Passing - It's so easy, was schwer zu machen ist - Münchner Kammerspiele
Der Kuss der Theaterspinne
von Maximilian Sippenauer
München, 29. Februar 2020. Beim Einlass winkt ein Kartenabreißer ein älteres Pärchen näher, beugt sich an ihre Ohren und flüstert: "Vorsicht: am Anfang nicht erschrecken." Dann kichert er vielsagend wie ein blinder Seher. Überhaupt, alle tuscheln und raunen heute an Garderobe und Bar, als kursiere ein offenes Geheimnis. Große Namen der Münchner Kulturszene grüßen sich mit Weißweingläsern, unterstreichen ihre Präsenz mit dem raumgreifenden Nicken der Connaisseure: Ja, ja, der Pollesch ist hier.
Netz der Referenzen
Allein der Name des designierten Intendanten der Berliner Volksbühne scheint diesen Premierenabend zu elektrifizieren. Als sich der Vorhang dann hebt und begleitet von staunenden "Uhhs und Ahhs" eine riesige, in München müsste man komparieren: Porsche Cayenne-gleiche Spinne von der Decke schwebt, da erschrickt natürlich keiner, sondern am liebsten würde man sich ein Bier aufmachen und eine Zigarette anstecken, wie bei einem B-Movie-Abend mit Freunden, wenn der Vorspann läuft.
Die Münchner Porsche-Spinne designt von Nina von Mechow. © Thomas Aurin
So los geht's. "Passing – It's so easy, was schwer zu machen ist" heißt das Stück, das René Pollesch und Ensemble für die Münchner Kammerspiele erarbeitet haben. Um was geht's? Schwer zu sagen. Also ganz konkret, narrativ. Wir sind vermutlich auf einem Filmset in Desert Rock, wo B-Movie-Director Mitch Brenner eben einen Streifen abgedreht hat. Mitch Brenner, gespielt von Thomas Schmauser mit Cowboy-Hut und Lederstiefel in weiß, sinniert über das Wort "Fertig", das gerade über die große Spinne geflackert ist. "Wer ist denn jetzt fertig? Wir oder der Film?"
Mit ihm wundern sich Kathrin Angerer in rot-weiß glitzernden Harlekinrauten, Damien Rebgetz in der ikonisch blauen Cop-Uniform des Los Angeles der Siebziger und Benjamin Radjaipour im braunen Tweedanzug als John Heartfield, bürgerlich Helmut Herzfeld, dadaistischer Bühnenbilder, Grafiker, NS-Kritiker, Exilant, Kommunist, Brechtvertrauter. Wenn man dann noch weiß, dass Mitch Brenner der Name der Titelfigur aus Hitchcocks proto-lacanschem Film "Die Vögel" ist, dann erahnt man ansatzweise das Referenzgewebe, in das Pollesch sein neues Stück spannt: zwischen das Berlin der vergangenen Zwanzigerjahre, dem München der aktuellen, dem Hollywood der 1950er, 1960er, 1970er und natürlich der Volksbühne der 1990er. Freilich geht es eigentlich um das Theater und die Frage, was ist sein entscheidendes Element?
Im gemütlichen Hinterleib
Der Blickfang des Stücks ist die Spinne, die Bühnenbildnerin Nina von Mechow entworfen hat. Eine gewaltige Marionette aus Holz, deren meterlange Arme an Seilen wackeln, mit einem wulstigen Weidenkorb als Hinterleib, in den die Schauspieler*innen immer wieder hineinschlüpfen, um dann wie Garn wieder herauszugleiten. Diese Spinne ist keine dunkel dampfende Hydraulik-Maschine aus Rasche-Stahl, sondern ein warmes Habitat.
Die Spinne ist zugleich Leitmotiv und Schaltzentrale, von dem aus das Zitat- und Narrativnetz verwaltet wird, das Pollesch und Ensemble für diesen Abend entsponnen haben. Sie symbolisiert das Theater als Ort, darin Geschichten immer weiter gewoben werden, verschiedenste Stränge zusammenlaufen. Dann ist sie wieder Spinnerei, Werkstatt, Fabrik und Epizentrum der proletarischen Bewegung und prekären Kunst. Bald theoretisieren die Schauspieler*innen draußen vor der Spinne, bald mummeln sie Drinnen im gemütlichen Hinterleib und ziehen verspielt Kaugummifäden zwischen Mündern und Nasen.
Die glorreichen Sechs: Kathrin Angerer, Kinan Hmeidan, Kamel Najma, Benjamin Radjaipour, Damian Rebgetz, Thomas Schmauser © Thomas Aurin
Zwischen dieser inneren und äußeren Theatersphäre changierend denken die einzelnen Szenen von Passing über die Welt nach. Und das macht zum Teil viel Spaß. Etwa wenn Schmauser unruhig an den Insignien des Hollywood-Kapitalismus "Coke, Kippe, Kaffee" nuckelnd, sich enerviert über die phonetische Ähnlichkeit des Begriffs "Passing" und dem Münchner Vorort Pasing auslässt. Oder wenn Radjaipour das Phänomen Fünfzigjähriger, die plötzlich beginnen MDMA zu schlucken, aus einer dezidiert ästhetischen Perspektive kritisiert. Und natürlich Kathrin Angerer, mit ihrer Stimme, so zart rauchig patiniert wie die des Kanarienvogels aus dem Döblin-Roman, die zwischen den sechs Halunk*innen sogar noch die glorreichste ist.
Penelope Pollesch am Webstuhl Theater
Trotzdem bleiben diese neunzig Minuten insgesamt ein recht diffuses Feuerwerk aus Kalauern, Anspielungen und verkopften Aphorismen. Ein Metadiskurs über das politische Theater, der wie eine kleine schillernde Seifenblase ganz hoch über denen schwebt, die nicht darin leben und doch gemeint sein sollen. Die Passage zwischen Kunstwerk und Welt wird hier eher verbarrikadiert als geöffnet. "Passing" kokettiert mit einer postmodernen Lust am B-Movie. Zwischen Western und früher Sci-Fi betreibt der Abend mit Žižekscher Freude an der intellektuellen Überhöhung eine Hermeneutik des "Zweitrangigen" in der Kunst für die Massen. Aber muss Theater überhaupt konkret sein? Braucht politisches Theater eine Message? Rhetorische Fragen, die Pollesch natürlich verneint.
Und als über die Szene eine Leinwand fällt und darauf die Schauspieler*innen projiziert werden, wie sie zu "Sound of Music" auf dem mit einem Alpenpanorma bedruckten Bühnenboden, durch den blauen Himmel planschen, dann möchte man ihn glauben. Ihm, Pollesch, der großen Penelope am Webstuhl Theater, die die unwahrscheinlichsten Schicksalsfäden zusammenspinnt und löst, in der heroischen Behauptung des utopischen Potentials der Kunst. Da fühlt sich dann doch jeder gefangen im undurchsichtigen Spinngewebe der Erzählungen aus dem, was war, ist und gewesen sein wird. Und was ist das Theater, wenn nicht genau diese pure Melancholie der Präsenz. Also bloß nicht erschrecken lassen!
Passing - It's so easy, was schwer zu machen ist
von René Pollesch
Inszenierung: René Pollesch zusammen mit dem Ensemble, Künstlerische Mitarbeit: Max Bretschneider, Video: Amon Ritz, Ute Schall, Bühne und Kostüme: Nina von Mechow, Licht: Charlotte Marr, Dramaturgie: Tarun Kade.
Mit: Kathrin Angerer, Kinan Hmeidan, Kamel Najma, Benjamin Radjaipour, Damian Rebgetz, Thomas Schmauser.
Premiere am 29. Februar 2020
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.muenchner-kammerspiele.de
"Wen die Frage umtreibt, wieso der Hollywood-Rebell John Cassavetes mal mit dem Reaktionär Charlton Heston im gleichen Film aufgetreten ist und wem die Antwort 'Wegen Geld' womöglich zu platt wäre, wird bei Pollesch sehr reell bedient", schreibt Robert Braunmüller in der Abendzeitung (1.3.2020). "Sentimentale Gefühle für die Berliner Volksbühne, ein Studium der Theaterwissenschaft und die alte Liebe zu B-Movies helfen auch. Dann kann 'Passing' ein ziemlicher Spaß sein." Wer vom Theater aber klassische Menschendarstellung samt Einfühlung erwarte, "stehle weinend sich aus dem Bund der Amüsierten und meide bis zum Ende der Spielzeit die Münchner Kammerspiele".
Als "Behauptungs-Halligalli" beschreibt Christiane Lutz den Abend in der Süddeutschen Zeitung (2.3.2020). "Pollesch war schon mal schneller, war auch schon witziger und origineller." Dass der Abend trotzdem gut sei, liege am Charme von Polleschs Passing-Theorie. Pollesch befreie seine Schauspieler und das Publikum vom Authentizitätszwang. "Das Anprobieren verschiedener Identitäten, das 'durchgehen als' jemand, der man vielleicht nur für eine Weile sein will, ist für ihn genauso legitim wie das Echte. Darin liegt mehr Freiheit als im nervigen Streben nach dem wahren, einzigen Selbst", so Lutz: "Vielleicht wollen wir ja gar nicht unbedingt die Authentizität, wir wollen nur etwas für authentisch halten dürfen. Auch im Theater."
"Die riesigen Theorien, von denen da die Rede ist, fußen alle auf dem achtbeinigen Bühnenbild von Nina von Mechow", schreibt Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (3.3.2020). Die Autonomie dieser riesigen Spinne ist natürlich ein Täuschungsversuch, hängt sie doch selbst als ferngesteuerte Marionette an den Fäden der Theatertechnik. "Genau darum aber soll es hier auch gehen: um Täuschung, die Wirklichkeit ersetzt." Zwischen Heimatidylle und Actionthriller, Hitchcock und Spiderman gebe es Tarantel-Apokalypse und Schrumpf-Horror nachzuerleben. Im letzten Drittel allerdings beginne der Abend sich zu ziehen.
Ein "selbstironisches, mutmachendes B-Movie-Reenactment" hat K. Erik Franzen erlebt, wie er in der Frankfurter Rundschau schreibt. Es sei "ein Genuss, sich als Zuschauer durcheinanderwirbeln zu lassen im Dauerfeuer der Bezüge, der brüchigen Vernetzungen von Ich und Du und Welt". Was bleibe, sei der Appell an das Weiterringen um ein kollektives politisches Theater heute. "Revisiting Brecht, gegen ein Einzelkämpfertum auch auf den Theaterbrettern; in einer Inszenierung, die bewusst nicht überwältigt, die aber Fäden spinnt aus Kaugummi und Gedanken, die verschwinden, aber auch bleiben dürfen."
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Im Entsetzen, dass Pollesch im psydokritschen Kleid unverändert so produziert, wie er es schon vor mehr als zehn Jahren gemacht hat, bin ich im Netz auf Derek Scally, den Deutschland-Korrespondent der „Irish Times“ gestoßen: Er schreibt nach Besuch eines Pollesch-Stücks am 20.11.2019 in Zeit Online: „Irgendwie hat es eine kleine Gruppe deutscher Theatermacher (es sind fast immer Männer) geschafft, ein Krümmungsfeld um ihre Bühnen herum zu errichten, das Oberflächlichkeit tiefgründig erscheinen lässt.
Nach zwei Jahrzehnten in diesem Land bin ich fast amüsiert darüber, wie wenig sich in der deutschen Theaterwelt verändert hat. Es gibt immer noch:
- das Stück vom Typ A: Geschreie und Gescheiße, mit vollkommen vorhersehbaren Provokationen wie der Vergewaltigung einer Frau oder eines in Trümmer gehenden Bühnenbildes.
- Typ B: die Gruppendenkproduktion, in der Schauspieler und Regisseur den Text eines toten Autors auseinandernehmen, ihn mit modischen Motiven und irgendwelchen Zitaten aus anderen Werken/Büchern/Philosophien vollstopfen, ohne zu erklären, was die bedeuten sollen oder hier zu suchen haben.
- Typ C: das unterkühlte Drama. Teures Bühnenbild, nuschelnde Darsteller, die gefilmt und in die Kulisse projiziert werden, um eine Tiefe vorzugaukeln, die der Inhalt nicht bietet.
Sie brauchen dringend neue Ideen, Herr Pollesch. Hier wären drei – getragen vom Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der deutschen Theaterwelt:
1. Eine Kombination aus dem Film Funny Games und dem Musical 9 to 5: Ein alternder deutscher Theaterregisseur wird von drei Ex-Freundinnen/Ex-Ensemblemitgliedern entführt und gezwungen, nackt über die Bühne zu hüpfen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Sie fesseln ihn und schneiden nach und nach seine Körperteile ab, weil sie wissen wollen, was sein Problem mit Frauen ist – und warum jahrzehntelang niemand steuerfinanzierte Frauenfeindlichkeit hinterfragt hat.
2. "Des Gefangenen Kaisers Neue Kunst-Kleider" (frei nach Hans Christian Andersen/Czesław Miłosz/Yasmina Reza): ein Stück über die Lobkartelle des deutschen Theaters. In den Hauptrollen: ein ängstlicher Kulturstaatsminister, ein unsicherer Theaterkritiker und ein hipper Zuschauer. Die drei schauen ein neues Stück-im-Stück – eine leere, weiße Bühne, auf der nichts passiert – und versuchen dabei krampfthaft ihre wahren Gefühle – Unverständnis und Verachtung – zu unterdrücken, wohl wissend, wie hoch die sozialen Kosten wären, den Regisseur einen "Spießer" zu nennen.
3. "Töte deine kapitalistischen Lieblinge": Ein deutscher Theatermacher, der berühmt ist für seinen Mittelklasse-Kapitalismusspott, verlässt seine Blase, um undercover das neue deutsche Prekariat zu erkunden. Sein neues Stück wird so kritisch gegenüber der Welt, in der er lebt, und gegenüber den rücksichtslosen Konsumgewohnheiten seiner Freunde, dass er seinen Job am staatlichen Theater verliert. Den zweiten Akt verbringt der Ex-Regisseur in seinem Job, in dem er versucht, Pakete für den Online-Händler sisyphos.com zuzustellen. Der zunehmende Druck von Zeit, Geld und Kapitalismus setzt ihm zu. Er schafft es nicht, die Pakete zuzustellen, bringt sich um, und alle applaudieren.“
Und der gefeierte Pollesch? Sein Webstuhl produziert Gedankenknäuel, die aufzulösen nicht wert sind.Seine Spinne, für mich Symbol für eine Theaterszene, die es sich darin warm macht, dem Zuschauer aber mit kleinen Zuckungen der Spinnenbeine gerne Kapitalismuskritik vorspielt.
Ach Pollesch, diese Art von Spinnen am Abend ist labernd!
Da halte ich es mit einem ehemaligen Bayern-Trainer: habe fertig!
Waren Kinan Hmeidan und Kamel Najma nicht Teil des Ensembles?