Die Moral ist in der Krise

von Simone Kaempf

Berlin, 1. März 2020. Am Ende sitzt der sterbende Mann breitbeinig auf dem Hosenboden, zieht ein ratloses Gesicht und weiß nicht, wie ihm geschieht. In der melancholischen Stimmung genügt fürs Sterben, dass das Licht verlischt und die Musik verstummt. Aus, vorbei. Tot war er aber schon vorher. Denn so richtig lebendig, witzig oder böse wird dieser Über-Leichengeher, knallharte Banker und Neoliberalist Jedermann nie in der Inszenierung des georgischen Regisseurs Data Tavadze.

Leichenschmaus statt Gartenfest

Der Galgenhumor und all die schwarzhumorigen Dialoge, mit denen Ferdinand Schmalz in "jedermann (stirbt)"  (uraufgeführt 2018 am Wiener Burgtheater) das Bekehrungsspiel von Hugo von Hofmannsthal für die Gegenwart aufpeppt, versanden im Deutschen Theater auf der mit weißem Gips-Kies ausgestreuten Spielfläche, auf der statt eines rauschenden Gartenfestes doch eher eine Beerdigung abläuft. Der liebe Gott wird im Leichensack hereingeschleift, die Buhlschaft erscheint im bodenlangen Trauerkleid und die drei Musiker lassen warm-weiche Basslinien anschwellen.

jedermannstirbt1 560 Arno Declair uNatali Seelig, Jörg Pose, hinten: Niklas Wetzel, Gerhard Gschlößl (Posaune), Lukas Growe (Kontrabass), Lorena Handschin © Arno Declair

Die Gartenfest-Gäste scheinen einem jedoch bestens vertraut. Der gute Nachbar namens Gott, der den Glauben an den Menschen nicht aufgeben mag, ein idealistischer Prototyp, dem Niklas Wetzel viel jugendliche Energie verleiht. Nicht minder verspielt Paul Grill als teuflische Gesellschaft, um keinen zynischen Hinweis verlegen. Jedermanns Frau (Lorena Handschin) ist ein herzensgutes Nervenbündel, das ihrem Mann schutzsuchend auf den Schoß springt. Und die Buhlschaft (Natali Seelig) ist bei Schmalz der Tod und bereitet an diesem Abend argumentationsstark aufs Ableben vor.

Dialoge als Textfläche

Auf der großen Spielfläche tollen der liebe Gott und der Teufel, Niklas Wetzel und Paul Grill, wie zwei junge Hunde, die sich gegenseitig in den Würgegriff nehmen, dann torkeln und sich stützen. Doch gefährlich oder dringlich wird dieses Fangenspielen dann leider nie. Hinten ihnen die Musiker, umrankt von Topfpflanzen. Mikrofone stehen demonstrativ im Raum, vor die die Spieler immer wieder treten. Doch trotz kleiner Choreografien, viel Bewegung und auf dem Bodenwälzen haftet der Inszenierung etwa sehr Statisches an.

jedermannstirbt2 560 Arno Declair uPaul Grill, Jörg Pose, Lorena Handschin, hinten: Gerhard Gschlößl (Posaune) © Arno Declair

Vielleicht liegt es daran, dass Tavadze die Dialoge weitgehend wie eine Textfläche behandelt. Er dekonstruiert die Handlung statt sie anzureichern oder den Figuren reale Bezüge zu verleihen. Seinen Jedermann führt er weg vom Spektakligen – und verliert so aber auch an Schärfe und Witz. Für einen Schmalz-Abend geht es humorlos und bleiern zu bis zum Abwinken.

Die Revolution ist unvorstellbar

Jörg Pose spielt den jedermann als Banker auf Angestellten-Niveau, weder verschlagen noch richtig böse. Er nölt mehr als dass er feilscht. Das Trinkgelage, in dem er den lieben Gott zu kaufen versucht, ergibt eine der schönsten Szenen. Aber dieser Banker ist kein Überzeugungstäter, sondern ratlos und von ambivalenten Gefühlen getrieben.

Die Moral ist in der Krise. Schmalz lässt seine Figuren genüsslich um ihre Haltungen und die letzten Dinge kämpfen. Tavadze aber schickt sie in ein musikalisch suggestiv untermaltes Requiem, in eine blasse Krisenstimmung, die Vieles meint und kein Aufbegehren kennt. Selbst wenn von Unruhe auf der Straße die Rede ist – "draußen vor dem Zaun mobilisiert man sich. Zusammenstöße scheinen" – entwickelt der Abend keine Funken und wirkt postdramatisch improvisiert und gedämpft.

jedermann (stirbt)
von Ferdinand Schmalz
Regie: Data Tavadze, Bühne/Kostüme: Janja Valjarević, Musik: Nika Pasuri, Licht: Kristina Jedelsky, Dramaturgie: Sima Djabar Zadegan, Juliane Koepp.
Mit: Jörg Pose, Lorena Handschin, Natali Seelig, Paul Grill, Niklas Wetzel, Live-Musik: Lukas Enno Growe, Daniel Casimir, Gerhard Gschlößl, Samuel Dunscombe.
Premiere am 1. März 2020
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Ganz ungebrochen als Wortkunststück" inszeniere Data Tavadze das Stück, so Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (3.3.2020). Das aber zerfalle unter einem schief und kopfüber im Theaterhimmel hängenden klassizistischen Portal. "Eigentlich hätte der Seufzer des Überdrusses, mit dem Jörg Pose in der Titelrolle den Mund aufmacht, gereicht. Was folgt, ist die kraftlos-bemühte Ausdeklination eines letzten Schnaufers." Die Schauspieler akzentuieren ihre Texte silbenweise, "laden ihre Blicke mit Wichtigkeit und Staunen auf und schicken sie zumeist ins Publikum, wenn sie nicht mit ansatzlosen Bewegungen beschäftigt sind. Fazit: man wohnt zunehmend mürrisch, dann geistig erledigt einer anstrengenden, weltabgewandten Kunstübung bei.

"Viel Staub ums Sterben" ist Elena Philipps Kritik in der Berliner Morgenpost (3.3.2020) überschrieben. "Jörg Poses Jedermann sitzt schon zu Beginn der Inszenierung wie eine hohle Hülle auf einem Stuhl, zusammengesunken und teilnahmslos." Nah gehe es nicht, dieses abgezirkelte, bisweilen bleierne Spiel ums allgemeinmenschliche Schicksal der Sterblichkeit. "Ändern kann daran auch Natali Seelig nichts, die sich als 'buhlschaft tod' mit grandioser Präsenz die Schmalz’schen Texte aneignet." Nach knapp eineinhalb Stunden bleibe ein etwas schales Gefühl, das sich bald in eine Frage verwandelt: "Warum nur wirken viele der Inszenierungen, mit denen sich das Deutsche Theater um die neue Dramatik verdient macht, so anämisch wie dieser 'jedermann (stirbt)'?"

"Unbedingte Konzentration auf den Text" wende Data Tavadze an, schreibt Katja Kollmann in der taz (3.3.2020). Er fordere von den SchauspielerInnen ein strenges, stringentes Spiel und einen sehr genauen Umgang mit Schmalz’ Sprache. "Im Kontext des auf ein Minimum reduzierten Bühnenbildes, der inhaltlichen sowie formalen Dichte des dramatischen Textes ist es keine leicht konsumierbare Inszenierung." Man sei gefordert.

 

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