Wir in Schieflage

von Lara-Sophie Milagro

25. März 2020. Als mich Anfang letzter Woche immer mehr Jobabsagen erreichten, die Leute anfingen, sich bei Rossmann Klopapier und Desinfektionsmittel aus der Hand zu reißen, ich erfolglos versuchte, meiner Mutter ihren Frisörbesuch auszureden und wir am vorerst letzten Kita-Tag mit anderen Eltern zusammenstanden und betretene "Und wo geht ihr jetzt in Quarantäne?"-Gespräche führten, begann ich Dinge zu tun, die ich noch vor zwei Wochen für unvorstellbar gehalten hätte: mäßig witzige "5ter Tag Quarantäne"-Videos mit hustenden Hunden an WhatsApp-Kontakte zu verschicken, einem Aufruf zur Meditation für die endgültige Auslöschung des Virus zu folgen, mir die weiße Massai auf DVD anzusehen (aber nur weil unser Internet mal wieder nicht funktionierte!) und mich mit Freunden zu gemeinsamen virtuellen Museumsbesuchen zu verabreden.

Im virtuellen Museum

Bei einem dieser Besuche stieß ich auf den "Refugee Astronaut", eine Skulptur des Künstlers Yinka Shonibare, die seit Ende letzten Jahres in einer Londoner Galerie zu sehen ist: Ein Raumfahrer in Moonboots, Helm und Schutzanzug aus Materialien mit traditionell nigerianischem Muster, ausgerüstet mit Sauerstoffflasche und Beatmungsschläuchen schreitet entschlossen voran. Über der Schulter trägt er ein beutelartiges Netz mit ein paar weltlichen Habseligkeiten, darunter nicht etwa Nahrung, auch kein Handy oder Laptop, nichts Elektronisches oder Digitales.

17 NAC Kolumne Visual Milagro V3Stattdessen altertümlich anmutende Utensilien zur Orientierung und Dokumentation wie ein Kompass, eine Sternenkarte, ein Teleskop, eine Öllampe, eine alte Kamera sowie Bücher mit Titeln wie "Die Suche nach dem vollkommenen Ort", "Captain Cooks Reisen" und "Die letzte Migration". Shonibares Astronaut ist weder als Schwarz noch weiß, noch als Mann, Frau, Queer, straight, arm oder reich identifizierbar. Er ist kein kolonialer Abenteurer, kein Weltraum-Eroberer, sondern jemand, der einfach nur noch weg will von einem Planeten, auf dem man so wie bisher nicht mehr leben kann. Und: Der "Refugee Astronaut" reist allein, ohne Familie, ohne Freunde, ohne andere Menschen. Ein "Wir" gibt es offenbar nicht mehr. Dieses prophetisch anmutende Kunstwerk versinnbildlicht ziemlich genau das Gefühl, das mich derzeit  beschleicht, wenn ich in eineinhalb Metern Abstand zu meinen Mitmenschen einkaufen gehe oder meine Tochter ihren Spielkameraden über Skype zuwinkt: die Erde als orientierungsloser, unbewohnbarer Ort, politisch wie gesellschaftlich, ökologisch wie zwischenmenschlich.

Rettung im Alleingang?

Während Shonibares "Refugee Astronaut" jedwedes "Wir" bereits abhandengekommen ist und Rettung nur noch im Alleingang möglich scheint, erkennt die reale Welt momentan, dass genau dieses "Wir" dringend notwendig ist, um das zu bewältigen, was Angela Merkel angesichts der gegenwärtigen Corona Pandemie als größte Herausforderung des Landes seit dem Zweiten Weltkrieg beschrieben hat. Dabei geht es längst nicht nur darum, den derzeit von Virologen und Medizinern unablässig wiederholten Appellen zur Einhaltung bestimmter Verhaltensregeln zu folgen, womit sich viele Mitbürger*innen bereits schwer taten. "Deutsche Ärzte flehen Menschen an zuhause zu bleiben" titelte etwa der Stern.

Refugee Astronaut 280 Yinka Shonibare u"Refugee Astronaut II" von Yinka Shonibare, 2016, Maße: 210 x 90 x 103 cm, Material: Fibreglass mannequin, Dutch wax printed cotton textile, net, possessions, astronaut helmet, moon boots and steel baseplate © The artist and James Cohan Gallery, New York, Photographer: Stephen WhiteDie quälend lange Social-Media Debatte medizinischer Laien darüber, ob es sich bei den von Experten ausgesprochenen Hygiene-Empfehlungen um lebensnotwendige Sicherheitsvorkehrungen oder doch nur reine Panikmache handelt, offenbarte ein Muster, das man aus dem Umgang mit in Deutschland ebenfalls akut grassierenden ideologischen Pandemien wie Rassismus, Rechtsextremismus oder Klimawandel-Leugnung bereits gut kennt: Der Kampf gegen ein offenkundiges Übel verlagert sich viel zu lange in die Debatte darüber, ob es überhaupt ein Problem gibt und wenn ja, ob davon eine akute Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht – was vor allem von denjenigen in Frage gestellt wird, die nicht in erster Linie davon betroffen sind oder das zumindest annehmen.

Not und Privilegien

Denn genau wie ideologischer Extremismus wird auch die Corona-Krise nicht für alle die gleichen Konsequenzen haben. Alte trifft sie anders als Junge, Hartz IV Empfänger anders als Wohlhabende, freischaffende Schauspieler*innen anders als Ensemblemitglieder, die freie Szene anders als die Staatstheater, Flüchtende anders als deutsche Staatsbürger. So gehört Shonibares "Refugee Astronaut" offenbar zu den Glücklichen, die zumindest eine Sauerstoffflasche ergattern konnten. Sagt uns das vielleicht doch etwas über seine Herkunft, Hautfarbe, Geldbörse, sein Geschlecht, sein Anstellungsverhältnis? Oder ist er einem apokalyptischen Szenario entflohen, in dem diese Kategorien überhaupt keine Rolle mehr spielten? Hatte er am Ende gar kein Glück, sondern vor allem Privilegien? Abstandhalten zum Beispiel, ist ein Privileg, das 5000 Flüchtende, gegen deren Aufnahme der Bundestag Anfang des Monats entschied, sicherlich nicht haben.

Spätestens jetzt zeigt sich, dass es angesichts einer Krise diesen Ausmaßes nicht nur ratsam ist genügend Klopapier, sondern auch eine Definition von Solidarität, von "Wir" – in der Politik, in der Gesellschaft, in der Kunst – parat zu haben, die nicht nur alle in diesem Land lebenden Menschen miteinbezieht, sondern auch die Menschheit an sich meint. Was ist das gegenwärtig viel beschworene "Wir" wert, wenn damit ganz offensichtlich nicht die Menschen gemeint sind, die momentan in den Camps auf Lesbos auf eine humanitäre und medizinische Katastrophe zusteuern? "Dass wir es nicht schaffen, diese Menschen aus der humanitären Krise zu evakuieren, ist beschämend", postete der Grünen Politiker und Europa-Abgeordnete Erik Marquardt auf Facebook, "besonders in Zeiten von Corona müssen die Menschen in andere hygienische Situationen gebracht werden."

Wie soll unsere Gesellschaft aussehen?

Natürlich erleben wir gerade auch großartige und bewundernswerte Beispiele zwischenmenschlicher Hilfsbereitschaft und Unterstützung, bis hin zur Selbstaufopferung von Pflegepersonal und Ärzten. Der Nachbarin Essen vor die Tür zu stellen, online Gedichte vorzutragen und bis zur totalen Erschöpfung arbeitendem Krankenhauspersonal Beifall zu klatschen, ist richtig und wichtig. Aber es reicht nicht aus, wenn die Strukturen in den politischen, medizinischen, künstlerischen Institutionen während und vor allem nach Corona im Grundsatz dieselben bleiben würden.

Was nützt ein Rettungsschirm für das Gesundheitswesen, wenn Menschen in Pflegeberufen weiterhin hoffnungslos unterbezahlt sind? Was ein vorübergehend Kindergeldzuschlag, wenn viele Familien nach wie vor knapp oberhalb der Armutsgrenze leben? Was ein lobenswertes Soforthilfeprogramm für selbstständige Künstler*inne, wenn etliche von ihnen post Corona wieder für Auftrittspauschalen von 200 Euro Brutto oder weniger durch die Republik tingeln und somit auch in der nächsten Krise keinerlei Rücklagen haben werden, auf die sie zurückgreifen können?

Und warum sich über Hamsterkäufe wundern, darüber, dass die alte Dame vom Nudelregal weggeschupst wird oder sich asiatisch aussehende Mitbürger*innen vermehrt rassistischen Beleidigungen ausgesetzt sehen, wenn das alles Auswüchse gesellschaftlich-ideologischer Phänomene sind, die wir schon vor der Pandemie nicht im Griff hatten? Warum echauffieren wir uns so sehr darüber, dass Trump mit Dollarnoten wedelt, um sich in Deutschland entwickelte Impfstoffe für sein Land zu reservieren? Würde die Bundesregierung andersherum nicht dasselbe versuchen, und würde der Großteil der Bevölkerung das nicht auch von ihr erwarten, auch wenn andere Länder leer ausgehen?  

Die Kunst, das Theater könnte während und nach dieser gewaltigen Krise eine große, weil visionäre und identitätsstiftende Rolle spielen: Worin bestand das "Wir" vor Corona, wer genau ist momentan gemeint, wenn "wir" jetzt alle zusammenhalten müssen und vor allem: Wer wird "Wir" sein, wenn die Krise vorbei ist? Werden "wir" als Gesellschaft, als Kunst- und Kulturschaffende diesen historischen Moment nutzen, um strukturelle Schieflagen und ausgrenzende Wir-Definitionen endlich grundsätzlich in Frage zu stellen oder gar abzuschaffen? Es wäre spannend und wichtig diese und andere Fragen zu diskutieren, und nicht nur Inszenierungen aus dem vorletzten Jahr in den jetzt aus dem Boden schießenden Online-Ersatzprogrammen abzuspielen.

 

Lara-Sophie Milagro ist Schauspielerin, in der Leitung des Künstler*innen Kollektivs Label Noir, Berlinerin in der fünften Generation und fühlt sich immer da heimisch, wo Heimat offen ist: wo sie singt und lacht, wo sie träumt und spielt.


In ihrer letzten Kolumne schrieb Lara-Sophie Milagro über diverse Gruppenbilder der Vorauswahlkommission Spielfilm Deutscher Filmpreis.

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