Kunst, die aus Karenz entsteht

Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg im Interview mit Elena Philipp

3. April 2020. Live-Präsenz ist im Theater derzeit strengstens untersagt, dafür wird verstärkt telekommuniziert. Woran arbeitet ein geschlossenes Theater, wenn die üblichen Arbeitsweisen unterbrochen sind und vorerst alles brach liegt? Davon berichten Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg, die Intendanten des Schauspielhaus Zürich, im Zoom-Gespräch.

Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg, wie geht’s Ihnen?

BlombergStemann 280 GinaFolly uDie Züricher Intendanten: Benjamin von Blomberg, Nikolas Stemann © Gina FollyNicolas Stemann: Wir haben gerade viel Arbeit und es erfordert Koordination, Home Office und Home Parenting miteinander zu verbinden. Langsam werden wir ein bisschen ungeduldig, weil überhaupt nicht absehbar ist, wie lange der Shutdown andauern wird. Eine Zeitlang kann man mit einem gewissen sportlichen Ehrgeiz auf alles reagieren. Die Frage ist: Wie lange hält man das durch? Das ist die Hauptsorge.

In Zürich sind die Theater nach derzeitigem Stand bis mindestens 30. April geschlossen. Gibt es eine Perspektive?

Nicolas Stemann: Bislang wissen wir nichts. Da will sich im Moment niemand festlegen.

Benjamin von Blomberg: Ich glaube für die Psyche des Menschen wäre es gar nicht verkraftbar, wenn es jetzt hieße: Im Übrigen, stellt Euch darauf ein, bis Ende des Jahres bleibt es genauso wie es ist. Dann springen alle vom Balkon. Und da hilft die Salamitaktik. Einfach so tun, als könnte sich wirklich etwas geändert haben bis Ende April – wovon insgeheim aber niemand ausgeht.

Nicolas Stemann: Wir stellen uns zunehmend auf worst cases ein. Dennoch mögen wir uns gerade nichts Schlimmeres vorstellen, als dass wir bis zum Sommer zumachen. Wir versuchen konkret als Szenario zu planen, dass wir erst zum Spielzeitbeginn 2020/21 wieder spielen können. Käme dann die Ansage, dass auch das nicht geht, wäre das ein tief sitzender Schock.

Das Schauspielhaus Zürich musste am 13. März schließen. Was passiert mit Christoph Marthalers Das Weinen (Das Wähnen) und Frühlings Erwachen von Suna Gürler, die am 14. März bzw. 6. April hätten herauskommen sollen?

Nicolas Stemann: Unsere Philosophie ist das nachhaltige Arbeiten. Wir wollen Theaterproduktionen länger verwerten, als das normalerweise an Stadttheatern passiert. Dementsprechend wäre es widersinnig, wenn wir sagen würden: Alles, was wir nicht zeigen konnten, schmeißen wir weg, um Platz für Neues zu machen. Unsere Hausregisseurinnen und -regisseure haben feste Verträge bei uns und entsprechend nur wenige Verabredung woanders. Das gibt uns die Möglichkeit, zu schieben – wir können unsere Eröffnung für 2020/21, die fertig war, auf eine Zeit verlegen, die noch nicht verplant ist, und dafür problemlos andere Sachen ansetzen, bis in die übernächste Saison hinein.

Benjamin von Blomberg: An einem normalen Stadttheater hätten wir vier bis fünf Produktionen in der Mache, die nicht herauskommen und bei denen es den Wunsch geben würde, sie in die nächste Spielzeit zu übernehmen. Die wäre aber schon komplett verplant, mit Verabredungen mit andern Regisseur*innen. Und irgendjemand muss dann über die Klinge springen.

18 DasWeinen 560 GinaFolly uChristoph Marthalers "Das Weinen": Susanne-Marie Wrage, Olivia Grigolli und Magne Håvard Brekke in der leergeräumten Apotheke © Gina Folly

Nicolas Stemann: Außerdem müssen wir gar keinen Corona-Spielplan entwickeln, à la "Die Pest" und "Decamerone". Bei uns fallen die Entwürfe zu Arbeiten, die zu kuratieren man sich gar nicht trauen würde, weil sie einem jetzt korrupt vorkämen, in eine Zeit vor Corona. "Das Weinen (Das Wähnen)" wirkt thematisch wie das Stück zur Stunde – ein Marthaler, der in einer Apotheke spielt. Am Ende wird ein "Lacrimosa" gesungen und Magne Havard Bräkke trägt ein Pharmaziekreuz über die Bühne, während mit leeren Medikamentenschachteln geworfen wird. "Frühlings Erwachen" sollte damit beginnen, dass Benjamin oder ich vor den Vorhang treten und sagen, dass das Stück abgesagt ist, und dann wird diskutiert warum.

Benjamin von Blomberg: Die ursprünglich für Ende April geplante Inszenierung von Yana Ross heißt "Mein Jahr der Ruhe und Entspannung". Die Protagonistin des Romans von Ottessa Moshfegh geht für ein Jahr in freiwillige Quarantäne, weil sie mal wieder ausschlafen möchte, um auf Null zu kommen und die Welt danach anders betrachten zu können.

Apropos freiwillige Quarantäne: Andere Häuser haben rasch begonnen, ihre Inszenierungen zu streamen oder sie haben Online-Programme aufgelegt. Aus Ihrem Haus kommen erst dieser Tage die ersten Schließzeit-Formate. Nicolas Stemann, Sie schrieben in einem Zeitungsbeitrag, dass Sie das Streamen von Vorstellungsmitschnitten kritisch sehen.

Benjamin von Blomberg: Wir hatten uns eine zweiwöchige Karenzzeit verordnet: zwei Wochen keinen Output. Ich bin extrem froh, dass wir nicht sofort mit etwas aufgewartet sind. Ich hatte das Gefühl, dass ein richtiger Druck entstanden ist auf die Theater, sofort zu reagieren – nicht von der Weltöffentlichkeit, die hatte sicher anderes zu tun, aber von der Theateröffentlichkeit. Und dann wurde Zeugs rausgehauen, überall rauscht es. In Wirklichkeit aber wurde etwas übersprungen. Künstler*innen sind auch Menschen, und sie waren mit der Situation genauso überfordert wie alle anderen. Zudem – Kunst braucht Zeit. Eben für Fragen wie: Was bedeutet es für eine Kunstform, die so sehr vom Moment der leiblichen Ko-Präsenz und dem Live-Moment zwischen Menschen ausgeht, wenn die Orte der Austragung dafür zusperren und sich stattdessen alles online und virtuell ereignen soll? Dafür braucht es in jedem Fall spezifische Formen. Persönlich kann ich dazu sagen, dass ich immer noch damit beschäftigt bin, zu verstehen, was das alles gerade heißt. Und wie ich darin einen guten und verlässlichen Job innerhalb einer großen Institution mit verunsicherten und abhängigen Mitarbeiter*innen mache. Künstler*innen wie Nicolas wiederum konnten diese Zeit tatsächlich nutzen – nach einer ersten Phase des persönlichen Geschocktseins und des Ankommens in der neuen Situation.

Nicolas Stemann: Ich habe mit dem Onlinestellen von Vorstellungsmitschnitten kein fundamentales Problem, und ich finde, das Streamen schließt nicht aus, daneben auch noch auf andere Gedanken zu kommen. Aber der Tenor bei uns im Kreis der Hausregisseur*innen war, wir brauchen erstmal Zeit, müssen einen Schritt zurückzutreten, müssen das verstehen, uns klären und adäquate künstlerische Antworten finden. Und Entscheidungen fällen wir am Schauspielhaus kollektiv. Ich persönlich möchte lieber riskieren, Fehler zu machen, wie vielleicht das Onlinestellen von Vorstellungsmitschnitten einer gewesen wäre, um rauszukriegen, wie man mit so einer Situation überhaupt umgehen soll.

Was sind die Herausforderungen beim Umstieg auf ein anderes Medium?

Nicolas Stemann: Ich merke, ich muss meine inneren Ästhetikschwellen senken, um mir ein neues Medium anzueignen – auch wenn Menschen in meinem Alter nicht erst seit gestern mit dem Internet umgehen. Aber natürlich ist unser Medium normalerweise ein anderes, es hat mit leiblicher Kopräsenz zu tun. Der Prozess, aus dem Quarantäne-Home-Office heraus proben, performen, vielleicht improvisieren zu können, beginnt gerade erst. Improvisieren über Zoom ist schwer, weil man sich auf einmal nicht mehr hört. Da braucht man andere technische Tools. Das wird ein Prozess von Trial and Error sein.

Ende März haben Sie Ihren Zürcher Versuch gestartet. Wie bespielen Sie die jetzt online gegangene Plattform "Zuhauspielhaus"?

Benjamin von Blomberg: Natürlich wollen alle den Mitschnitt von Marthalers jetzt schon legendärer Inszenierung "Das Weinen (Das Wähnen)" sehen, weil sie spüren, was für eine Metapher die Apotheke ist. Aber wir dachten uns, wir vergrößern das Geheimnis und haben fünf Menschen aus der Marthaler-Generalprobe gefragt, zu erzählen, welchen Abend sie gesehen haben. Diese fünf unterschiedlichen Sichten auf die Inszenierung erscheinen in unserem Journal, das wie eine Metaoberfläche funktioniert. Wir haben überlegt, wie man das Gespräch anregt rund um Arbeiten, die unterbrochen wurden, mit Formaten, die zwischen Podcast, Blog, Text und Video oszillieren.

Nicolas Stemann: Ich habe verschiedene Impulse. Ich beginne jetzt mit den Corona Passionsspielen, die als Online-Work-in-Progress starten. Im Mittelalter war Theater eine adäquate Antwort auf Seuchen. Die Oberammergauer Passionsspiele waren ein Schwur, wenn die Pest vorbei ist, werden wir richtig tolles Theater machen. Implizit machen wir alle derzeit diesen Schwur, und ich möchte spielerisch anfangen, daraus etwas zu machen. Die "Corona Passionsspiele" werden ein Work-in-Progress aus Texten, Liedern, Skizzen, das wir in Videoclip-Folgen veröffentlichen. Nach und nach machen immer mehr Leute aus dem Ensemble mit sowie befreundete Künstler*innen. Es beginnt im Home Office und verbreitet sich dann in die Welt. Interessant fände ich auch "Corona, das Musical": in Echtzeit zu gucken, was ist der Unterhaltungswert der Situation, welche Teile davon eignen sich für Satire?

SchauspielhausZuerich Team 560 GinaFolly uDie Intendanten und ihr Team aus Hausregisseur*innen: Leonie Böhm, Wu Tsang, Benjamin von Blomberg, Nicolas Stemann, Alexander Giesche, Christopher Rüping, Yana Ross; vorne: Trajal Harrell, Suna Gürler © Gina Folly

Benjamin von Blomberg: Manche unserer acht Hausregisseur*innen sagen radikal: Das Internet ist nicht mein Medium – ich warte darauf, dass es wieder losgeht, und dann wird meine Kunst angereichert sein von der Pause, die ich gerade hatte. Mentalitäten wie Nicolas sagen: Ist doch super, ich habe mich immer schon bereichern lassen, und wenn mir jemand ein Spielzeug in die Hand gibt, benutze ich es. Christopher Rüping hat konkret ein Interesse daran, Formate für den Live-Stream zu entwickeln: dass Darsteller*innen für die Kamera performen und der Regisseur parallel Dinge kommentieren, kontextualisieren und adressieren kann. Da prüfen wir gerade die technischen Möglichkeiten.

Nicolas Stemann: Zumal wir immer, zwar mit dem herkömmlichen Theater im Zentrum, an einem erweiterten Theaterbegriff gearbeitet haben. Eines unserer nächsten Projekte, geplant lange vor Corona, ist die Bepflanzung des Innenhofs im Schiffsbau, dem Atrium. Das war uns ein wichtiges Bild, um zu zeigen, welche Prozesse stattfinden und dass sie Zeit brauchen. Ursprünglich wäre am 7. Mai die Premiere gewesen. Wir starten das jetzt vom Home Office aus. Alle Mitarbeiter*innen sind aufgefordert, zuhause etwas anzupflanzen: im Garten, auf der Fensterbank, auf dem Schreibtisch. Sobald wir wieder spielen dürfen, wird es die Premiere des Gartens im Atrium geben. Alle Pflänzchen, die im Home Office angefangen haben zu wachsen, werden zusammengetragen.

Auf dem Brachland wächst neues Grün… Das Tempo ist zwar reduziert, aber bei aller Skepsis gegenüber der schnellen Reaktion gibt es auch am Schauspielhaus Zürich keinen Stillstand, keine Auszeit?

Nicolas Stemann: Die Ideen kommen notgedrungen. Sie kommen einerseits daher, dass sehr viele Menschen den Wunsch nach Ausdruck haben und den Eindruck haben, dass es sinnvoll ist, die Dinge, die passieren, künstlerisch zu verarbeiten und darüber zu Erkenntnissen kommen. Auf der anderen Seite steht der Apparat, den man normalerweise hat, nicht zur Verfügung. Es gibt Vieles, was brach liegt, das ist schmerzhaft, auch für mich als Intendant. Wir haben 350 Mitarbeiter*innen. Einige arbeiten auf Hochtouren. Andere können nicht arbeiten, wie das Schauspielensemble. Das ist für sie bitter, für sie und für mich als Regisseur. Die Verantwortung, diese Dinge zu nutzen, mischt sich mit dem Wunsch nach künstlerischem Ausdruck.

Benjamin von Blomberg: Die Unterbrechung trägt ja auch unglaubliches Potenzial in sich. Wir sind alle herausgerissen aus etwas, und das bedeutet, dass es ein Danach geben wird. Dafür eine Sprache zu finden, interessiert uns sehr. Wir kuratieren gerade ein kleines Diskursformat, in dem sich die Dramaturgie mit Menschen aus anderen Disziplinen wie Philosophie, Wirtschaft, Religion unterhält, um spekulatives Wissen für die Zeit nach Corona zu generieren.

Nicolas Stemann: Zumal die Situation noch in jede Richtung kippen kann. Einerseits werden die Leute höflicher, umsichtiger. Die Situation könnte aber andererseits auch in einen neuen Faschismus münden. Wenn man sich die vergangenen 2.000 Jahre Menschheitsgeschichte anschaut, neigt man eher zu Letzterem. Aber noch können wir dagegenhalten.

Benjamin von Blomberg: Daher ist es so richtig, dass der Job der Intendanz und der Leitung auch in den Händen von Künstler*innen liegt: um gerade jetzt nicht nur mit dem Thema Kurzarbeit beschäftigt zu sein, sondern dafür etwas zu tun, dass die Energie des Ausprobierens nicht nachlässt, dass man nicht ängstlich wird. Alles unter Kontrolle zu halten, was künstlerische Leitungen oft versuchen, ist nie eine gute Idee. Wir haben das schnell abgegeben, es muss nicht alles durch unsere Köpfe. Wir haben acht Hausregisseur*innen, inklusive Nicolas, die sollen auch weiterhin die Gestaltungshoheit am Haus mit übernehmen. Alle müssen darauf Acht geben, dass Wildwuchs und das Experiment sich weiter ereignen kann.

Der Shutdown als Chance fürs Theater?

Benjamin von Blomberg: Theaterinstitutionen waren oft in der Defensive und unter Legitimationsdruck: Sind wir noch eine adäquate Kunstform für die Gegenwart? Aber jetzt gerade merkt man doch, wie unfassbar die Menschen leiden, wenn sie sich nicht begegnen und gemeinsam über sich reflektieren dürfen. Das ist wirklich nicht zum Aushalten! Auch jetzt gerade mit unserem Video-Gespräch: Es ist etwas komplett anderes, wenn ich mit Nicolas zusammen in einem Raum bin. Wir wären noch viel besser, zusammen, weil wir einander spüren würden, weil wir uns ergänzen, weil wir den anderen gut kennen, weil wir mitbekommen, wenn der andere unsicher ist, sich verläuft. Wir spüren gerade nichts. Drei Viertel unseres Körpers kommen nicht zum Einsatz. Ich glaube, dass wir uns unfassbar nach Theater sehnen werden, mit jedem Tag, den wir nicht ins Theater gehen können, mehr – das wird vitalisierend sein. Das stärkste Plädoyer für Theater ist, was gerade passiert.

 

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