Warten auf die große Kunstparty

von Sascha Westphal

21. März 2020. So war das nicht geplant. Eigentlich sollte das vom Netzwerk "Cheers for Fears" gemeinsam mit der Dortmunder Akademie für Theater und Digitalität und dem medienwerk.nrw veranstaltete Symposium "Staging Complexity. Ein Labor zu Kunst und Theater im digitalen Zeitalter" in den Räumen des Theaters Dortmund stattfinden. Außerdem sollte es noch von zwei Präsentationen und mehrtätigen Workshops flankiert werden. Doch in Zeiten von Corona und Social Distancing war das alles natürlich keine Option mehr. Die Workshops sind auf den Herbst verschoben, die Präsentationen mussten bedauerlicherweise ausfallen.

Der digitale Raum als riesige Bühne

Allein das Symposium konnte stattfinden, allerdings nur im digitalen Raum. Wären die Umstände andere, könnte man beinahe von einer passenden Fügung sprechen. Schließlich fokussiert dieser notgedrungen erfolgte Umzug in die virtuelle Welt den Blick auf die Fragen nach der "Kunst und dem Theater im digitalen Zeitalter" noch einmal stärker. Es macht eben doch einen gewaltigen Unterschied, ob die Sprecher und ihr Publikum tatsächlich in einem Raum zusammenkommen und ganz direkt interagieren können oder ob alle in ihren Wohnungen und Büros vor einem Monitor und einer Kamera sitzen. In einer Randbemerkung hat eine der Referentinnen, die interdisziplinäre Wissenschaftlerin Anja Breljak, die sich in ihrem Vortrag mit der Bedeutung und Analyse von Affekten im digitalen Kapitalismus beschäftigt hat, auf das Entscheidende hingewiesen.

StagingComplexity 1 560 TheaterDortmund uSet-up für ein Symposium im digitalen Raum © Theater Dortmund

In der Videochat-Situation wird alles zur Inszenierung, die Bilder und Bücher im Hintergrund ebenso wie Gesten und Körperhaltungen der Sprechenden. Das Online-Publikum stellt automatisch, fast schon unbewusst, Bezüge her, analysiert und interpretiert. Diese Mechanismen greifen natürlich auch in einer realen Situation mit einem Podium und einem Publikum vor Ort. Aber die Rahmung durch die digitalen Endgeräte, auf denen man den Vorträgen und Diskussionen folgt, verstärkt diesen Impuls. Sie erzeugen eine Distanzierung und zugleich überhöhen sie jedes noch so kleine Detail. Alles bekommt plötzlich eine immense Bedeutung.

So hat dieses Online-Symposium etwas zum Vorschein gebracht, was in diesem Maße im Theater Dortmund eben nicht zum Tragen gekommen wäre. Es hat den digitalen Raum als riesige Bühne kenntlich gemacht. Im Netz gilt Shakespeares berühmtes Diktum aus "Wie es euch gefällt" noch mehr als im realen Leben: "Die ganze Welt ist eine Bühne und Fraun wie Männer nichts als Spieler." Was das für die Theater und die künstlerische Arbeit auf der Bühne bedeutet, könnte durchaus Thema eines weiteren Symposiums sein.

Beziehungen zwischen Voodoo und dem Internet

Denn das Theater spielte trotz des Titels bei "Staging Complexity" eine eher untergeordnete Rolle. Im Zentrum der Vorträge standen gesellschaftliche und technologische Entwicklungen ebenso wie politische und geschichtliche Prozesse. Dass dabei die aus den 1960er Jahren stammenden Ideen der Kybernetik und die Entwicklungsgeschichte des Internets immer wieder zur Sprache kamen, versteht sich von selbst. Aber jenseits des Bekannten und Offensichtlichen weiteten die Referentinnen und Referenten den Blick auf unser digitales Zeitalter auf ganz unterschiedliche Weise.

StagingComplexity 2 560 Cheers for Fears uScreen time, everyone! © Holger Rogge / Cheers for Fears 

Die bemerkenswertesten Bezüge stellte dabei die in Berlin lebende Diana McCarty in ihrem Vortrag "Be(coming) media – technofeminist past, presents & potentials" her. Ausgehend von der Haitianischen Revolution zog sie eine Linie bis in die Gegenwart und betonte die Beiträge der Frauen zu revolutionären Bewegungen und Ereignissen. Zugleich legte McCarty verborgene Beziehungen zwischen Praktiken und Techniken der Voodoo-Religion und den Grundpfeilern des Internets offen. Gerade diese esoterischen Aspekte des Digitalen verweisen auf eine Komplexität, die geradezu danach verlangt, auf die Bühne gebracht und dort verhandelt zu werden. In diesem Sinn ist es nur konsequent, dass McCarty, wie sie in der anschließenden Diskussion verriet, ihren Vortrag in einen performativen Text verwandeln wird, der dann von Schauspielerinnen und Performerinnen in unterschiedlichen Kontexten vorgetragen werden kann.

Kunst hat das Potenzial für Aufklärung und Protest

Nach Möglichkeiten des Protests und des Aufstands in den Zeiten der globalisierten Gig Economy fragte auch Régine Debatty, Gründerin des Blog We Make Money Not Art, in ihrem Vortrag "Where are the click-luddites?". Während die Maschinenstürmer des 19. Jahrhunderts tatsächlich noch die Maschinen zerstören konnten, die ihr Leben und dessen Bedingungen so nachhaltig verändert hatten, steht dieser Weg den Content-Moderatoren der großen Social Media-Plattformen oder den Menschen, die künstliche Intelligenzen mit den notwendigen Datenmengen versorgen, nicht mehr zur Verfügung. Der digitale Raum lässt sich nicht ohne Weiteres stürmen. Angesichts dieser Einschätzungen bekommt die Kunst eine entscheidende Bedeutung. Sie wird zum Raum der Aufklärung wie des Protests.

Bedauerlich war nur, dass die von Debatty ins Spiel gebrachten Beispiele wie Alexandra Lupashkos Kurzfilm "2050" nicht aus dem Theater stammten. So blieb es Michael Eickhoff, Dramaturgen am Schauspiel Dortmund und Co-Moderator der Veranstaltung, überlassen, auf die vor einigen Jahren am Schauspiel Dortmund entstandene Produktion Nach Manila zu verweisen, die sich auf eine dezidiert theatrale Weise mit dem Leben der Content-Moderatoren beschäftigt hat. Selbst in den Zeiten digitaler Medien und virtueller Konferenzen, die Länder- und Sprachgrenzen wie selbstverständlich transzendieren, bleibt das Theater eben doch im Lokalen verwurzelt. Lupashkos Film kann relativ leicht um die Welt gehen, eine Inszenierung wie "Nach Manila" nicht.

Plattform fürs Sprechen über Theater

Vor diesem Hintergrund erhält ein Symposium wie "Staging Complexity" eine weitere Dimension. Das Theater kann nicht so einfach in den digitalen Raum abwandern. Es verändert sich dabei grundlegend, wie wir im Moment auch durch die Streams auf nachtkritik.de erleben können. Das Sprechen über das Theater findet dagegen im Netz eine vorzügliche Plattform. Davon zeugte auch der Vortrag "Multimediatheater – ganz ohne Medien, ganz ohne Theater" von Philipp Jonathan Ehmann. Der Theatermacher, der am Schauspiel Graz das Theater-Game "Press Staat for Revolution" herausgebracht hat, konnte drei seiner Arbeiten vorstellen und so die komplexen Verbindungen zwischen den performativen Künsten und den digitalen Medien herausarbeiten. Es geht eben nicht nur um den Einsatz technischer Hilfsmittel. Auch ein gänzlich analoges Theater kann von den offenen Dramaturgien einiger Computer- und Online-Spiele lernen.

StagingComplexity 3 560 Cheers for Fears uAvatar in Zeiten physischer Kopräsenz © Holger Rogge / Cheers for Fears 

In unserer Gegenwart des Social Distancing löste gerade Ehmanns Vortrag über Arbeiten wie "Press Staat for Revolution" und "Personal Adventure Automat", bei der eine Stimme aus einem Mobiltelefon eine einzelne Zuschauerin, einen einzelnen Zuschauer auf eine Reise durch den öffentlichen Raum schickt, eine gewisse Nostalgie aus. Natürlich kann auch die Kunst ins Netz abwandern, vor allem wenn sie dazu gezwungen ist. Aber einen entscheidenden Teil ihrer sozialen Funktion verliert sie dadurch. Deswegen ist der Künstler Christian Sievers, dessen Vortrag "Trackedness. Der Traum von Kontrolle, der Umgang mit Unsicherheit – und was die Kunst daraus macht" sich sehr direkt mit den Auswirkungen und der Bedeutung der Pandemie auseinandersetzte, auch davon überzeugt, dass am Ende der gegenwärtigen Maßnahmen eine große Kunstparty stehen wird. Und die wird eben nicht im Netz stattfinden.

 

Staging Complexity
Ein Labor zu Kunst und Theater im digitalen Zeitalter

Mit: Anja Breljak, Régine Debatty, Philipp Jonathan Ehmann, Michael Eickhoff, Diana McCarty, Christian Sievers, Sina-Marie Schneller, Jascha Sommer, Klaas Werner.

www.cheersforfears.de
www.theaterdo.de
theater.digital



Mehr zum Themenkomplex dieses Symposiums finden Sie in den Lexikonartikeln Internet und Theater und Game Theater.

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