Agent der Alltagsvernunft

von Nikolaus Merck

Berlin, 26. September 2008. Und dann rumpelte es hinten an der Tür. Doch erst als das Glucksen des Publikums und das Ächzen eines Mannes nicht mehr zu überhören waren, wandten wir uns um und – hielten die Luft an. Haben Sie schon mal versucht, ein Dreisitzersofa alleine durch den schmalen Gang eines Zuschauerraums auf die Bühne zu wuchten?

Die Erinnerung bewahrt das Bild des Mannes, der eben dies gerade versucht, so plastisch, dass daneben auch die patent-linkische Lotte von Fritzi Haberlandt und Hans Löws Werther mit seinen wuchernden Selbstgefühlen verblassen, die bis dahin eine Dreiviertelstunde lang alleine den Abend bestritten hatten, bevor Albert - "Ich bin hier der Verlobte" - in Reihe fünf, rechts aufgestanden und nach draußen gerannt war, um die orange Couch herein zu asten, und den beiden verdutzten Liebenden einen Platz darauf anzubieten.

Einbruch in den Innerlichkeitskosmos

Vielleicht liegt diese Nachbildschärfe auch am komischen Unterbruch der kostbaren Liebesrhetorik durch schiere physische Präsenz – zuständig jedenfalls für diesen denkwürdigen Kraftakt in Jan Bosses Inszenierung "Die Leiden des jungen Werthers" im Berliner Maxim Gorki Theater war Ronald Kukulies, damals gerade von der Schaubühne am Kurfürstendamm dorthin gewechselt, wo Armin Petras frisch die Leitung übernommen und ein neues Ensemble zusammengestellt hatte. Im "Werther" spielte Kukulies den dritten im Liebesbund, Lottes Verlobten Albert: kräftige Statur, die Augen tief unter vorgewölbtem Stirnblatt, rosa Hemd, Pistole im Bund. Einer, dem man allerhand Gewalttätiges zutrauen würde.

Oder zumindest einer, der im nächsten Augenblick mit dem Charme eines Berliner Hausmeisters in den filigranen Innerlichkeitskosmos von Lotte und Werther einbrechen würde. Doch, siehe da, von einer kleinen Scheinhinrichtung abgesehen, haftete diesem Weltkind in der Sofamitten bei näherem Hinsehen so gar nichts Gewalttätiges oder Rüdes mehr an. Viel mehr zeigte sich der platonisch schon betrogene Verlobte verständigungsbereit und umgänglich, Abteilung: "Blöd gelaufen, was machen wir jetzt?"

Diese Haltung des Pragmatischen ist Ronald Kukulies' Spezialität. Wenn er zum Beispiel in Fritz Katers "Heaven (zu tristan)" als notorisch schildbürgerhafter Robert seine selbstmordsüchtige Jugendkameradin Simone anraunzt: "Das ist hier keine Oper, das ist Dein Leben!", amtiert er als Agent einer Alltagsvernunft, der für die Liebenden und Wahnsinnigen die Welt zusammenhält.

Figuren im Maschinenraum des Lebens

Man könnte auch sagen: Ronald Kukulies spielt hier die Figur, die im Maschinenraum des Lebens rumort, während an Deck die feinen Herrschaften in den Hauptrollen ihren Utopien nachjagen. Alltagsvernunft: auf dem Theater naturgemäß ein nicht sehr glamouröses Fach. In den Augen der auf bloßen Anschein versessenen Regieleute reichen oft schon Kukulies' charakteristische Physiognomie und standfeste Erscheinung hin, ihn für das Fach zu prädestinieren.

1971 in Düsseldorf geboren, wandelte Kukulies abseits des Königswegs seiner Generation, die über Abitur und Schauspielschule meist direkt ans Theater kam. Denn zunächst befolgte er den Rat seiner Eltern, erst einmal "etwas Vernünftiges" zu lernen. Doch floh er bereits kurz nach Abschluß seiner Ausbildung das erlernte Kommunikationstechnikertum. Der Betrieb, der ihn ausgebildet hatte, wurde später geschlossen. Nie, sagt Kukulies heute, werde er vergessen, wie er als Junger damals in der Kantine einem 50jährigen Kollegen gegenüber saß, der sich sicher sein konnte, in seinem Beruf niemals wieder Arbeit zu finden. Soviel zur Vernunft.

Vielleicht ist es gerade diese Erfahrung des Scheiterns von einst, des Kaum-mehr-aushalten-Könnens, die heute das Spiel von Ronald Kukulies grundieren. Das perspektivarme Leben auf Maloche jedenfalls begreift der Ex-Elektroniker inzwischen als unverzichtbare Erfahrung. Vielleicht rührt daher aber auch eine Fähigkeit zum Zweifel.

Das Starke am Schwachsein

In der Berliner Ernst Busch-Schauspielschule führte die ihn allerdings erst einmal an den Rand des Aufgebens. Draußen, auf den Bühnen der Stadt, spielte Henry Hübchen bei Abgott Frank Castorf in "Pension Schöller" den Philipp Klapproth mit geradezu schwindelerregend virtuosem Talent zum komischen Abgrund, im Berliner Ensemble hechelte Martin Wuttke in Heiner Müllers legendärer "Arturo Ui"-Inszenierung den Adolf Hitler, während in Kukulies' Schauspieklasse Nina Hoss und Fritzi Haberlandt gerade ihre ersten Rollenstudien vorführten. Nach einem halben Jahr fragte sich der Neu-Berliner: "Wann fliege ich hier raus?" Eine Schwäche des Selbstbewusstseins, die seinen Figuren auch in der Schaubühne noch anhaftete, wohin er im Jahr 2000 gemeinsam mit Thomas Ostermeier gekommen war, um die Welt, mindestens aber das Theater zu verändern.

"Ich habe Sie im Ensemble gar nicht gesehen", beschrieb eine Kritikerin Kukulies' Unpräsenz in der etwas gesichtslosen Ostermeier-Männertruppe. Trotzdem, am Lehniner Platz lernte der Jungschauspieler das erste Mal "Ich" zu sagen - bei der Sprecherzieherin. Der nämlich gelang es, dem Kräftigen, der sich stets zu schwach fühlte, seine Stärke ins Bewusstsein zu reden. Diese Erfahrung ist inzwischen Fundament eines Schauspielers, der Schwäche nicht versteckt, sondern sie in seine Figuren einschreibt, ach was: einfräst.

Wehr dich doch mal!

Es dauert und dauert bis Staatsrat Karenin in Jan Bosses Version der "Anna Karenina" um die geliebte Frau zu kämpfen beginnt. Lange brütet er im Oberstübchen von Stéphane Laimé Setzkastenbühne auf seinem Bürostuhl –  korrekt sitzender Anzug, korrekt gebürstetes Bärtchen, korrekt geführtes Leben. Man möchte diesem Fleisch gewordenen Aktenordner zurufen: "Nun wehr Dich doch mal!" Das tut er dann auch, erst spaßig, dann höflich und schließlich brachial.

"Höher, Mensch, höher!", ruft Fritzi Haberlandt als Simone in "Heaven" und Robert muss seinen Pfandflaschen-Schatz zur Plastikräuberleiter stapeln, bis sie hoch genug ist, dass die Freundin die Sterne vom Himmel holen kann. Dafür gewährt sie ihm ein intimes Stelldichein, aber schon in der nächsten Szene werden sich die beiden (fast) nicht mehr wieder erkennen. Kukulies gelingt hier das realistische Portrait eines leicht spinnerten, aber gutherzigen Durchschnittmannes.

Kukulies bisherige Paraderolle aber ist der Bürgermeister Kruschkatz in "Horns Ende", einer Armin-Petras-Inszenierung nach dem Roman von Christoph Hein. Das Stück spielt in einem Dorf in Sachsen in den fünfziger Jahren, und Kulkulies gibt den Stalinisten, der seiner Zweifel an der Einrichtung der kommunistischen Welt nicht mehr Herr werden kann. Ein Aktivist, der zugleich zärtlich und treu seine Ehefrau liebt, bis die ihn dann aber für eines seiner politischen Opfer verlässt.

Zwischen Pobacke und Herzkammer

Diesen Mann aus der Vergangenheit spielt der Rheinländer Kukulies in Petras', die politisch-moralischen Dimensionen verzwergender Inszenierung mit einer abgründigen Durchschnittlichkeit so irritierend zwiespältig, dass dem westlichen Zuschauer die allzu behände in Anschlag gebrachten moralischen Kategorien gründlich in Verwirrung geraten. Es gelingt, was Kukulies erklärtermaßen mit seinem Spiel beabsichtigt: im Changieren zwischen Komik und Traurigkeit den Zuschauer im Seelengemüt anzufassen.

Den Wechsel zu Armin Petras (und Jan Bosse) vor zwei Jahren erlebte Ronald Kukulies wie eine künstlerische Befreiung. Endlich durfte der passionierte Pokerspieler seinem Spieltrieb ungehemmt nachgeben. Für das Hintupfungstheater von Armin Petras ist der in gebrochene Charaktere verliebte Schauspieler mit seiner physischen Präsenz ideal. Er umreißt mit kräftigem Strich seine Figur, malt gleichsam schnell einen Ärmel aus, eine Pobacke, vielleicht noch die rechte Herzkammer und ist schon wieder weiter.

Der Schauspieler gibt Kontur, Kanten, an denen Lichter sich brechen können, aber er macht sich nicht breit in den Rollen. Ronald Kukulies hat inzwischen sogar verwunden, dass unsere ins Äußerliche verschossene Epoche und ihre Regisseure ihn wohl nicht mehr als Romeo besetzen werden. Das ist vorbei, doch die Zeit, in der er seine Männer-Kunst voll entfalten wird, hat gerade erst angefangen.


Eine Kurzfassung des Porträts erschien am 25. September 2008 in der Frankfurter Rundschau.

Mehr über Inszenierungen mit Roland Kukulies können Sie in den Nachkritiken lesen: zu Jan Bosses Die Leiden des jungen Werthers 2007 im Berliner Maxim Gorki Theater, zu Jan Bosses Uraufführung von Armin Petras' Bühnenfassung des Romans Anna Karenina im Mai 2008 bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen. lesen Sie Jan Jochymskis Berliner Inszenierung von Einer flog über das Kuckucksnest im Januar 2008, in der Kukulies die Jack-Nicholson-Rolle des Randle McMurphy spielt. Über Armin Petras' Inszenierung Heaven (zu tristan) im September 2007, die auch zum Mülheimer Stücke-Festival eingeladen war. Und über Armin Petras' Theateradaption des Christoph-Hein-Romans Horns Ende, die im März 2006 in Leipzig herausgekommen ist.

 

mehr porträt & reportage

Kommentare  
Porträt Kukulies: schöner Text
Schöner Artikel Herr Merck! Der Bürgermeister in Horns Ende hat mich auch zutiefst beeindruckt.
Kukulies-Porträt: ausführliche Fassung – schön!
Stand nicht in der Frankfurter Rundschau mal eine Rumpfversion von diesem Porträt? Schön, dass es hier noch einmal ausführlich zu lesen ist. Die FR spart ja scheinbar sehr am Feuilleton, wo bald wahrscheinlich nur noch Arno Widmann schreibt. Ach, und die DPA.
Kommentar schreiben