Fremde unterm Partyvolk

von Wolfgang Behrens

Berlin, 15. Mai 2007. Zehn Jahre ist es her, da wurde dem Theatertreffen-Publikum eine Purcell-Oper vorenthalten: Martin Kušej hatte in Stuttgart "König Arthur" als spartenübergreifendes Barockspektakel inszeniert, nach Berlin konnte die Produktion jedoch nicht reisen, da sie nicht genügend Jury-Mitglieder gesehen hatten. Ein Fehler, den die Jury des Jahres 2007 nicht wiederholt hat: Diesmal ist Henry Purcells "Dido und Aeneas" mit von der Partie.

Oder ist das, was Regisseur Sebastian Nübling und sein Team vom Theater Basel in der Schaubühne präsentierten, vielleicht gar kein Purcell? Es ist jedenfalls nicht eben nur eine Operninszenierung. Es ist auch Schauspiel. Es ist auch Party.

Als Mahl begann's und ist ein Fest geworden

Wenn die Zuschauer den Saal betreten, sind die Vorbereitungen schon im Gange. Menschen in festlich-farbiger Abendgarderobe (Kostüme Eva Butzkies) huschen scherzend über die von zwei Publikumstribünen gesäumte Spielfläche (Bühne Muriel Gerstner), lange Tafeln werden eingedeckt, Essensduft liegt in der Luft, es wird gemeinsam gekocht. Jupiter selbst (feist und lüstern Andrea Bettini) ist Küchenmeister, sein Lustknabe Ganymed (der Musiker und DJ des Abends Lars Wittershagen) steuert am Laptop italienische Schlagermusik bei. Die üppige Menüfolge – es gibt Pasta und Truthahn – wird zu Ehren von Dido, der Königin von Karthago, aufgetragen, Iarbas, einer ihrer hartnäckigsten Verehrer, hat offensichtlich eine Überraschungsparty angeregt.

Von dieser Party bezieht Nüblings Aufführung Rahmen und Dramaturgie, beginnend in der Vorfreude auf Lustbarkeiten und Tändeleien, und endend, nach einer wilden, rauschhaften Nacht, im Katzenjammer: Karthago und seine Götter als Wohlstandsgesellschaft in Feierlaune. Doch in das Menü platzen zwei Fremdlinge hinein, die nicht recht in diese Gesellschaft passen wollen, Flüchtlinge aus Kleinasien, die die ausgelassene Stimmung mit Kriegsberichten stören: der Trojaner Aeneas und sein Sohn Askanius. Sandro Tajouri ist Aeneas, sein scheußlich blassbraunes Hemd über grauer Hose entspricht so wenig dem Partylook wie sein steif-stolzes Gebaren der lockeren Plauderatmosphäre. Dido aber zeigt sich, sehr zum Ärger ihres Freiers Iarbas, von dem Fremden fasziniert. 

Oberflächlichkeit und Tiefe

Und diese Dido ist das Ereignis des Abends. Sandra Hüller gelingt etwas sehr Seltsames, Seltenes: Ohne je ungenau zu sein, hält sie die Dido-Figur in einer wundersamen Schwebe zwischen Oberflächlichkeit und Tiefe. Ist ihre Verliebtheit in den Fremden anfangs aufgesetztes Spiel, erotische Provokation, inszenierte Verführungskunst, so scheint sie im weiteren Verlauf zunehmend in ernste Leidenschaft umzuschlagen – oder ist dieser Ernst nur vorgetäuscht, eine weitere Spirale im Verführungsritual? Einen Satz wie: "Verlässt er mich nicht, sterb ich nie, denn Ewigkeit seh ich in seinen Blicken", spricht Hüller mit berückender Schlichtheit, bezwingender Glaubwürdigkeit – im nächsten Moment aber schimmert wieder das verzogene Partygirl durch, das seine Mittel wohlberechnet einsetzt. Aeneas lässt sich auf dieses Spiel für eine Liebesnacht ein – die Tische sind längst abgeräumt, die Tänze sind getanzt –, am nächsten Morgen aber, wenn die Espressotassen kreisen, ist er wieder der steife Fremde, der seinem göttlichen Auftrag gemäß nach Italien entschwindet. Noch wenn Sandra Hüller während der Schlussarie (von ihrem nicht immer intonationssicheren Dido-Double Ulrike Bartusch gesungen) auf einer Stuhllehne hockend Löcher in die Luft starrt, bleibt es unentschieden, ob sie der verlorenen großen Liebe oder nur dem schnell vergessenen One-Night-Stand nachsinnt.

Rondo Veneziano des 21. Jahrhunderts

Und Purcell? Purcell wird in dieser Inszenierung doppelt überlagert. Denn zum einen lässt Nübling in der Hauptsache nicht Purcells Oper spielen, sondern das hundert Jahre ältere Drama "Dido, Königin von Karthago" von Christopher Marlowe, in das die Musik Purcells hineingeschnitten wird. Zum anderen hat Lars Wittershagen das authentische Klanggewand, für das das seitlich auf der Bühne platzierte La Cetra Barockorchester Basel unter Leitung von Lutz Rademacher sorgt, um synthetische Ambient- und Dancefloor-Klänge erweitert. Purcells Tänze werden vom iBook aus elektronisch angereichert, und der Lamento-Bass von Didos Schlussarie erklingt leitmotivisch schon zum ersten Mal bei Aeneas’ Ankunft in klirrend-sirrendem Spieluhr-Sound. Das funktioniert erstaunlich gut – Purcells Musik ist robust und erträgt auch die Musicalfärbung einiger Schauspielerstimmen –, wird meist dezent und geschmackvoll eingesetzt und ist manchmal nahezu clubkompatibel: Man meint, dem Rondo-Veneziano-Sound des 21. Jahrhunderts zu lauschen. Schade nur, dass sich der Wagemut des Barockensembles neben dem Wagemut des Klangdesigners recht bescheiden ausnimmt: Man kann Purcell aufgekratzter, schärfer, weniger brav musizieren, als La Cetra ihn hier darbietet. Und so bleibt bei dieser schillernden, unterhaltsamen, mitunter aufregenden Veranstaltung Purcell – wie Aeneas – auch ein wenig der Fremdling.

 

Dido und Aeneas
von Christopher Marlowe und Henry Purcell (Musik)
Regie: Sebastian Nübling, Musikalische Leitung: Lutz Rademacher, Lars Wittershagen, Bühne: Muriel Gerstner, Kostüme: Eva Butzkies, Dramaturgie: Julia Lochte; Licht: Rainer Küng. Mit: Ulrike Bartusch, Andrea Bettini, Klaus Brömmelmeier, Wolfgang Brumm, Sandra Hüller, Rahel Hubacher, Yasin Kourrich, Barbara Lotzmann, Sandro Tajouri, Lars Wittershagen, Chorsolisten der Hochschule für Musik Basel, Barock-Ensemble der Schola Cantorum Basiliensis.

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