Ist das Kunst, oder kann das weg?

von Lara-Sophie Milagro

28. April 2020. Als vorletzte Woche Rauchwolken über dem Berliner Humboldtforum aufstiegen, dachte ich als erstes an eine performative Protestaktion: Irgendein mutiger Künstler nutzt das Corona-Vakuum, um den nachhaltigen gesellschaftspolitischen Einschnitt voranzutreiben, den momentan alle prophezeien, und wählt ein großbürgerliches Prestigeobjekt, das seit Jahren wegen seines ignoranten Umgangs mit Berlins kolonialer Geschichte in der Kritik steht, um ein Exempel zu statuieren.

Die Kulturstaatsministerin gab jedoch schon kurz darauf Entwarnung: Es gebe keine Hinweise auf vorsätzliches Handeln. Auch wenn die Brandbilder vom Schlossportal "allen einen Schrecken eingejagt haben", sei es "gut und beruhigend, dass man sich einmal mehr auf die Feuerwehr verlassen kann". Derweil freute sich die Humboldtstiftung mitteilen zu können, dass die Arbeiten für die Fertigstellung des Stadtschlosses wie geplant fortgesetzt werden.

Schlossbrand und Aktionskunst

Was für großartiges, fast biblisch anmutendes Material wäre das, für einen Theaterabend über die (Un)Möglichkeit gesellschaftlicher Selbstreflexion in der Krise: Der Vorhang geht auf, ein Schloss steht in Flammen, als mahnende Manifestation von Karma, als Drohen der Geschichtsgöttin Clio. Aber niemand schaut hin, niemand lauscht auf die kosmische Warnung. Alle spielen weiter ihre angestammten Rollen, staatstragend, geschichtsvergessen.

17 NAC Kolumne Visual Milagro V3Das, woran sich Kunst- und Kulturschaffende seit Jahrzehnten mal mehr mal weniger erfolgreich abarbeiten, liefert die reale Welt derzeit in Serie, ganz ohne Regie und mit Theaterlaien in sämtlichen Hauptrollen: Bilder und Geschichten, die die globalen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Missstände des 21. Jahrhundert in ihrer ganzen Komplexität und derart verdichtet auf den Punkt bringen, dass man sich fragt, wozu das Theater überhaupt noch notwendig ist.

So spielen sich ein paar Kilometer vom Stadtschloss entfernt, auf dem Rosa-Luxemburg-Platz vor der Volksbühne, Szenen ab, die man für Aktionskunst in bester Schlingensief'scher Tradition halten könnte. Seit Ende März kommt hier jeden Samstag eine Gruppe Demonstrierender zusammen, um gegen die Einschränkung ihrer Grundrechte zu protestieren. Als "Aktivisten und Extremisten von links und rechts, Verschwörungstheoretiker, bibeltreue Christen, Impfskeptiker, Trump-Fans, Normalos" beschreibt sie der rbb und merkt an: "Doch sie alle haben ein gemeinsames Anliegen: Sie wollen ihr Recht zu demonstrieren, sich zu versammeln, durchsetzen. Egal worum es geht."

Impfgegner, die gemeinsam mit Rechten für ihre Bürgerrechte demonstrieren – Szenarios wie aus der Schüttelkiste des Komödienstadls. Atta Atta – Die Alles-scheiß-egal-Kunst ist ausgebrochen.

Die Hüter der Doppelmoral

Im Fernsehen performen derweil Politiker, die nicht müde werden, an die Solidarität der Bevölkerung zu appellieren, sich aber nicht dazu durchringen können, mehr als 50 unbegleitete Kinder und Jugendliche aus den überfüllten griechischen Lagern aufzunehmen (war nicht irgendwann auch mal von schwangeren Frauen die Rede?), während rund 80.000 Menschen aus Osteuropa eingeflogen werden, um als billige Arbeitskräfte die heilige deutsche Spargelernte zu retten. Und die sächsische Landeshauptstadt sondergenehmigt eine Pegida Demonstration, trotz Ausgangsbeschränkungen und Versammlungsverbot. An Hitlers Geburtstag. Mal ganz ehrlich: Nichts, was im deutschen Film und Theater in den letzten Jahren zum Thema Rassismus, Flüchtende, wirtschaftliche Ausbeutung, politische Doppelmoral und Rechtsruck der Gesellschaft zu sehen war, kann da auch nur annähernd mithalten.

Nukleare Teilhabe statt Klimaschutz

Die Kunst des Theatermachens liegt unter anderem darin, "Menschen so auftreten zu lassen, dass sie mehr über sich preisgeben als sie selbst bereit wären" (Bernd Stegemann) und so eine abwesende Realität, eine versteckte Hintergründigkeit sichtbar zu machen. Aber welche zwischenmenschlichen, welche gesellschaftlichen Hintergründe kann man noch dramatisch herausarbeiten, wenn politische Entscheidungsträger nicht einmal mehr den Versuch unternehmen zu verschleiern, dass eine erfolgreiche Spargelernte offenbar höhere Priorität hat als Menschenleben, und wir das mehr oder weniger protestlos hinnehmen? Und jedwede (künstlerische) Zuspitzung scheint sich ein für alle Mal erledigt zu haben, wenn die Verteidigungsministerin inmitten der Krise für mehrere Milliarden ihre Tornadoflotte austauschen möchte, um Deutschlands "Nukleare Teilhabe" zu sichern, und trotz des dritten Dürre-Frühlings in Folge bereits jetzt politische Stimmen laut werden, die nach dem Ende der Pandemie die Debatte um verschärfte Klimaschutzmaßnahmen zugunsten der Wiederbelebung der deutschen Wirtschaft zurückzustellen wollen.

Spielbetrieb im Bundestag

Eigentlich sollte das alles Teil eines Theaterstücks sein, das uns sagt: Vorsicht – so könnte es demnächst kommen, wenn wir nicht einschreiten (wobei jeder gute Dramaturg die Stelle mit Hitlers Geburtstag als zu demonstrativ streichen oder zumindest in Frage stellen würde). Und so wie bei einer gelungenen Performance oft ein Restzweifel bleibt – ist es wirklich nur Kunst oder muss man eingreifen? – fragt man sich auch dieser Tage bei jeder neuen Meldung à la Spargelernte – passiert das wirklich gerade oder haben irgendwelche subversiven Theater ihren Spielbetrieb in den Bundestag verlegt und ihre Schauspieler als Pegida-Demonstranten verkleidet nach Dresden geschickt? Leider wartet man vergeblich darauf, dass der ganze Spuk vorbei ist und man erleichtert applaudieren kann.

Warum Theater, wurde Heiner Müller einmal gefragt und empfahl: "Ich glaube, die einzige Möglichkeit herauszufinden, was eine Antwort sein könnte, wäre, ein Jahr lang alle Theater der Welt zu schließen. Ein Jahr lang gibt es kein Theater und dann weiß man hinterher vielleicht, warum Theater." Vielleicht, weil wir alle eine Antwort darauf brauchen werden, ob wir auf wahnwitzige gesellschaftliche Entwicklungen und skandalös inhumane politische Entscheidungen noch anders reagieren können als mit Achselzucken oder empörten Facebook-Posts. Oder vielleicht wird uns ja doch noch Erlösung zuteil, wenn die Kulturstaatsministerin zur feierlichen Wiedereröffnung der Theater das Wort an uns richtet: "Die Bilder aus Dresden haben allen einen ganz schönen Schrecken eingejagt, aber es ist beruhigend, dass man sich einmal mehr auf unsere Theater verlassen kann: Das war nur Kunst."

 

Lara-Sophie Milagro ist Schauspielerin, in der Leitung des Künstler*innen Kollektivs Label Noir, Berlinerin in der fünften Generation und fühlt sich immer da heimisch, wo Heimat offen ist: wo sie singt und lacht, wo sie träumt und spielt.

 

In ihrer letzten Kolumne schrieb Lara-Sophie Milagro über Corona-Quarantäne, Astronauten und unsere Gesellschaft auf dem Prüfstand.

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