Kaboom Kapeng!

von Anna Landefeld

München, 1. März 2020. Dieser Abend ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Befreiungsschlag. Hier ist nichts mehr männlich-westlich bestimmt, auch wenn die Choreografin Florentina Holzinger sich in den Münchner Kammerspielen (es ist ihre erste Inszenierung an einem Stadttheater!) an Filmszenen von Kubrick, Tarantino etc. abarbeitet. Sie sind aber nichts weiter als passive Zitatgeber: Denn Holzinger löst die Kontexte auf, bis nichts mehr übrig ist außer reiner, weiblicher Körperlichkeit. Ja, auch die kann brutal sein und ja, Frauen haben Spaß daran. "This will be our reply to violence: more intensely, more beautifully, more devoteley than ever before", dieser Satz wird zum Finale über dem Geschehen eingeblendet und macht klar: Das hier war ein Training für die Fähigkeit zum weiblichen Widerstand – und der wird ganz anders sein.

Schnippschnapp, Ohr ab

"Étude for an Emergency. Composition for ten bodies and a car" ist in seiner brutalen Genauigkeit, brutalen Schönheit und brutalen Brutalität manchmal an der Grenze des Aushaltbaren. In ihrer (zum Theatertreffen eingeladenen) Inszenierung "Tanz" sezierte Holzinger den Ballettdrill, hier geht es nun um Weiblichkeit, Gewalt und Bühnentod. Die weibliche Leich' im Theater ist bislang zumeist eine schöne, abgeschlachtet vom Vater oder Liebhaber – oder sie schwindsüchtigt in Dachkammern vor sich hin oder ersäuft sich etwas emanzipierter vorher selbst, na klar, aus Liebeskummer im Fluss. Holzingers Frauen dagegen sterben grausam, super cool und hochmusikalisch. "Étude" ist eine mit steigendem Schwierigkeitsgrad  durchchoreografierte, fast wortlose Komposition für zehn nackte Frauenkörper. Stuntfrauen, Opernsängerinnen und Schauspielerinnen trainieren für den Ernstfall: Damit ist auch der Kanon-Notstand gemeint, konkret in der Inszenierung ist es ein Autozwischenfall – halb Un-, halb Überfall.

etude for an emergency composition3 560 Nicole Marianna Wytyczak u Blut ist reichlich vorhanden. © Nicole Marianna Wytyczak

Zur Einstimmung im "Prologue" erstmal was Neckisches, gleich voll rein ins popkulturelle Spektakel: Hallo Tarantino, hallo "Reservoir Dogs", hallo berühmte Szene mit dem Ohr. Annette Paulmann ist das Opfer und sitzt gefesselt auf einem Stuhl. Geld in die imaginäre Jukebox eingeschmissen: Stealer Wheels  mit "Stuck in the middle with you", und Falckenberg-Absolventin Shirin Lilly Eissa macht sich an die Arbeit: Erst spritzt, dann rinnt das Blut. Das "Ohr" wird weggeworfen, irgendwo auf den Boden, von dem es Sibylle Fischer, Choir Conductor und Drill-Instrukteurin in Personalunion, aufliest – nicht etwa vulgär mit der Hand, sondern mit der Spitze ihres Taktstocks.

Kunstvolle Kung Fu-Künstlichkeit

Mit der Trillerpfeife bläst sie dann zum "First Movement". Paarweise platzieren sich die Darstellerinnen auf der klinisch-abschwischbaren Folie vor den noch weißen, dickgepolsterten Crash-Wänden. Mit übertriebener Überstilisierung geht es weiter. Der Taktstock schlägt: Ohrfeigen, rechts, links, auf eins, zwei. Pause, drei, vier. Bauchkick, Haareziehen. Beim achten Schlag landen die Gegnerinnen mit voller Wucht an der Crashwand. Alles genauso künstlich wie beim Wrestling oder in Kung-Fu-Filmen. Da stammen wohl auch die Geräusche her, Retro-Kapeng und Kaboom zu jeder Bewegung.

Etude for an emergency 3 560 NicoleMariannaWytyczak uZerstörerinnen: das Étude-Ensemble © Nicole Marianna Wytyczak

Den acht bei dieser Bootcamp-Szenerie zuzuschauen, das hat etwas Meditatives, wie sie einander in zahllosen Wiederholungen bald in doppeltem, dann in halbem Tempo vermöbeln, ihre Münder in Zeitlupe aufreißen, ihre Gesichter vor Schmerz verzerren oder breitbeinig-siegesgewiss die Finger zum V emporrecken. Noch andächtiger wird's, als sich unter die Soundeffekte Henryk Góreckis "Symphonie der Klagelieder" mischt. Oben auf einer Banderole läuft in digitalen Rotbuchstaben zu jedem Movement ein assoziativ-rahmender Sinnspruch. Zum ersten lautet er: "All beginnings are unexpected".

Gegen die Crashwand geknallt

Unerwartet kommt es nicht, dass Holzinger Martial Arts und Stunting mit Popkultur und Unantastbarem vermengt. À la "Kill Bill" drangsaliert man sich zum von Mezzosopranistin Julia Rutigliano gesungenen "Lacrimosa", verreckt zu tiefschweren Bassklängen auf schwarzen Sportmatten, simuliert dauergeloopte Bandenkriege zur Orgel. Die berühmte Gruppen-Vergewaltigungsszene aus "A Clockwork Orange" lässt Holzinger gnadenlos reenacten. Echt spektakulär wird es, wenn vier der acht Darstellerinnen mit Hilfe eines Flaschenzug-Systems an Seilen durch die Luft fliegen und mit voller Wucht gegen die Crashwände knallen. Immer wieder. Das tut beim Hinsehen schon weh.

etude for an emergency composition1 560 Nicole Marianna Wytyczak uAuf zum Grand Finale! © Nicole Marianna Wytyczak

Wozu das alles? Für das Finale mit dem Auto: schwarzer Disco-Opel auf der Landstraße, Annette Paulmann auf dem Beifahrersitz, Prollo-Ellbogen hängt aus dem Fenster, und plötzlich ist da ein Mensch auf der Fahrbahn. Es kommt zum Unfall. Und dann zur Massenschlägerei. Eskalation zu Schuberts schaurig-erotischem "Tod und das Mädchen", angestimmt in polyphoner Zartheit. Zum zeitlupen-gedehnten Prügel-Loop fällt gülden-warmes Licht, steigt Nebel aus der Maschine. Wunderschön.

Étude for an Emergency. Composition for ten bodies and a car
Inszenierung: Florentina Holzinger, Bühne und Kostüm: Nikola Knežević, Musik: Stefan Schneider, Licht: Max Kraußmüller, Dramaturgie: Renée Copraij, Helena Eckert, Stunt-Koordination: Marc Sieger, Petr Dvorak, Musiccoach und Choir Conductor: Sibylle Fischer.
Mit: Marie Blochinger, Marie Dziomber, Shirin Lilly Eissa, Sibylle Fischer, Maria Helgath, Verena Konietschke, Annemarie Kumlehn, Annette Paulmann, Julia Rutigliano, Linnéa Tullius.
Uraufführung am 1. März 2020
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

 Kritikenrundschau

"Holzinger greift in ihre Trickkiste, in der sich Sachen befinden, die sonst niemand im Theaterbetrieb in dieser Mischung zur Verfügung hat," schreibt Sabine Leucht in der Süddeutschen Zeitung (3.3.2020). All diese Aktionen sind dem Eindruck der Kritikerin zufolge "vom Bedeutungsbrimborium und den Emotionen bereinigt, die sie normalerweise legitimieren. Sie werden als rein technische Vorgänge hergestellt und so oft wiederholt, dass sich jeder etwaige Bedeutungsrest auswäscht und nur die rein mechanische Bewegung bleibt." Detailreich beschreibt die Kritikerin den Abend. Doch bei allem Spaß beim Zuschauen – und offenbar auch beim Vorführen – ist ihr am Ende nicht klar, "was genau der Ernstfall sein soll, bei dem das alles hilft."

Die Spannung zwischen der angekündigten nackten Gewalt und ihrer ästhetischen Überformung bleibe immer gegenwärtig, so Tobias Stosiek auf BR24 (2.3.2020) Und damit aus seiner Sicht auch die Frage, "wo letztere zum Problem wird, weil sie verkitscht und vernebelt; weil sie, generell gesprochen, die Brutalität verdaulich macht. Unnötig zu erwähnen, dass Holzinger die Antwort nicht mitliefert. Die junge Wienerin veranstaltet keine Bühnenproseminare, sondern inzeniert Theaterspektakel, die die Sinne zum Denken zwingen, die mit den brutalsten Mitteln Sensibilitäten schaffen. Etwa dafür, dass Gewalt auf der Bühne so vieles sein kann: brutal und betäubend, aber auch komisch, pathetisch, zärtlich, skurril und vor allem energetisch."

Der Abend sei "ein Werk der Desillusionierung, wie schon Holzingers Vorgängerarbeit 'TANZ'", schreibt Margarete Affenzeller im Standard (2.3.2020), diesmal aber "schmerztechnisch leichter verträglich, indes auch konzeptuell weniger ausgegoren. Denn was als Stuntoper geplant war, verläuft bei der Uraufführung am Sonntag als eine vor allem sportliche Auseinandersetzung mit Gewaltszenen in Nummerndramaturgie." Von der "Ausgangsidee, das Operngenre und seine Sterbenskonventionen mit den Mitteln der Populärkultur zu unterwandern", blieben "nur Rudimente erkennbar". Dennoch gelte: "Bitte dranbleiben, denn hier könnten Florentina Holzinger und Bruce Willis mit Trauzeuge Romeo Castellucci (als Zeremonienmeister des etüdenhaften Rituals) dereinst Hochzeit feiern."

Wiebke Hüster stellt den Leser*innen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.3.2020) zunächst einmal die Regisseurin Florentina Holzinger vor ("In ih­ren Per­for­man­ces spritzt das Thea­ter­blut li­ter­wei­se, gel­len Schreie, wer­den Mün­der zu­ge­klebt und knal­len Kör­per ge­gen Wand und Bo­den."), um dann in aller Kürze zum aktuellen Abend zu fragen: "Neun­zig Mi­nu­ten Prü­geln und Hin­flie­gen für den gu­ten de­kon­struk­ti­ven frau­en­be­frei­en­den Zweck – oder wo­für?"


"Holzingers Liebe gilt nicht nur dem von ihr selbst praktizierten Kampfsport", schreibt Annette Walter in der taz (4.3.2020) sondern auch dem Neo-Noir-Kino eines Quentin Tarantino oder Stanley Kubrick und sie adaptiert die Methode der coolen Ästhetisierung der Gewalt, die wir im Kino schon lange kennen, auf raffinierte Weise für die Bühne." Dabei enstehe ein "Kontrast zwischen verletzlicher Nacktheit und monströsen, wenngleich stilisierten Gewaltakten", der diesen Abend als "Zündstoff" antreibe. Das Ergebnis sei "furios inszeniert und von einem furchtlosen Ensemble voller Energie und Spielfreude getragen".

 

Kommentare  
Étude for an Emergency, München: kein Applaus
Der Stadttheaterbetrieb sollte Frau Holzinger in Ruhe lassen, auch wenn es diesmal die Lilienthalischen Kammerspiele waren, die sie zu einer Produktion engagiert haben. Lasst sie lieber ihr Ding machen und dann als Gastspiel einladen.
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