Ewige Mechanik der Orgasmuserzwingung

von Ralph Gambihler

Halle, 27. September 2008. Wie viel feuilletonistischer Gehirnschmalz troff über diesem Roman? Über seine unerhört unverblümte und beim Publikum unerhört erfolgreiche Heldin Helen Memel? Es wird nicht wenig gewesen sein, genug jedenfalls, um das Feuilleton erneut zu versammeln, da nun die 18-jährige Protagonistin aus den Seiten des Buches herausgestiegen und erstmals ins Rampenlicht getreten ist.

Der Vorgang an sich ist nicht spannender als jede andere erstmalige Adaption eines Bestsellers. Andererseits gibt es kaum eine Figur, die so viel rabiate Körperlichkeit in sich vereint wie diese breitbeinig durchs Leben flutschende Helen. Die Annahme, der Bühnentest könne vielleicht doch noch weiteren Aufschluss geben über Sinn und Unsinn von Charlotte Roches "lebendem Muschihygiene-Selbstexperiment" scheint also auch nicht ganz verkehrt zu sein.

Wie Embryos in Nierenbadewannen

Und nun? Was kann, was soll man sagen nach der Uraufführung? Ist man jetzt schlauer? Christina Friedrich, die mit der Ex-Viva-Moderatorin befreundete Regisseurin, hat sich am neuen theater in Halle durchaus elegant verweigert. Sie hat den Text zunächst einem heftigen Säurebad unterzogen, dann einige Reste herausgenommen und neu arrangiert. Zur Aufführung kam also nicht der Roman mit seiner Handlung, seinem Figurentableau und seinem Unterleibsgeplauder, sondern eine entschiedene Lesart von alledem, und die hat nur bedingt etwas mit dem "Blut-Sex-und-Samen-Reißer" ("Berliner Zeitung") zu tun, von dem Charlotte Roche mittlerweile mehr als eine Millionen Exemplare unters Volk gebracht hat.

Das Auffälligste an der Inszenierung ist der Versuch, die Vorlage zu psychologisieren. In der ersten Szene liegen die sieben mit Unterwäsche bekleideten Darsteller eingerollt wie Embryos in Nierenbadewannen, die im Bühnenboden der Werft (so heißt in Halle die kleine Bühne) eingelassen sind. Ihr kollektives Aufspringen markiert den unsanften Fall in ein alles in allem unsanftes Leben. Thema: wir und unser gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper.

Die Höllen der Claudia-Schiffer-Welt

Gezeigt wird nun ein bildkräftiger Szenenreigen, in dem Beklemmungen, Neurosen und Zwangshandlungen wiederkehren wie Busse an Busbahnhöfen. Körper winden sich, zittern sehr, erleiden Schmerzen oder Attacken von wilder sexueller Stimulation. Irgendwo zwischen der selbstgeißelungsseligen Körperfeindlichkeit der Kirche, den Höllen der Claudia-Schiffer-Welt mit ihrem Diktat zur Inszenierung von Schönheit und Erotik und dem Entgrenzungsfuror eines Marquis de Sade zeigt Christina Friedrich die nachhaltige Entfremdung von Geist, Körper und Seele. Umgeben ist das Ganze von einem hell und duftig wirkenden Bühnenraum, der die Darsteller mit freundlicher Ringelblumen-Hygiene umzingelt.

Wir sehen: das Leid der misslingenden Impulskontrolle, die zwanghafte Gier nach Penetration und Aufessen, die ewige Mechanik der Orgasmuserzwingung, die plötzliche Hysterie des Schön-sein-Wollens. Dergleichen wird anderthalb Stunden lang szenisch durchgewalkt und durchchoreographiert, mal tragisch, mal komisch, mal absurd, jedenfalls ästhetisch prägnant und mit famos aufspielenden Schauspielstudenten. Die einzig erkennbaren Umrisse einer Rolle – Helen! – füllt die zierliche österreichische Hauptdarstellerin Ines Schiller mit abgeklärter Weiblichkeit. Im Hintergrund geistert ein Familiendrama herum, eine schattenhafte und suizidale Geschichte mit Gasherd. Sigmund Freud und Elfriede Jelinek wären wohl einverstanden. Feldbusch und Bohlen gibt's woanders.

Porno wider die Oberflächlichkeit

Man hat viel über das Frauenbild bei Charlotte Roche (die am Premierenabend nicht da war) geschrieben. Und über den vorhandenen oder eben gerade nicht vorhandenen emanzipatorischen Wert ihres Romans. Während die einen den Kopf schüttelten über so viel pseudoprovokatorische Ekelprosa und pseudokokettes Bekennertum, sahen die anderen eine neue Form der Befreiung. Wieder andere lobten eine Parodie oder erkannten schlicht einen Porno wider die Oberflächlichkeit.

Offenbar lässt sich allerhand hineinprojizieren in dieses Buch. Christina Friedrich neigt, kaum überraschend, einer tendenziell emanzipatorischen Deutung zu, obwohl sie letztlich doch einen eigenen Weg gefunden hat. Ihr Abend ist originell und merkwürdig genug, um einschlägige Erwartungen – sowohl frauenbewegter als auch brachialschlüpfriger Art – zu unterlaufen. Banal ist er jedenfalls nicht.

 

Feuchtgebiete
nach dem Roman von Charlotte Roche (UA)
Regie: Christina Friedrich, Bühne und Kostüme: Christina Friedrich, Oliver Menzel, Susanne Uh, Video: Alois Reinhard, Musik: Nils Urban Östlund, Jacob v. Suske.
Mit: Benjamin Berger, Lisa Bitter, Matthias Faust, Bastian Reiber, Stefanie Rösner, Benjamin Schaup, Ines Schiller.

www.kulturinsel-halle.de


Mehr über Inszenierungen von Christina Friedrich lesen sie hier, nämlich ihre Adaption von David Finchers Filmstoff Fight Club im Dezember 2007 in Halle. Hier geht es zur Nachtkritik ihrer Shakespeareinszenierung Der Sturm im Oktober 2007 in Luzern.

 

Kritikenrundschau

Irene Bazinger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (29.9.2008) hält Regisseurin Christina Friedrich durchaus zugute, "dass sie es auf keinen Skandal anlegte". Das machte die Angelegenheit für sie aber nicht besser, denn was gezeigt würde, erschließe sich nicht, und wie es gezeigt werde, sei "betulich assoziierend": "So kalkuliert auf sinnlich–sittliche Entgrenzung spekulierend das Buch, so ästhetisch–theatralisch begrenzt seine erste Dramatisierung." Teiggeknete, Fettcremegeschmiere und etwas Tabledance – "Auf diese Art lässt sich zu Themen wie Geschlechterkampf, Schönheitswahn, Rollenbilder eben auch – nichts sagen." Die Roman-Protagonistin Helen Memel werde in Opferposen gezeigt, "anstößige" Zitate aus dem Buch würden kaum verständlich durcheinandergesprochen. Mehr als um die im Buch "ausgiebig thematisierte Anti-Sexualhygiene" ginge es um die "Psychohygiene der Darsteller". Alles in allem eine Veranstaltung, die den "guten Ruf" eines Theaters "nachhaltig gefährden" könne.

Cosima Lutz
, die sich für Die Welt (29.9.2008) nach Halle und im Zusammenhang der Dinge damit an den "Arsch der Welt" begeben hat, wundert sich keinesfalls über Christina Friedrichs Vertheaterung von Roches "Feuchtgebieten". Im Gegenteil schmeiße sich "der Text einer Dramatisierung fast schon an den Hals: Helen Memels Introspektionen im Krankenhausbett sind nichts anderes als ein radikales Kammerspiel." Leider habe sich die Regisseurin Friedrich "hysterisieren lassen". Denn die Schauspieler würden mit "makellosen Körpern das Perfekte, Disziplinierte und Glatte vorführen, das Roche ja aushebelt" und "dem Text das Maul stopfen, weil sie zum fleißigen Textcollage-Hersagen angehalten sind". Dass alles "im Modus des Außer-Sich-Seins" gesprochen würde, sei ein "Grundirrtum". Denn Helen Memel führe im Buch durchaus "akkurate Operationen an sich selbst" aus, "Analysen, mit denen sie sich mit der Welt mischt, um eben nicht verrückt, verzappelt und verfügbar zu sein."

In der Mitteldeutschen Zeitung (29.9.2008) zeigt sich Andreas Hillger nicht unzufrieden mit dem Abend. Bei Christina Friedrichs "szenischen Übersetzungen" der Buchthemen in Bühnenhandlung entstünde durchaus "Komik". "Traurige Kontrapunkte" setzten die Arrangements "nach Art einer therapeutischen Familienaufstellung", mit denen auf Helen Memels biografischen Hintergrund als Kind getrennter Eltern verwiesen würde. Allerdings seien diese Details nur jenen zugänglich, die den Roman gelesen hätten. Teils würde mit der "unbekümmerten Spielfreude eines Kindergeburtstags" agiert, teils "erschütternd intim". Von allen Darstellern verlange der Abend "den Mut zur Hässlichkeit und zur Selbstentblößung, die nichts mit äußerer Nacktheit zu tun hat". Der Auftritt im Siebenerkollektiv allerdings mindere "die Peinlichkeit" und hebele den Voyeurismus aus, verwische aber auch "die innere Eskalation bei äußerer Stagnation". Es bleibe "bei jugendlicher Gärung".

Katrin Greiner
von der Chemnitzer Freien Presse (29.9.2008) berichtet von einem "begeisterten Publikum" und "minutenlangem Applaus" am Ende. Sie selbst findet die Inszenierung auch sehr gut. Im Zentrum stünde "der Schmerz". "Körperlicher Schmerz, zugefügt durch Autoaggressionen, durch Operationen, durch Menschen. Seelischer Schmerz, herausgekitzelt durch inszenierte Familienaufstellungen à la Hellinger – (...) Schmerz, der sich aufstaut und letztlich zu explodieren droht." Auf der Bühne entlade sich all das "immer wieder in einer überwältigenden Lust und Körperfreude". "Genüsslich und respektlos schleudern die jungen Schauspieler die mit (falscher) Scham belegten Bezeichnungen für Körperteile und sexuell geladene Begriffe in den Raum und nehmen ihnen so jede Bedrohlichkeit und jeden Anflug von aufoktroyiertem Schmutz. Das ist es, was junges, mutiges Theater zu leisten vermag: verkrustete Diskursstrukturen aufzubrechen und aktuellen Diskussionen den Spiegel vorzuhalten."

Auch stern.de ist diesmal mit von der Partie. Lars Radau schreibt (29.9.2008): "... eine der wenigen explizit erotischen Textstellen, die nicht im bewusst harmlosen Smalltalk-Ton oder von der ganzen Gruppe munter durcheinandergesprochen serviert werden", verliere durch den österreichischen Akzent der Hauptdarstellerin "etwas an Wirkung." Immerhin räkele sich dabei der Mann am Boden mit nacktem Po. "Ansonsten" würden "in all der Matscherei" erotische Phantasien "lieber metaphorisiert". Das sei "nicht immer originell" und ergebe keinen rechten Zusammenhang. "Etwas ratlos" schauten deshalb "über weite Strecken" auch "die Gesichter des überwiegend jungen Publikums". Dass es während der gesamten Aufführung nur einen "Lacher" gegeben hätte und "die Aufführung den immerhin 130 Zuschauern kleinen Saal des Neuen Theaters so fast gar keine Reaktion entlockte, spricht für sich." Für Begeisterung müsse "ganz offensichtlich mehr geboten werden".

In der taz (30.9.2008) berichtet Kirsten Riesselmann eher allgemein als theaterkritisch. Die "noch relativ unbekannte Regisseurin" Christina Friedrich (die seit etwa 15 Jahren inszeniert, Anm. d. Red.) hätte Roche zwar richtig gelesen, aber falsch gewichtet. Die "ungebremste körperliche Untersuchungslust" würde durch einen Kompensationsansatz ("Problemjugendliche kanalisiert ihre Harmoniesehnsucht irgendwie falsch.") irrigerweise wegerklärt. "In Halle also gibt es eine wiewohl sympathisch und beherzt gespielte Introspektion in die Seele eines verzweifelten, verkorksten, nah am Wasser gebauten Mädchens zu sehen, amtlich dekoriert mit den Rocheschen Motiven: Krankenhauslaken, Zimmerkreuz, Avocadokerne. Und, ja, auch mit ein bisschen Kunstblut, Milchsperma, ein, zwei Händen in der Unterhose und einem ganzen nackten Männerpopo. Aber alles zahm durchkunstet – und eben viel zu dramatisch."

Für die Süddeutsche Zeitung (30.9.2008) war Annabel Dillig in der Premiere. Auch sie findet, dass Christina Friedrich die Romanfigur Helen Memel zu ernst nimmt und wirft ihr "neue Zusammenhänge und Tiefgang" vor. Die "Metaebene von Roches Text, das Anprangern eines fehlgeleiteten Körperverständnisses", werde durch Songs oder entsprechende Chorpassagen zu aufdringlich in die Szenencollage hineinmontiert. Die Bühnenfassung sei "klüger als ihre Vorlage", schreibt Dillig und schließt rätselhaft: "Aber was heißt das schon? Man möchte sich ein Feuchtgebiet für das Theater wünschen, wo sich eigene Ideen vermehren wie Helens Bakterien auf dem Krankenhausflur. Ein Biotop schlauer, schmutzig-schöner Stoffe, nur fürs Theater."

 

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