Stunde der Geister

15. Mai 2020. Die Theater sind geschlossen und vom Publikum ebenso verlassen, wie von den Künstlerinnen und Künstlern – insbesondere den Schauspielerinnen und Schauspielern, die nun von der Homestage aus meist als Privatpersonen ihr (digitales) Unwesen treiben. Was aber geschieht derweil in den leeren Theatern mit den dort einsam zurückgebliebenen Figuren? Was machen Woyzeck, Onkel Wanja, Hamlet oder Laura Wingfield aus der Glasmenagerie nun? Beginnen sie, ohne Schauspieler*innen, die sie führen, ohne Regie und ohne Publikum ein Eigenleben zu führen? 

Diesen Fragen ist die Bühnen- und Kostümbilderin Lea Reusse zeichnend nachgegangen. Und so treffen wir Herrn Peachum aus Brechts Dreigroschenoper im Berliner Ensemble – jetzt mit Atemschutzmasken handelnd. Es gesellen sich als Käuferinnen und Käufer ganz neue Figuren hinzu – freilich noch immer in dem kühlen Look, den Regisseur und Ausstatter Robert Wilson dem Brecht-Personal einst verpasste. Nebenan im Deutschen Theater sind Onkel Wanja, Astrow und Telegin aus Jürgen Goschs berühmter Tschechow-Inszenierung an die Bar in den Kammerspielen entfleucht – wo sie sich mit Wodka erst einmal die Hände desinfizieren. Scheinbar fürchten selbst sie das Virus. In Frankfurt am Main hat der von seiner Spielerin Jana Schulz verlassene Woyzeck erst einmal im Zuschauerraum Platz genommen, und isst hier nun seine TK-Erbsen wie andere Leute Chips. Und was empfindet eigentlich Hamlet, wenn er in Gestalt von Sandra Hüller nur noch via Stream sein Publikum findet?
 

{gallery}Stunde der Geister von Lea Reusse:600:600:0:{/gallery}

 

 

LeaReussePortrait 560 LeaReusseLea Reusse wurde 1987 in Berlin geboren. An der Berliner UdK studierte sie Kostümbild bei Florence von Gerkan. Bereits während des Studiums begann sie als Kostüm- und Bühnenbildnerin für Film und Theater zu arbeiten. Seit 2019 lebt sie als freischaffende Illustratorin in Stockholm. 
www.leareusse.com