Das Theater und sein digitales Double

12. April 2020. Das Streaming von Theatervorstellungen ist umstritten. Dabei kann es Kanäle öffnen, die der Bühnenwelt bis dato verschlossen waren.

Von Christian Rakow

12. April 2020. Kennen Sie den Moment, wenn es auf Partys gesellig wird und ein spontanes Stegreifspiel anhebt: "Hasta la vista, Baby" brummt jemand mit kernig österreichischem Englisch. Und alle posaunen blitzschnell raus, woher das Filmzitat stammt. Oder "Ich habe Dinge gesehen, die Ihr Menschen niemals glauben würdet, brennende Schiffe, draußen vor der Schulter des Orion…". Na, Sie wissen, wie solche Ratespiele ablaufen. Es ist ein Turnen in den Schatzkammern unseres populärkulturellen Wissens. Man zeigt sich gegenseitig Vorlieben, man teilt, man performt ein wenig. Ich habe mir immer vorgestellt, wie wunderbar es wäre, wenn es in solcher Runde auch einfach heißen könnte: "Wenn wir Schatten Euch missfielen, denkt zum Trost von diesen Spielen…" – und zwar ganz selbstverständlich, ohne Bildungsdünkel, einfach weil man weiß, dass andere wissen.

Das Glühen der Router

Wir sind jetzt einen knappen Monat im Corona-Shutdown der Theater und also einen Monat inmitten eines ungekannten Rushs von Theaterstreams im Netz. Inszenierungen, die aktuell nicht live gezeigt werden können, brechen über die Bildschirme herein. "Corona-Reflex"-haft (Katja Grawinkel-Claasen) werde "gestreamt, bis die Router in die Knie gehen" (Uwe Mattheiss). So winken die ersten kritischen Stimmen lautstark ab. Mich irritiert diese Rasanz, mit der gerade geöffnete Türen sogleich zugeschlagen werden sollen. Natürlich irritiert sie mich. Unsere Website nachtkritik.de tut ja mit dem #nachtkritikstream an vorderster Front mit und zeigt allabendlich eine in Proben- oder Aufführungsmitschnitten festgehalte Theaterproduktion, aus großen und kleinen Häusern, Stadttheatern und freier Szene. Von der Rampe in den Router, dass er glühe.

 

 

 

Bis vor kurzem waren solche Vorgänge ein Ding der Unmöglichkeit. Die komplexe Rechtelage zwischen Theatern, Verlagen und beteiligten Künstler*innen stand einer breiteren Sekundärverwertung im Netz entgegen. Die Exklusivität des Live-Ereignisses war bei allem offensiv zur Schau getragenen Verständnis für Öffnungsdiskussionen sakrosankt. (Veteranen der Livestream-Diskussionen in der Heinrich Böll Stiftung oder bei der Böll-Nachtkritik-Konferenz "Theater und Netz" wissen ein Lied zu singen.) Die Corona-Krise aber, in der riesigen kulturellen Sektoren ihr Gegenstand schlagartig abhandenkommt, zwingt jetzt zum Umdenken und zum Vollzug lange angedachter Experimente. Die Rechteinhaber setzen angesichts der Ausnahmesituation auf Kulanz.

Die Schrumpfungsdiagnose

"Das alles hat mit Theater nichts zu tun!“, tönt es allenthalben selbst von klügsten Köpfen, die sich in der Krise nicht scheuen, das Offensichtlichste vorzutragen. Es ist nicht live, nicht ko-präsent (also mit Spieler*in und Publikum in einem gemeinsamen physischen Raum), es ist nicht sozial (also ohne Cappuccino und Schwatz im Foyer) und so fort. Das Netzabbild hat eine andere "Materialität" (Mattheiss).

Ja, nun, wer hätte wohl auch anderes angenommen? Selbst wenn das im Netz Gezeigte nicht Konserven wären, sondern genuine Livestreams (also in Echtzeit abgefilmte Proben oder Aufführungen) käme das digitale Ergebnis in seinem Repräsentationscharakter wenig näher an das Gesamtereignis Theater heran. Die Frage nach Abbildhaftigkeit und Adäquatheit führt vollkommen in die Irre. Wir befinden uns online in einem anderen Raum: und der verweist auf den Ausgangspunkt Theater in höchst reduzierter Form. Er bietet – wie auch immer gut gefilmt – ein Zitat des Abwesenden. Der Regisseur Christopher Rüping sagte in den letzten Tagen verschiedentlich (zuletzt im Theaterpodcast #24): Streams verengen das Theater auf den "informativen Wert". Was sicherlich die theoretisch prägnanteste Formulierung dieser Schrumpfungsdiagnose ist.

Etwas geht verloren, etwas entsteht

Wie aber? Was gibt es von diesen Streams mehr zu sagen als die offensichtliche Verlusterzählung? Um diese Frage zu beantworten, muss man den Blick vom Ursprung umlenken auf die Praxis, die in der Netzkultur an jedwede Erzeugnisse und also auch an das multimedial transformierte Theater anschließt. Im Zitat gewinnt das eigentlich so exklusive Ereignis eine ungekannte Mobilität. Plötzlich kann man auch in Berlin schauen, wovon in Düsseldorf die Rede ist. Das Privileg von Kurator*innen und Dramaturg*innen, selbst ohne Reiseaufwand breit zu sichten, demokratisiert sich. Alles, was Rumor war (und hier bei Nachtkritik kennen wir uns mit Rumor in der Theaterwelt ziemlich gut aus) kriegt plötzlich eine höhere Plastizität. Was Kolleg*innen in Kritiken lobten, wird nun um Grade anschaulicher. Aber eben um Grade. Es bleibt im Kern zunächst "Information" (Rüping).

 

 

 

Will man wissen, was über den Informationscharakter hinausgeht, muss man schauen, welche ästhetischen und kommunikativen Handlungen an Streams anschließen, wie Spuren des abwesenden Theaters neuen Lektüren unterworfen werden. Angeregt von Christopher Rüping selbst haben wir für den nachtkritikstream seiner Brecht-Inszenierung Trommeln in der Nacht einen parallelen Live-Chat organisiert. Zunächst einfach in dem gemeinsamen Bestreben, für das Filmschauen etwas Gemeinschaftlichkeit herzustellen, ein Theatergefühl des Miteinander zu simulieren. Alle verabreden sich auf 20 Uhr, drücken simultan auf Play, schauen und schwatzen los.

Epiphanien des Sinns

So ein Chat aber – als genuines Netzformat – hat seine eigenen Gesetze. Und die erzeugen im Zusammenstoß mit gestreamtem Theater unvermutete Effekte. Ich stimme Christopher Rüping absolut zu, dass Theater im Netz, dort wo es kontextfrei bleibt, den Touch des "Enigmatischen" hat, als connoisseurshafter Genuss für Hardcore-Nerds abgebucht werden kann (theaterpodcast #24, Minute 26:40). Der Chat aber als starkes Kontextualisierungsangebot erwies sich bisher in der Praxis als unheimlich durchlässig. Schon dank des Tempos und der aberwitzigen Fülle an Beiträgen (meist sind rund 30 Leute von etwa 200 Angemeldeten aktiv).

Nirgends wird lange getippt. Statt gelehrter Ko-Referate, wie man sie von Publikumsgesprächen kennt, gibt es kurze, prägnante Fragen, laienhafte und kennerhafte, kleine Beobachtungen und hingehuschte Interpretationsangebote, Zwischenrufe und Zwischenapplaus, im Gemenge dabei: Fans, Kritiker*innen, Macher*innen. Ein enthierarchisiertes und ziemlich ungeschütztes Sprechen, wenig distinguiert, ganz anders als man es vom Theater landläufig kennt. Kurz gesagt: Der Pop-Appeal war hoch, das eingangs beschriebene Partygefühl nicht fern.

 

 

Aber das ist nur der allgemeine Formaspekt dieses Chat-Diskurses. Zugleich gab es immer wieder Epiphanien von starker Inhaltlichkeit in der Auseinandersetzung. Der Chat bietet ganz offenbar eine Möglichkeit, wie sie bis dato dem Theater nicht zur Verfügung stand: ein performatives Close-Reading, Analysen im Schnellzeichner, sehr konkret an Szenen und Momenten der Inszenierung angepinnt. So nah kommt kein Publikumsgespräch an eine Inszenierung und ihre sinntragenden Strukturen heran.

Vom Stream zum gif

Natürlich erschöpft sich die Frage nach den "Netz-Praktiken", die an Streamings anschließen, nicht in bloß diskursiven Effekten (also in dem neuen Sprechen, das hier über Theater ermöglicht wird). Die Netzaktivistin Tina Lorenz (die bereits 2014 in einem Essay für nachtkritik.de länger über Livestreaming im Theater nachdachte) schoss, kaum dass der nachtkritikstream startete, das erste selbstgebastelte gif raus (zu Ersan Mondtags "Tyrannis"). Memes, gifs – solche visuellen Kleinstbotschaften, die dann irgendwo in andere Kommunikationskanäle schwappen, sind Teil jener Kultur des Zitats, der Kopie, des "Mash-Up" (Dirk von Gehlen), die dem Theater bis dato verschlossen war. Nicht zu seinem Guten.

Potenziell gif-fähig: Wiebke Puls als Frau Balicke in "Trommeln in der Nacht" an den Münchner Kammerspielen

Populärkulturelle Praktiken werten das Ursprungsereignis auf, statten es mit neuem symbolischen Kapital aus. Kennen Sie das gif, in dem Leonardo di Caprio Ihnen zuprostet, wenn Sie auf Twitter eine richtig schöne Punchline rausgehauen haben? Warum sollte das Theater in solchen Galerien fehlen? Warum zum Beispiel sollte der unsterblich cool verspannte Tanz von Wiebke Puls als angetrunkener Frau Balicke in "Trommeln in der Nacht" nicht auch solch einen ikonischen Moment abwerfen und in die Weiten des Netzes schwappen? Es wäre die Rückkehr des Theaters an die Orte, an denen heute das Gespräch über Kultur abläuft.

Den Sorgenträgern à la Mattheiss, der Live-Künstler*innen im Zeitalter ihrer digitalen Reproduzierbarkeit bereits zu Uber-Taxifahrern degradiert sieht, sei einstweilen zur Beruhigung mitgegeben: Ein Streaming für maximal 24 Stunden, das momentan die gängige Vereinbarung ist, nimmt dem Live-Event noch kaum etwas von seiner Exklusivität (und Profitabilität, sofern dieser Begriff im unterfinanzierten Theaterbereich überhaupt greift). Und der strukturelle Zitatcharakter des Ganzen verweist jede Kopie selbstredend auf das Real-Life-Event.

Pioniere des Streams

Die Netzpraktiken (Chat, Mash-up), die das visuelle Zitat des Theaterereignisses aufladen, statten es mit neuem Kontext aus, verwandeln die Repräsentation (das bloße Senden) in Interaktion (Spiel / Verarbeitung / Verwandlung). Und "Interaktion" ist natürlich der Schlüssel, um über Theater im Netz nachzudenken (Grawinkel-Claassen). Gesucht sind fraglos mehr Theaterstücke, die sich diesen Netzmöglichkeiten auch in der eigenen Genese bewusst sind. 2015 streamte nachtkritik live die Performancereihe Shakespeares Complete Works von Forced Entertainment (im Rahmen des Festivals "Foreign Affairs" der Berliner Festspiele).

Complete Works 560 Tim EtchellsNetzcompatible Shakespeare-Nacherzählung mit Haushaltsgegenständen von Forced Entertainment © Tim Etchells

Bis heute scheint mir diese Arbeit richtungsweisend. Weil Forced Entertainment in ihrer Inszenierung den strukturellen Zitatcharakter der gesamten Unternehmung und des Streams antizipierten. Weil Shakespares klassische Werke hier in hochgradig netzkompatiblen Paraphrasen und abkürzenden Nacherzählungen dargeboten wurden, an einem Küchentisch in lockerem Vortragston, mit Küchenutensilien, die die handelnden Figuren repräsentierten: Richard III. als Soja-Flasche. Reduktion war also schon im Ursprung Programm (hier mein Bericht von damals).

Auf Twitter formierten sich seinerzeit zwischen Sheffield und Berlin die Zuschauenden und hielten ihre Momente, Sentenzen und Beobachtungen wie im Poesiealbum fest (Twitter ist quasi das behagliche Äquivalent zum hektischeren Chat). Und tatsächlich gab es denn dort auch Sätze, die ich seit 2015 mit mir herumtrage, und die im eingangs beschriebenen Sinne absolut partyfähig wären, wenn sie denn einen größeren Echoraum bekämen. "He smiles as he kills" – Richard III., von William Shakespeare, nacherzählt von Forced Entertainment. Wer bietet mehr?

 

tt17 jury rakow text bildChristian Rakow, geboren 1976 in Rostock, ist nachtkritik.de-Co-Chefredakteur und Mitkurator der Konferenz Theater & Netz.