Theater als Mixtape

von Falk Schreiber

Online, 19. April 2020. Tschüss, anspruchsvolles Popfeuilleton. Spex: eingestellt. Intro: eingestellt. Rolling Stone, Visions, Musikexpress: angezählt. Die Idee, mittels Popmusik etwas über die Verwerfungen der Gegenwart zu erzählen, ist irgendwie von gestern, verlagert in Blogs und Podcasts mit mal obskurem, mal massentauglichem Anspruch. Ein solches Blog ist David Gieselmanns Popticker: verschroben, kenntnisreich, irrelevant, ein Verweis auf die Zeit, als Nachdenken über Pop noch ein Ziel hatte.

Vom Verschwinden

Gieselmann ist aber im Hauptberuf kein Popjournalist, sondern der wohl versierteste deutschsprachige Komödienschreiber der Gegenwart. Komödien werden in Pandemiezeiten freilich nicht aufgeführt, weswegen der Hamburger Dramatiker ein Stück für die Videoplattform Vimeo geschrieben und auch schnell realisiert hat. "Hanna Silber" ist kein Theaterstück im eigentlichen Sinne, sondern eine Sammlung von Monologen, in denen es um die abwesende Musikerin Hanna geht. Die war einst Punk in Kiel, galt dann als große Hoffnung der Hamburger Szene, schlenkerte als Verstörung für die Indiewelt kurz Richtung Schlager und stand schließlich in Berlin vor der großen Karriere, freilich um den Preis, dass ihre Musik plötzlich rechtsoffen gelesen werden konnte. Und dann verschwand sie spurlos. Provinz, Hamburg, Berlin, Punk, (ironisch gebrochener) Schlager, Mainstream, das sind so die künstlerischen Karrieren, die man immer wieder liest, wenn man sich intensiver mit dem deutschsprachigen Pop der vergangenen Jahrzehnte beschäftigt.

hanna silber 2Sophie Melbinger © Screenshot Vimeo

Hannas Weggefährt*innen, Fans, Konkurrent*innen und Adabeis jedenfalls machen sich Gedanken, wo sie wohl sein mag: Professor Dr. Rudolf Sieghart (Thomas Wolff) will mittels Textexegese ihren Aufenthaltsort bestimmen. Popjournalist Fritz Coburg (Matthias Zindarec) futtert Pizza im Bett und deutet eine persönliche Nähe zur Musikerin an. Freundin Yasmine (Violette Pallaro) spaziert durch das wegen der Quarantäne menschenleere Brüssel und spricht in Rätseln. Die reizvollen Miniaturen – jeweils sechs, sieben Minuten lang – lassen immer neue Bilder und Vexierbilder der Abwesenden entstehen. Das Projekt ist noch nicht abgeschlossen, in den nächsten Tagen sollen weitere Videos hinzukommen, über 40 Clips sollen es am Ende werden. Die Suche hat erst begonnen.

Oasis und Radiohead

"Hanna Silber" Pop, klar. Vielleicht auch ein Krimi – das Auftreten einer Kommissarin (Doreen Nixdorf) deutet das an. Vielleicht führt das Stück aber auch über die eigentliche Story hinaus: Der Soziologe Hans-Jochen Whitfield (Thomas Wehling) jedenfalls ist gar nicht mehr an der Handlung interessiert, sondern tritt auf als Spezialist für Formen des Verschwindens. Ist das hier ein wissenschaftlicher Diskurs?

Als Theater ist "Hanna Silber" Indie-Produktion. Kein Haus steckt hinter dem Projekt (auch wenn mehrere der Mitwirkenden in Bielefeld engagiert sind, wo vergangenen Herbst Gieselmanns Spin uraufgeführt wurde), weder Ausstattung noch Regie sind namentlich genannt. Laut Gieselmann hätten die Beteiligten ihre Parts selbst gestaltet, alleine vor der Laptopkamera. Was wohl schon stimmt, allerdings nicht heißt, dass die einzelnen Monologe nicht durch genuin theatrale Ästhetik geprägt wären – natürlich ist es wichtig, dass Zindarec als Popjournalist ein Oasis-T-Shirt trägt, und natürlich ist es auch wichtig, dass an der Wand ein Radiohead-Poster hängt. Wobei sich hier eine Lücke auftut zwischen dem ironischen Blick auf Popmusik-Pathos (der T-Shirt-Slogan "You and I are gonna live forever") und dem echten Anerkennen künstlerischer Qualität (die verrätselte "Kid A"-Symbolik auf dem Poster). Das ist alles schon sehr durchdacht, ebenso wie die betont schlechte Verbindung, über die Vocal Coach Gerlinde von Sudhoff (Nicole Lippold) kommuniziert oder die hochformatige Selfie-Ästhetik von Musiker Rüdiger Koberg (Georg Boehm).

Einem Phantom auf der Spur

Die Clips folgen keiner festgelegten Reihenfolge, ähnlich wie eine Playlist, bei dem die Wiedergabe im Shuffle-Modus erfolgt. Wenn es gut läuft, erkennt man nach einiger Zeit tatsächlich eine Struktur, vergleichbar guter Track-basierter Popmusik. Oder man spürt zumindest eine Stimmung, die etwas sagt über unsere Kommunikation in Zeiten der Kontaktsperre. Eine echte Geschichte erhält man eher weniger, muss wohl auch nicht sein.

Aber ohnehin hat man nach einigen Stunden alle Clips durchgeschaut, auch wenn man zunächst nur ein, zwei sehen wollte: Weil praktisch jedes Solostückchen ein großes Schauspielvergnügen ist. Thomas Wolff schält die hinter dem schmierigen Habitus versteckte Eitelkeit des Wissenschaftlers heraus, Jannike Schubert spielt mit zitternden Lippen und flackerndem Blick im Close up die verstörte Assistentin der Verschwundenen. Am Ende ist "Hanna Silber" eben auch ganz einfach: Schauspielertheater. Die Kunst rettet Gieselmann damit natürlich nicht aus der Corona-Krise – aber er erinnert die Theater-Abstinenten daran, was eine kluge Vorlage im Zusammenspiel mit originellem Spiel zu leisten imstande ist.

 

Hanna Silber
von David Gieselmann
Konzept: David Gieselmann
Mit: Doreen Nixdorf, Dominik Kaschke, Guido Wachter, Haldor Gylfárson, Christina Tzatzaraki, Mathias Znidarec, Melanie Straub, Katharina Uhland, Sophie Melbinger, Tim Grobe, Wolfgang Vogler, Katharina Solzbacher, Martin Plass, Leona Grundig, Dagmar Poppy, Kathi Hintzen, Steffen Klewar, Uwe Kraus, Miguel Abrantes Ostrowski, Helene Vivies, Thomas Wolff, Mariann Hole, Brit Dehler, Unnur Ösp Stefánsdottir, Carmen Priego, Sivan Sasson, Christian Brey, Yana Robin La Baume, Nicole Lippold, Jannike Schubert, Marie Bauer, Thomas Peters, Thomas Wehling, Sheila Eckhardt, Sven Fricke, Christian Klischat, Dóra Kakasy, Nicola Schößler, Jakob Walser, Violette Pallaro.
Premiere am 19. April 2020
Dauer: 26 Clips zwischen zwei und acht Minuten, in beliebiger Reihenfolge zu sehen

https://vimeo.com/hannasilber