"Ljod – Das Eis – Die Trilogie" am Staatstheater Mainz

Weil die Theater nicht mehr spielen können, stellt nachtkritik.de einen digitalen Spielplan aus Livestreams und Aufzeichnungen von Inszenierungen zusammen. Heute zeigen wir zum letzten Mal – in drei Portionen – einen Mitschnitt von Jan-Christoph Gockels insgesamt rund fünfstündiger Inszenierung Ljod – Das Eis – Die Trilogie am Staatstheater Mainz, die im April 2019 Premiere hatte.

 

Ljod 600 c Andreas Etter © Andreas Etter

Über "Ljod – Das Eis – Die Trilogie" auf den Seiten des Staatstheaters Mainz:

Die russische Gesellschaft wird von einer geheimen Gemeinschaft unterwandert. Ihre Mitglieder entführen blonde, blauäugige Menschen und schlagen ihnen mit einem speziellen Hammer aus Eis die Brust auf. Bei diesem brutalen Ritual entpuppt sich, ob die Menschen hohl sind, also als lebende Tote auf der Erde wandelten oder ein "ebendiges Herz" haben. Beginnt ihr Herz zu sprechen, gehören sie zu den 23 000 erwählten Brüdern und Schwestern, einer weltbeherrschenden Elite, die die Nazis, den Sowjet-Staat und unsere heutigen Konsumwelten unterwandert haben.

Der Autor Vladimir Sorokin gilt als einer der schärfsten Kritiker des politischen Systems in Russland. Nach eigener Aussage ist das gegenwärtige Russland nur noch mit grotesken Mitteln der Satire abzubilden. Doch die Verschwörungstheorie in seiner utopischen Romantrilogie reicht weit über Russland hinaus. Entstanden ist ein fantastisch apokalyptisches Politmärchen, in dem er auf verstörende und bildgewaltige Art die menschliche Suche nach dem verlorenen Paradies thematisiert.

Die Nachtkritik von Esther Boldt zur Mainzer Premiere am 26. April 2019 lobte: "(...) ein ehrgeiziger und großer, bildstarker und eigensinniger Theaterspaß, den neun Schauspieler*innen hervorragend stemmen." Wie die Kritikerkolleg*innen es fanden, lesen Sie in der Kritikenrundschau.

Mehr über den Regisseur Jan-Christoph Gockel im nachtkritik-Lexikon.

 

Ljod - Das Eis - Die Trilogie
nach Vladimir Sorokin. In einer Theaterfassung von Jan-Christoph Gockel
Mitarbeit: Rebecca Reuter, Bernd Ritter
Regie: Jan-Christoph Gockel, Bühne: Julia Kurzweg, Kostüme: Dorothee Joisten, Musik und Hörspiel: Matthias Grübel, Livezeichnungen: Seda Demiriz, Video Gestaltung: Christoph Schödel, De-Da Productions, Vanessa Dahl. Live Video: Vanessa Dahl, Licht: Frederick Wolleck, Dramaturgie: Rebecca Reuter.
Mit: Sebastian Brandes, Simon Braunboeck, Vincent Doddema, Monika Dortschny, Gesa Geue, Fiona Metzenroth / Lotta Yilmaz, Mark Ortel, Johannes Schmidt, Leoni Schulz.
Premiere am 26. April 2019
Dauer: 5 Stunden, zwei Pausen

www.staatstheater-mainz.de

 

Kommentare  
nachtkritikstream, Ljod: Die Wahrheit
...findet ihr hier: http://icehammervictims.org/wordpress/
Lasst eUch nicht betruegen!!!!1
nachtkritikstream, Ljod: Vielen Dank!
Ich habe lange, lange darauf warten müssen, mir dieses Stück ansehen zu können. Schließlich und endlich hatte ich mir und einer Freundin Karten für die letzte Vorstellung besorgt - die dann ja leider, aber verständlicherweise ausfallen musste.

Ich bin euch daher umso dankbarer, dass ich nun doch noch die Möglichkeit bekomme dieses grandiose Stück zu sehen!
Denn soviel kann ich, nachdem ich nun den ersten Teil gesehen habe, schon sagen: Es ist grandios!
Ich liebe die Umsetzung, die Erzählweise und Videodarstellung und allem anderen Voran: Die schauspielerische Leistung!!!
Und da ich auch die Abläufe hinter der Bühne kenne: An dieser Stelle auch ein gigantisches Lob an ALLE, die dieses Stück ein ums andere Mal auf die Beine gestellt haben!

Theater ist und bleibt ein wahrer Schatz und ich bin froh, dass ihr uns diesen auch in dieser Krise so gut es geht erhaltet!

Vielen Dank und bis bald auch wieder IM Theater! ;-)
nachtkritikstream Ljod: Ersatztheater
Ich schließe mich dem Dank von Aileen Weis an nachtkritik.de - und darüber hinaus an die Theater, die Streams und Aufzeichnungen zur Verfügung stellen - an. Aber so hilfreich solche Angebote in Zeiten der Not auch sein mögen - sie dokumentieren zugleich ihre Defizite. Sie belegen, dass lebendiges Theater durch digitale Notlösungen nicht ersetzbar ist. Wer eine oder mehrere Veranstaltungen, die er auf der Bühne erlebt hat, jetzt auf dem Computer wieder sieht, wird sich schwerlich der Euphorie der Digitalisierungsapostel anschließen. So beweist der Nescafé unfreiwillig die Güte des Bohnenkaffees. Früher nannte man ihn Ersatzkaffee. In alle Dankbarkeit für den Ersatz, der das Original, immerhin, vor dem Verschwinden bewahrt, mischt sich also die Trauer über den (zeitweiligen) Verlust dieses Originals. Komme niemand auf die Idee, es sei verzichtbar.
nachtkritikstream, Ljod: Seherfahrungen
aus meinen ATB zu nachtkritik-streams:

Irgendwer schrieb im nk-Stream-Kommentar, er/sie hätte es nicht durchgehalten, das „gestreamte“, also live oder nicht live digitalisierte Theater. Und hätte das schade gefunden.
Das ist ein sehr produktiver Ansatz! Man kann darüber nachdenken, was GENAU man daran schade gefunden hatte und warum. Hat die Bildschirm-Sicht gereicht, von ihr ein analoges Theatererleben zu abstrahieren? Also sich vorzustellen, wie bereichernd es gewesen wäre, das Gezeigte live im Zuschauerraum, gemeinsam mit anderen Zuschauern, erlebt haben zu können? Oder: Hat man es schade gefunden, dass ein konkretes, als Bereicherung erlebtes Theaterereignis, an das man sich gern per Aufzeichnung nochmals erinnern wollte, als Bildschirmansicht nicht diese ehemals empfundene Bereicherung auszulösen vermochte?
Welcher Schluss wäre daraus zu ziehen? Dass man Theateraufführungen nicht auf dem Bildschirm anschaut in Zukunft? Oder nur solche von ganz bestimmten konkreten KünstlerInnen anschaut?
Was unterscheidet die Arbeiten von KünstlerInnen, deren Arbeiten man eventuell gern auf dem Bildschirm verfolgt/anschaut von solchen, bei denen man das nicht gern tut? Sind gern auf dem Bildschirm anschaubare Arbeiten – also AUCH als Liveerlebnis im Zuschauerraum – die im Vergleich prinzipiell besseren Arbeiten? Wenn ja, WARUM genau?...
Das sind allgemeine Überlegungen, ausgelöst allein durch die Entscheidung, im Moment ersatzweise Konserven-Theater zu schauen auf einem Sender, der kein Sender ist. Das als Konserven-Theater angeboten wird von konkreten Leuten, denen der Sender als Plattform – wenn man ausnahmsweise vernachlässigt, dass Google und seine Eigner über die Plattformen-Macht im Internet bestimmen – gehört.
Das ist ja bei den gewohnten Sender-Sendern nicht mehr der Fall. Dass man jederzeit nachvollziehen kann, welchen Leuten die konkret gehören. Oder, wenn man sich die Mühe schon macht, das zu recherchieren, dass man sich sagt: Okay, d i e s e konkreten Leute bekommen meine Unterstützung durch Annahme ihres Programms mit diesen konkreten Inhalten und in dieser konkret von ihnen verantworteten Form… Will sagen: Herr Burda z.B. hat vielleicht eine nette Frau, aber ich möchte ihn und sein z.B. Medien-Programm trotzdem nicht unterstützen. Ich glaube, das braucht der auch gar nicht!
Mein bevorzugter Nicht-Sender für Ersatz-Theater in pandemischen Zeiten ist im Moment Nachtkritik.de.
Sie haben dort jetzt zwei Inszenierungen gezeigt an vier Abenden. Zwei Inszenierungen, die ich nicht im Original gesehen habe und deren Regisseure ich nicht kenne. Das ist bei 99,99 % aller Inszenierungen seit 1997 der Fall und ich schaue mir das zunächst sehr interessiert an, weil ich entscheiden will, ob sich das noch einmal ändern sollte in meinem Leben und ich eventuell noch einmal wieder Zuschauerin werden könnte.

Die erste Inszenierung, über Marie Antoinette, die Österreicherin, halte ich am ersten Abend zwei Minuten lang aus und am zweiten Abend switchend in der Zeit insgesamt vielleicht sechs Minuten. Ich überlege, woran das – nur bei mir natürlich als Zuschauerin x!, y ist schon wieder jemand anderer! – liegen könnte:´
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Die Geburtsszene am Anfang Abend 1 gefällt mir ganz gut. Sodann erschließt sich mir nicht die Notwendigkeit der ver-queeren Besetzung aus dem Inhalt des Stückes. Freilich bin ich angehalten, eine jederspieltbeiunsalles-Besetzung als das Natürlichste der Welt anzunehmen. Ich sehe allerdings gar nicht den konkreten Mangel, der solche Haltung als das Natürlichste der Welt hervorbringt!
Das ist also die erste Kunst-Anstrengung. Durch bewusste queer-Besetzung: Noch keine zwei Minuten währt das Stück und schon sehe ich den dramaturgischen Diskursanstrengungsschweiß deutlicher als die Eltern der kleinen Österreicherin, um die es eigentlich geht; verheiratet schon während ihrer ersten Atemzüge – obwohl das, genaugenommen, schon spät ist, denn nach dem Spanischen Hofritual wie das in Österreich üblich war, hat die Konzeption vermutlich schon vor der kaiserlichen Konzeption stattgehabt…
Gutgut. Morgen ist auch noch einen Tag Abend.
Inzwischen lese ich, dass der Regisseur am Literaturinstitut in Leipzig studiert hat und dass nach gründlichsten Recherchen sein Text für das Stück entstanden sei. Ich bin glücklich, dass es – trotz Literaturinstitut! niemand Drama nennt, als ich dem Text am zweiten Abend einige Minuten vorn und hinten und zwischendrin folge.
Als ich dem Text folge, spüre ich sogleich die nächste Kunstanstrengung. Diesmal eine der Regie: Bei den durcheinander gesprochenen Sentenzen soll es sich offenbar um symbolisierten Hofklatsch handeln, der all die unschuldigen Figuren, besonders Marie Antoinette, die Österreicherin, persönlichkeitszerstörend umzingelt und umtost. Und die armen SchauspielerInnen strengen sich sehr an, so gekonnt wie die SpielerInnen von Pollesch oder Castorf durcheinander zu reden, um damit irgendetwas Sinnvolles zu transportieren.
Und obwohl sie eigentlich sehr sinnvollen, wenig vom Thema abschweifenden Text haben, sehe ich buchstäblich ihren inneren Schweiß, aus dem Autor kunstangestrengt einen Regisseur wie Castorf machen zu sollen. Und ich frage mich wirklich, immer angestrengter, was genau der Autor für seinen Text recherchiert hat? Seit gut 1 ½ Jahrzehnten haben wir eine so unsagbar gut sortierte Literaturlage zum Leben Marie Antoinettes, dass man eigentlich nur einen Film und drei Biografien über sie gelesen haben muss und schon kann man einen Text über sie daraus sampeln. Gar kein Problem. –
Ich lese keine einzige originelle, neue, autorseitige Auslegung der Biografie und ich höre keinen einzigen Satz, der nicht ebenfalls dort stehen könnte. Wenn DAS also ein eigenständiger literarischer Text als Ergebnis von Recherche ist, werde ich demnächst meinen zukünftigen VerlegerInnen jedes Gedicht in Rechnung stellen, das ich in meinem Leben gelesen habe. Und jeden winzigen Satz, den ich in irgendeiner Doktorarbeit zu irgendeinem beliebigen Thema oder in einem Theaterprogramm oder auf einer Eierpackung gelesen habe.
Jetzt weiß ich, warum ich keine VerlegerInnen habe, die hätten Angst, an mir arm zu werden! - Das ist eine nicht unerhebliche Erkenntnis, die mir aus dem Nicht-Stream der königlichen Theaterkonserve erwachsen ist. Und ich bin wirklich dankbar dafür! Für alles andere fand ich den letzten Marie-Antoinette-Film durchaus anschaulich genug. Und darüber hinaus sogar amüsant!

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Eine der besten Biografien - der sich zur Recherche wohl auch das Team, das eben diesen Film gemacht hatte, bediente, wurde übrigens von der besseren Hälfte eines literaturnobelbepreisten englischen Dramatikers geschrieben. In solchen Konstellationen schaut man, wenn‘s gut läuft, aus reiner Empathie mal nebenher über den Schreib-Kram des jeweils anderen rüber. Hat man das als Konstellation nicht, braucht man offenbar - zumindest als Autorregisseur - zwingend ein Literaturinstitut, das einem den von Regie-Selbstherrlichkeit zuweilen verstellten Weg durch den eigenen Geistesdschungel zeigt. Bräuchte man nicht zwingend, wäre es doch vollkommen unerheblich zu erwähnen, dass der Regisseur des Stückes als Autor das Literaturinstitut in Leipzig absolviert hat! Erst recht unerheblich im Zusammenhang mit einer Theater-Inszenierung…
Ich habe der Inszenierung also etwa acht Minuten meines Lebens geschenkt. In denen ich sehr froh war, keine solche Theaternärrin zu sein, die dafür sich extra aufgemacht hätte in das Vorarlberger Landestheater. Es hat mir jedoch sehr viele Minuten mehr leidgetan, dass hier in der Werbung für das Stück ohne jede Not mit dem Ruf des Literaturinstitutes in Leipzig gearbeitet wurde. Mit dem Ruf von mir gänzlich unbekannten SchauspielerInnen gespielt wurde, die als Werbung für die Diskurs-Uptodateheit ihres Theaters herhalten mussten. Und ebenso leidgetan, dass auch mit dem Ruf der mir gänzlich unbekannten Vorarlberger gespielt wurde, denen vom Theater offenbar zugetraut wird, dass sie sich eh hauptsächlich für die ausgewählt österreichische Krone und deren weitreichende europäische Beziehungen interessieren …
Ich freue mich allerdings für jeden, der anders als ich Freude an diesem Stück und dem Schauen dieser Konserve hatte. Dann war es nämlich außer für mich, deren Einzel-Urteil für die Vielen vollkommen unerheblich ist, nicht umsonst gearbeitet.

Die zweite Konserve ist zumindest geschickter konserviert. Es gibt seichte Perspektivenwechsel zum Beispiel, die die Mondtag-Stimmung sinnvoll hervorheben. Kein Wunder, hat doch Mondtag selbst den Hut auf für die Aufzeichnung, und der weiß ja, an welcher Stimmung ihm gerade an welcher Stelle der Inszenierung gelegen war. Diese zweite von Nachtkritik.de angebotene Inszenierung als Aufzeichnung zu schauen, halte ich erheblich länger aus. Mit Zooming vorn, hinten, mittig komme ich auf etwa fünfundzwanzig Minuten Seetime. Ich bin hin- und hergerissen zwischen großer Freude und tiefer Verstimmung und zumindest mir dafür eine Erklärung schuldig: Kein Zweifel,

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diese Idee von diesem jungen Regisseur, die SchauspielerInnen blind mit aufgemalten Augen agieren zu lassen, ist wirklich überaus originell und in ihrer Konsequenz würde ich wagen zu sagen: genial. Ich bin mir nicht sicher, ob er selbst wüsste, was das symbolisiert, aber ganz gewiss übersetze ich diese Idee als Zeichen für die Lebenswahrheit, dass einerseits Blinde oft besser zu sehen vermögen, als es Sehende tun. Und andererseits Menschen, die so tun, als entgehe nichts ihren Blicken, oftmals sowas von blind durch das Leben gehen, dass einem nahezu schlecht werden kann, sieht man ihnen dabei zu… Und dass dieser junge Regisseur das erfunden hat, hat eine Konsequenz für die Spielweise. Ich weiß nicht, ob er sich darüber im Klaren ist, dass er das bewirkt haben könnte, aber: Mir erscheint diese so provozierte Spielweise beinahe wie eine Weiterentwicklung des Tanztheaters von Pina Bausch. Gewiss würde ich mir den Zorn aller ChoreografInnen zuziehen, die sich selbst seit Jahren und Jahren angestrengt bemühen, mit ihrer Kreativität das Tanztheater von Pina Bausch zu beerben! - Es tut mir schrecklich leid: ich habe ausgerechnet jetzt und hier das Gefühl, dass Ersan Mondtag durch diese kleine Erfindung Pina Bausch beerbt hat, obwohl er vermutlich gar nicht vorhatte, dies tun zu wollen! – Das ist für mich ein Grund zu großer Freude! Und weil das so ist, verärgert mich einiges an seiner Inszenierung umso mehr! Es gibt kein Zweifel: das von ihm konzipierte Bühnenbild hat große Aussagekraft. Seine langen Flure, seine verschachtelte Staffelung nach hinten, die vielen Türen, die nie nach draußen zu führen scheinen, sondern immer nur weiter hinein in diese ausweglos klaustophobische Familientyrannei haben eine große behauptende Kraft. Und genau weil die das haben, stört mich ganz extrem, dass sie eindeutig auf Steven King und David Lynchs Twin Peaks-Hölle verweisen. Ich weiß gar nicht, was mir das sagen soll, außer dass der junge Regisseur vielleicht ein Mystery-Fan ist oder schlicht so misstrauisch gegen Publikum, dass er denkt, er muss diesem im Theater zwanghaft eine Ähnlichkeit mit einer Filmseherfahrung auftischen, damit es ihm die Familientyrannei als Hölle abnimmt. Was aber fange ich mit so einem Wissen an? Soll ich ihm nun einen Beruhigungsdrops schicken? Oder bewundern, weil er die wahre Geistesgröße von David Lynch erkannt hat? Oder eine Tyrannei, die sich in weiträumigen Zimmerfluchten zwischen nur wenigen Menschen beispielhaft zeigen kann, durchaus auch mit mehreren Menschen in weniger weiträumigen Zimmerfluchten wirksam werden und also gezeigt werden kann? – (...) Meine absolute Lieblingsgeste ist der routinierte othermother-Griff zum über der Schulter liegenden Geschirrhandtuch, das u.a. ist so wunderbar genau beobachtet und ohne Denunziation gezeigt, dass es eine große Freude ist… Dafür, dass mich diese Inszenierung so geärgert hat wegen der überflüssigen Direkt-Verweise auf King und Lynch, hat sie mich übermäßig lange fesseln können. Ich wünsche diesem Regisseur sehr, dass er es einmal schafft, dass ich einer seiner Arbeiten vielleicht fünfzig statt fünfundzwanzig Minuten Aufmerksamkeit schenken kann. Alles, was ich ihm versprechen kann, wenn ich könnte, weil ich ihn kennte: Ich werde es erneut versuchen, wenn er wieder etwas inszeniert und ich das als Konserve geliefert bekomme. Und ich versuche es auch gern noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal… Wenn ich einmal eine Mondtag-Konserve ganz ohne Wegschalten schaffe, dann kaufe ich mir bei seiner darauffolgenden Inszenierung eine Karte und gehe in echt ins Theater...

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Die nächste Inszenierung geriert sich als Serie. Der Regisseur beherrscht erfreulich das Bespielen einer Bühne mit allen zeitgenössischen Mitteln, das Fokussieren des Spiels im Raum und das Ausfüllen des Raumes mit Spiel. Er weiß, was zeitgenössische Literatur ist und da weiß er schon vergleichsweise viel. Weniger viel weiß er mit der Literatur anzufangen, außer, dass er zu wissen scheint, dass man auf einer (Sprechtheater)Bühne was mit Literatur anzufangen wissen muss. Wenn ich seiner seriellen Literatur-Interpretation mit zugegeben durch Vereinsamung eingerosteter Logik folgen darf, würde ich zusammenfassend aus seiner Interpretation schließen, dass es zu allen Zeiten und allüberall, aber besonders heute und in Russland, auserwählte Menschen gibt, die aus zwanghafter Neugier herausfinden wollen, ob andere Menschen überhaupt ein Herz haben. Und die, um sich davon überzeugen zu können, bei Herzmenschen-Verdacht deren Herzen methodisch zerstören: Wenn die an der Stelle des Herzens was hatten, was zerstört werden konnte, ist das der hammermäßige Beweis, dass sie eins hatten… Bemerkenswert daran ist, dass die auserwählten Auswähler bevorzugt Nazis, Spezialabteilung SS, sind oder zu Nazis, Spezialabteilung SS, werden, wobei sie sich überaus elegant zu bewegen vermögen, was uns als Zuschauer nichts als Bewunderung abzuringen vermag. Auch finden wir das dankbar sehr lustig. Und mehr kann ich dazu nicht sagen.
Was sagt das Aufmerksamkeitometer?: Insgesamt verteilt an drei Abenden insgesamt ca. fünfundzwanzig Minuten. Ich werde es nicht noch einmal versuchen mit dem Regisseur, es sei, der ausnehmend glückliche Zufall führt mich in echt in eine echte Mondtag-Vorstellung und es ist gerade Hirschgrippe, weshalb die Vorstellung ausfällt und durch eine Gockel-Live-Konserve ersetzt wird…
nachtkritikstream, Ljod: Zitate von Regie-Stilen
Die Roman-Trilogie von Vladimir Sorokin, die er für das Staatstheater Mainz adaptierte, wäre auch tolles Material für Frank Castorf: groteske Figuren, ein dystopischer Stoff, der durch die russische Geschichte surft und Bögen zwischen Stalin und einer blonden, blauäugigen Übermenschen-Sekte schlägt.

Tatsächlich erinnert dieser fünf Stunden lange Abend vor allem im ersten Teil an Castorfs ausufernde Volksbühnen-Abende: Auch „Ljod“ ist ein assoziativer Mash-up aus viel Live-Video, Schreien und Zetern. Statt mit Fremdtexten jonglieren Gockel und sein Ensemble vor allem mit Zitaten von Regie-Stilen.

Mal versammelt sich das Ensemble an einem langen Tisch. Die Handlung kommt für längere Zeit zum Stillstand. Wie eine „Tschechow-Parodie“ wirkte diese Szene schon bei der Premiere auf die Nachtkritikerin Esther Boldt. Mal tanzen alle Spieler*innen in Nazi-Kostümen zu einer schrägen Leni Riefenstahl-Choreographie. Der Abend hat den Charakter einer grotesken Revue: einige Längen wechseln sich mit Kabinettstückchen wie z.B. einer Rockröhren-Show von Simon Braunboeck mit Wiener Schmäh und Mark Ortel oder der witzigen Teufelchen-Tattoo-Show des armen Soldaten, den alle nur „Ofen“ nennen. Die finale Szene, in der sich die Übermenschen in Astralkörper-Anzügen zu ihren kultischen Ritualen versammeln, erinnert an die Kostüme aus Ersan Mondtag-Inszenierungen.

Funktioniert dieser Theater-Abend auch als Stream? Natürlich macht es einen Unterschied, ob man dem grotesken Treiben hautnah aus der ersten Reihe folgen oder nur einen Mitschnitt als Konserve auf dem Rechner sehen kann.

Gerade dieser Abend ist als Stilmix auf die von Netflix gewohnte Bingewatching-Technik angelegt. Dass Nachtkritik die Aufführung zunächst in drei Häppchen zerlegte und erst am lezten Abend am Stück zeigt, ist für „Ljod“ keine optimale Lösung. Dafür ist dieser Gockel-Abend doch zu nah an den Castorf-Volksbühnen-Abend, für die auch gilt, dass sie entweder ganz oder gar nicht funktionieren.

Aber der Stream erfüllt auch seinen Zweck: Er bietet die Chance, eine Inszenierung aus einem der mittelgroßen Häuser kennenzulernen, das sonst nicht auf dem Radar ist, und vermittelt immerhin einen Eindruck einer ideenreichen Inszenierung mit witzigen Einfällen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/03/21/ljod-das-eis-staatstheater-mainz-kritik/
nachtkritikstream, Ljod: Störfaktoren fallen weg
Zur Diskussion über den Sinn von Streams und Konserven:

Manche Erfahrungen gibt es nur als exklusives Live-Erlebnis im Zuschauerraum: Das beklemmende Gefühl, wenn Nils Kahnwald als amoklaufender Hamlet durch die kleine Münchner Kammer 2 tobt und flüchtende Zuschauer zum einzigen Ausgang verfolgt, stellt sich vor dem Laptop nicht ein. Auch die Energie der "Göttlichen Komödie", die am Residenztheater nur wenige Vorstellungen erlebte, zurecht zum Theatertreffen eingeladen wurde und hoffentlich bei einem Nachhol-Termin wieder live gezeigt werden kann, ist so nicht reproduzierbar.

Aber das sind rare Theater-Sternstunden. Zum Theater-Alltag gehören auch viele statische Monologe, die Turm-Frisuren und Sitz-Riesen, die die Sicht versperren, die störenden zwangsverpflichteten Schulklassen oder die Sitznachbarin, die auch nach der 5. Bitte immer noch mit ihrem leuchtenden Handy-Display beschäftigt ist.

Das Live-Theater-Erlebnis kann vor allem in den ersten Reihen pur genießen, in Reihe 10, 13 oder 16 kommt auch nicht mehr so viel von dem an, von dem Theater-Puristen schwärmen. Der Unterschied zum Stream ist dann gar nicht mehr so gewaltig, im Gegenteil, die oben genannten Störfaktoren fallen weg.
nachtkritikstream, Ljod: wie ne Netflix-Serie
Ganz herzlichen Dank erst einmal für den Ljod-Stream! Es hilft sehr, derzeit in Quarantäne ruhig(er) zu bleiben. Und was für eine Inszenierung! Hat mir unglaublich gut gefallen - ich habe sie direkt meinen nicht alle theateraffinen Freunden weiterempfohlen mit folgenden Worten: "Theater wie ne Netflix-Serie. Mit Eishämmern, die blutig in Herzen hämmern. Mit Dr-Sommer-Nazis, die Kindern den Liebesakt erklären. Und mit einem Geheimbund mit... ja, was für sinistren Plänen überhaupt?" ;)
nachtkritikstream, Ljod: Kritik an Ideologien
Eine packende Inszenierung, die mit ihrem ideologiekrititschen Inhalt aktueller nicht sein könnte. Verschiedene utopistische Ideologien, Heilsversprechen und Erlösungsfantasien werden von einer skurrilen wie brutalen und elitären Sekte, deren Treiben wir durch das turbulente 20. Jdht. folgen, konterkariert. Gerade in Zeiten, in denen Erlösungsversprechen durch Endzeitstimmung wieder florieren und Menschen in einer überkomplexen Welt, die von einer Krise in die nächste stürzt, einfache Antworten in Verschwörungstheorien und Esoterik suchen, lohnt sich ein kritisches Hinterfragen dieser vermeintlich sinnstiftenden Welterklärungskonzepte.
Wer indes, wie ein vorheriger Kommentator, etwas bewundernswertes in dieser menschenverachtenden Gemeinschaft sieht, die im Grunde wesensverwandt mit dem Nationalsozialismus ist, eine Spur von Leichen hinter sich zurück lässt und sich hauptsächlich mithilfe von Kalendersprüchen unterhält, sollte sich dringend Gedanken über sich selbst machen und weniger über Theaterstücke, denen man nach eigenen Aussagen nur 25 Minuten folgen konnte. Bedenklich.
nachtkritikstream, Ljod: Wiederholung?
Eine ganz profane Frage: Ich bin erst heute in den Stream von Ljod eingestiegen, gucke es total gerne, schaffe es aber trotzdem nicht komplett. Habt ihr geplant, das noch mal anzubieten? 5+6 um genau zu sein ...

(Liebe Carola, in unserem nachtkritikstream gibt es heute Abend neues Programm. Ich halte es aber für sehr wahrscheinlich, dass die Inszenierung noch einige Tage auf vimeo.com abrufbar sein wird, wo das Staatstheater Mainz sie für unsere Kooperation eingestellt hat. https://vimeo.com/398483688 Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)
nachtkritikstream, Ljod: ohne Erfahrungs-Druck
Sehr geehrte Sara, habe ich Sie richtig verstanden und Sie unterstellen mir, dass ich etwas Bewundernswertes in der menschenverachtenden Sekten-Gemeinschaft in Gockels Stück fand? Wie das? Ich habe das nicht ausgehalten, weil ich an den wenigen Sequenzen eben genau eine prinzipielle Ideologiekritik vermisste. Ich habe auch keine humanistische Abrechnung mit den Gräuel des 20. Jahrhunderts gefunden, sondern nur einen Vergleich von SS mit dem unterschiedslosen Übergang des Stalinismus zur Politik im heutigen Russland. Und das ist mir nicht etwazu wenig, sondern entschieden zu viel Ideologie und Blindheit für die antidemokratischen Züge im eigenen Land. Und da kann das von mir aus märchenhaft noch und nöcher sein. (Und das - sehr geehrter Herr Kröger, scheint mir auch der deutliche dramaturgische Unterschied zu Castorf zu sein: Castorf hat mit seiner ostdeutschen Stalinismus-Erfahrung auch eine spezifische Erfahrung darin, denselben zu kritisieren. Mittlerweile eben historisiert zu kritisieren. Und damit diese Kritik einzuordnen in die die Kritik anderer zeitgenössischer -ismen. Castorfs Figuren sind auch keine grotesken Märchenwesen. Sondern Menschenwesen, die sich in groteskes Verhalten begeben haben mitunter, da ist immer ein realistischer Blick auf die Zwänge, die das Groteske produzieren...) Gockel kritisiert nicht historisiert, sondern setzt hier Faschismus, Stalinismus und die Verhältnisse im heutigen Russland gleich ohne Erfahrungs-Druck. Ich sehe bei der Inszenierung keinerlei Kritik an unserer bundesdeutschen, demokratiezerstörenden außen- wie innenpolitisch betriebenen medialen massiven Neu-Ideologisierung. Die russlandfeindlich, amerikahörig und schulterzuckend hilflos gegenüber der neuen Rechten tagtäglich mehr Raum nimmt. Dem kann ich persönlich nicht folgen, weil ich solchen Dingen nicht folgen werde und in meinem Leben von konkreten, lebenserfahrenen Menschen gelernt habe, dass man das auch nicht tun sollte.
Ich sehe aber, dass die Gockel-Sicht das aufnahmebereite Mainzer Publikum überhaus freut und es diese ärgerlich unkonkret kritische Sache als Teilhabe an explizit politischem Mut feiert. - Ja, und dazu fällt mir eben ein Kalenderspruch ein, ganz ideologisch; ich habe ihn schon vor beinahe jetzt dreißig Jahren in einem Stück verwendet, in dem ein Protagonist solche Art Feier beobachtet und sich davon angewidert und auch verzweifelt in eine Einsamkeit getrieben abwendet: MainzbleibtMainzwiees usw....
Im Übrigen sind das Notizen aus Arbeitstagebüchern, die ich hier in Ausschnitten zur Kenntnisnahme als eventuell Kommentar-tauglich angeboten habe. Dass Sie sie zur Kenntnis nehmen dürfen, hat die Redaktion offenbar so entschieden. Prinzipiell darf ich aber in Tagebüchern schreiben, was ich wozu denke und fühle, ohne mir da extra-Gedanken über mich selbst machen zu müssen deshalb.
Offenbar denke und fühle ich, dass Theaterstücke, die heute inszeniert und auch als Aufzeichnungen widergegeben werden, irgendwas mit konkret mir zu tun haben. Für mich geht das auf Theater-Theater wahrnehnmende, konzentrierte Denken und Fühlen als mein privates Denken und Fühlen völlig in Ordnung.
Für Sie offenbar nicht. Und da ist das doch wunderbar, wenn Sie das "bedenklich" finden.
Da kann ich nur ermunternd sagen: Gut so, bedenken Sie das!
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