Ein Beben, ein Zittern

von Şeyda Kurt

12. Mai 2020. Nun werden Sie nicht neidisch. Aber ich war in diesem Frühjahr bereits in einem Theater, mit Körpern aus Fleisch und Blut auf der Bühne, die Shakespeares "Twelfth Night" spielten. Scheinwerfer, Publikum. Ich saß drin, am 22. März, Ortszeit 16 Uhr, am äußersten Rand des Saals, mit Atemschutzmaske und Abstand zum nächsten atmenden Körper, am äußersten Rand eines benachbarten Kontinents: in Tokio. 

Ich war mir viele Wochen unsicher, ob ich von diesem Nachmittag erzählen will. Nicht, weil ich Ihren Neid fürchte, sondern weil ich nicht wusste, wie ich davon erzählen kann. Ich spürte das Unbehagen bereits, als ich den Plan des Theaterbesuchs fasste (es wuchs kurzzeitig ins Unermessliche, als ich am Eingang den Eintritt bezahlte: 16.000 Yen für zwei Tickets, das entspricht circa 138 Euro).
Ich hatte Angst. Corona! werden Sie jetzt denken, aber nein, Japan war zu diesem Zeitpunkt eines der Länder mit der geringsten Ansteckungsrate. Ich hatte Angst vor meinem eigenen Blick.

Die Gewalt im Blick

Ich besuchte ein Theater in einem Land, das ich nicht kannte, dessen Sprache und Geschichte mir weitestgehend unbekannt waren, abgesehen von ein paar Eckdaten. Ich konnte mich als Zuschauerin an diesem Nachmittag also nicht in Textinterpretationen flüchten. Meine Wahrnehmung haftete an der reinen Körperlichkeit auf der Bühne. Ich wusste, dass ich in einem Land sozialisiert wurde, in dem Menschen gerade mit Blick auf (Süd)Ostasien mit Begriffen wie "authentisch" oder "exotisch" um sich werfen, als sei ihre dürftige Erfahrung ein legitimer Maßstab, die Seinsweise anderer Menschen in anderen Ländern zu beurteilen. NAC Kolumne Seyda Kurt V1

Ich wusste, dass ich aus einem Land komme, in dem die vermeintlich japanische Kultur und die Körper, die sie repräsentieren sollen, medial mystifiziert, romantisiert und im Zuge der Corona-Krise rassifiziert und stigmatisiert werden. Wo wird mein Blick nach dem vermeintlich Anderen suchen, fragte ich mich, wo nach Ähnlichkeiten? Wo werde ich projizieren und exotisieren? Wo wird mein Blick gewaltvoll sein? Und vor allem: Wie soll ich das Gesehene in Worte fassen, ohne diese Gewalt zu reproduzieren? 

"There is no non-violent way to look at somebody" hieß im letzten Jahr eine Ausstellung der Künstlerin Wu Tsang im Berliner Gropius Bau. Der Satz stammt aus dem Text "Sudden Rise at a Given Tune" des US-amerikanischen Dichters und Künstlers Fred Moten, der sich in seiner Arbeit im Spannungsfeld experimenteller, performativer Kunst und kritischer Theorie bewegt. Er forscht und lehrt zu Schwarzer Kultur, zu den sogenannten Black Studies.

Kamera als Multiplikatorin

In dieser Tradition und auch in Zusammenarbeit mit Moten zerlegte Wu Tsang im Gropius Bau in Fotografien, Installationen und Kurzfilmen den Akt des Schauens. Wo ist die Kamera nicht nur eine Sehweise, sondern eine Multiplikatorin der Gewalt, die Schwarze, Braune oder queere Körper erleben (etwa in Form von Polizeigewalt), weil sie dabei hilft, die Bilder massenhaft zu verbreiten? Wo gibt es künstlerische Räume des Widerstands und der Sicherheit? "Was, wenn die Kamera kein allwissendes Auge und keine Meistererzählerin wäre – sondern einfach nur ein weiteres Element der Verstrickung?", schreibt Wu Tsang in "Filmnotes" (2017). 

Die Gewalt manifestiert sich nicht nur im Blick der Künstler*innen auf ihr künstlerisches Objekt, sondern eben auch im Blick des Publikums, aller Betrachtenden. Er manifestiert sich nicht nur in explizit gewaltvollen Darstellungen und Abbildungen. Er offenbart sich in vergeschlechtlichten Annahmen, wenn wir etwa wahrgenommene Menschen in die binäre Geschlechtsordnung zwängen, er offenbart sich in kapitalistischen oder kolonialistischen Kontinuitäten. Normen von Schönheit, die wir auf Körper anwenden, haben eine gewaltvolle, ausbeuterische Geschichte. Noch heute werden etwa Braune und Schwarze Körper in Filmproduktionen in der Maske und durch technische Mittel aufgehellt, um dem rassistischen Geschmack eines Massenpublikums gerecht zu werden – und gleichzeitig diesen Geschmack weiterhin zu formen. Auf der anderen Seite werden auch auf Theaterbühnen immer noch Darstellende mit heller Haut dunkler geschminkt oder gar geschwärzt (auch Blackfacing genannt), um das Böse oder Dämonische zu verkörpern.

Happy End im Honda-Gekijou-Theater

Selbstverständlich wirkt das Theater als Medium anders als der Film oder die Fotografie, in denen der Blick auf einen Realitätsausschnitt dirigierter und befangener ist. Im Theater haben die Körper in der Spontanität und Gegenwärtigkeit ihrer Performance vermutlich mehr Freiräume sowie das Publikum beim Zusehen mehr Spielräume. Gleichzeitig ist der Blick auf die Körper auf der Bühne unmittelbarer – und dadurch vielleicht umso gewaltvoller. 

Nun aber zurück zu diesem Märztag in Tokio: Es war eine einfache Inszenierung der Shakespearschen Komödie aus dem Jahre 1601, die Kostüme angelehnt an das britische Mittelalter, das Bühnenbild schlicht. Anstelle eines Kirchturms ragte ein Tempel als Kulisse in die Höhe. Die Handlungsabläufe ließen rekonstruieren, dass die Inszenierung von Go Aoki nah am Original blieb: Bei einem Schiffsbruch wird das Zwillingspaar Viola und Sebastian getrennt. Viola verkleidet sich als Mann und tritt in den Dienst des Herzogs Orsino. Es folgen Intrigen, Verwechslungen, große Gefühle. Am Ende kehrt der tot geglaubte Sebastian zurück. Happy End. Etwa 400 Menschen schauten zu im Honda-Gekijou-Theater im Viertel Shimokitazawa.

Die reine Körperlichkeit

Und ich? Nun ja, ich schildere Ihnen meine Idealversion: Nach der ersten Hälfte des Stücks, nach etwa einer Stunde, vergaß ich den Kontext, in dem ich es erfuhr. Mein Blick schärfte sich für das reine körperliche Spiel der Darstellenden, für die Anspannung der Wadenmuskeln, für das Beben und Zittern, für das Zucken der Mundwinkel, für die Schweißtropfen auf der Stirn. Ich vergaß, wer diese Menschen waren, oder wen sie für mich verkörpern sollten. Doch vielleicht ist das auch nur die Art und Weise, wie ich mich gerne sehe.

Wir können zwar nicht den vorgesellschaftlichen, vorhistorischen Zustand des unschuldigen Blicks auf andere erlangen. Wir können nicht verhindern, dass er sich instinktiv in allen Beziehungen zu anderen Menschen, seien sie romantischer oder politischer Natur, äußert – wie auch in der Art und Weise, wie wir uns selbst betrachten. Aber wir können einen anderen Blick auf andere Menschen üben. Und gerade das Theater kann uns dabei helfen, wenn wir damit beginnen, das Sehen zu hinterfragen.

Şeyda Kurt ist Autorin und Moderatorin. Sie studierte Philosophie, Romanistik und Kulturjournalismus in Köln, Bordeaux und Berlin. In ihrer Kolumne ❤️topia begibt sie sich auf die Suche nach Utopien der Liebe auf der Bühne: Was erzählt uns das Theater über Zärtlichkeit? Und wo bleiben neue Visionen von Romantik, Freund*innenschaft und Solidarität?

 

Zuletzt beschäftigte sich Şeyda Kurt mit dem Tugendtheater in Zeiten von Corona.

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