Keine Freiheit. Nirgends.

von Esther Boldt

Wiesbaden, 7. März 2020. Nein, dieser Theaterabend lehrt keine Zärtlichkeit. Er lehrt Verzweiflung (oder Langeweile, aber das kommt ganz auf die Perspektive an). Seine Protagonist*innen: Eine aus Blut und Gier, aus Schuld und Not geschmiedete Gemeinschaft, deren Mitglieder einander ohne Wimpernzucken tote Tauben um die Ohren knallen oder Weinflaschen in den Anus. Denn Unglück macht böse. Und unglücklich sind in dieser Sippe, in dieser Sippenhaft eigentlich alle.

In Sippenhaft

Evgeny Titov inszeniert im Hessischen Staatstheater Wiesbaden Maxim Gorkis "Wassa Schelesnowa": Das in den letzten Jahren immer mal wieder gespielte Drama einer Matriarchin, die für die Rettung des Familienbetriebes über Leichen geht, die ihr Arbeitsethos an die höchste Stelle setzt und alles Nutzlose mit Verachtung straft. Oder mit Vernichtung. Titov, auf der Theater-Homepage als Regie-"Shootingstar" vorgestellt, arbeitet hier zum zweiten Mal: Vor zwei Jahren verdunkelte er Molières Eingebildeten Kranken. Auch "Wassa Schelesnowa" zeichnet er in den finstersten Tönen.

Wassa4 560 Karl und Monika Forster uLeslie Malton als Wassa Schelesnowa auf der Bühne von Duri Bischof und Florian Schaaf  © Karl und Monika Forster

Die Bühne: Eine Raumflucht in Weinrot, Erdbraun und Moosgrün, die sich in die Tiefe fortsetzt wie ein Labyrinth (Bühne: Duri Bischoff, Florian Schaaf). Es ist ein Gefängnis aus Macht und Ohnmacht, Erpressung und Anhängigkeit. Freisprüche werden erbeten, versprochen, imaginiert und erhofft, gleichwohl: Hier wird es keine Freiheit geben. Nirgends.

Familiengesellschaft

Wassa regiert Familie wie Betrieb mit eiserner Hand, während ihr Gatte im Sterben liegt. Die Söhne: nutzlos. Semjon ist ein fahriger, alberner Dummkopf, Pawel als Buckliger, Krummgewachsener Anlass für Scham und Mitleid. Semjons Frau Natalja grübelt viel und findet sich doch nicht zurecht in der Welt, Pawels Gattin Ludmila ist eine Schönheit, die an der Seite des falschen Mannes verrottet und verdirbt. Tochter Anna hat sich aus dem Staub gemacht. Und nun stirbt also der Vater, die Erben umschleichen das Haus und der Familienbetrieb droht zerstreut zu werden. Doch Wassa hält unerbittlich alles zusammen, bis es kracht.

Wassa5 560 Karl und Monika Forster uDie bürgerlichen Salons sind nicht weniger als ein Irrenhaus  © Karl und Monika Forster

Bei Titov ist von Anfang an das Kind im Brunnen: Die Intensität der Spieler*innen ist hoch bis vollkommen überspannt, die Musik dräut vom ersten Ton an so bedrohlich, als wolle einem das Unhappy End aus der zweieinhalb Stunden entfernten Zukunft dienstbereit entgegenkommen. Diese fortgesetzten bürgerlichen Salons sind nicht weniger als ein Irrenhaus, seine Bewohner*innen immer schon am Anschlag: Die aufrechte, strenge, gnadenlose Wassa, gespielt von Leslie Malton. Der wackelbeinige, glupschäugige Semjon des Paul Simon. Oder der zähnebleckende, gackernde und springteufelnde Pawel des Linus Schütz. Wo aber von Anfang an alles am Anschlag ist, stellt sich rasch eine gewisse Taubheit ein. Ein dramaturgisches Problem, dem die Regie mit mehr dräuender Musik, mit harten Schnitten und drastischen Szenen beizukommen sucht. Allerdings: vergebens.

Unter Wölfen

"Wassa Schelesnowa" singt in Wiesbaden laut, kreischend, eisig, brutal das altbekannte Lied vom Menschen, der dem Mensch ein Wolf ist. Der für ein bisschen Geld auch das eigene Fleisch und Blut verrät und sein Herz an falsche Werte hängt, bis er daran verreckt. Kann sein. Kann aber auch nicht sein, möchte man nach diesem eintönigen Abend sagen. Und: Dass es Zeit ist für neue, für andere Geschichten. Die bewegte Gegenwart, sie schreit nach ihnen.

 

Wassa Schelesnowa
(Erstfassung von 1910)
von Maxim Gorki
In einer Fassung von Evgeny Titov
Übersetzung: Evgeny Titov unter Mitarbeit von Wolfgang Behrens
Regie: Evgeny Titov, Bühne: Duri Bischoff, Florian Schaaf, Kostüme: Eva Dessecker, Musik: Mritz Wallmüller, Licht: Ralf Baars, Dramaturgie: Wolfgang Behrens. Mit: Leslie Malton, Sybille Weiser, Paul Simon, Linus Schütz, Christina Tzatzaraki, Mira Benser, Michael Birnbaum, Rainer Kühn, Lena Hilsdorf, Iris Atzwanger.
Premiere am 7. März 2020
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-wiesbaden.de

 

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