Antwort-Spiel ist aus Sicht der Kritikerin "so harmlos und ansatzlos, so ohne jede Gedankenschärfe oder verschmitzte Verführungstaktik, dass das Publikum am Ende genau so selbstgefällig unirritiert aus dem Studio trottet, wie es eintrat: Theater für Volkshochschulfans, die glauben, schon in einem experimentellen Vorgang zu sitzen, wenn nur ihre Stühle durcheinander stehen."

 

Kommentar schreiben