Früher war alles

von Michael Wolf

19. Mai 2020. Die Theater sind verwaist, die Diskussion, was in ihnen bestenfalls gespielt würde, reißt deswegen aber nicht ab. Im Gegenteil, der Shutdown läutete die Stunde der Theoretiker ein. Sie füllen nun die Bühnen mit ihren Vorstellungen. Aus Mangel an Kunst kritisiere ich also heute deren Visionäre, beispielhaft an drei typischen Akteuren.

1. Der Instiutionenromantiker

Der Dramatiker Albert Ostermaier veröffentlichte in der Süddeutschen Zeitung ein flammendes Plädoyer für die Öffnung der Theater. Dieser Forderung schließe ich mich nicht minder leidenschaftlich an, Ostermaiers Argumentation hingegen berührt mich peinlich. Denn aus seinem Text spricht weniger der Glaube an die Kunst als an die eigenen rhetorischen Fähigkeiten: "Das Theater hält stand, es steht für etwas, es steht für uns, steht für uns ein und unsere Sehnsüchte, es nimmt uns beim Wort, damit wir es halten. Das Theater ist kein Alibi, das Publikum kein Pudel, das Theater sucht den Kern der Sache, den Grund der Dinge, aber manchmal verschwendet es sich nur, kauert in der Ecke, ringt um Luft und findet doch die zweite."

Ich hatte Mühe, diese Aneinanderreihung an Klischees und Worthülsen zu Ende zu lesen. Wenn Theater alles ist, ist Theater zugleich auch nichts. Es wäre beunruhigend, gingen Theaterleute mit dieser Haltung zurück an die Arbeit. Denn die Verklärung der Bühne als systemrelevante Institution kann der Kunstform nur schaden. Theater müsste dann einfach nur sein, um schon zu genügen. Man kannte diesen Marketingsprech auch schon vor der Krise aus den Dramaturgien. Sein Ziel war nie eine ästhetische Weiterentwicklung, sondern nur die Wahrung des Bestehenden.

2. Der junge Altlinke

Jakob Hayner, Redakteur des Magazins Theater der Zeit, holt in seinem Essay "Warum Theater" zu einem Rundumschlag aus. Er wendet sich gegen eine Kunst, die sich darin erschöpft, politische Haltungen zu transportieren. Er kritisiert die Indienstnahme der Bühne durch die Pädagogik, ja sogar jede Nutzbarmachung schlechthin. Er disqualifiziert Erika Fischer-Lichtes Konzept der autopoietischen Feedback-Schleife als "Kunstmystizismus (...), angerei­chert mit kruder Wissenschaftsskepsis, Tech­nikkritik und Vulgärpsychologie". An vielen Stellen kam ich aus dem zustimmenden Nicken gar nicht heraus.

kolumne wolfLeider jedoch steckt für Hayner hinter den Missständen als Endgegner nur ein altbekannter Pappkamerad namens Neoliberalismus. Ich habe meine Zweifel, ob dieser luftige Begriff mehr beschreibt als die politische Gesinnung seiner Gegner. Und auch, ob sich das Stadttheatersystem in Adornos Kulturindustrie einordnen lässt. Ein Argument, das Hayner wohl ständig begegnet, pariert er es ­doch ebenso routiniert wie eilfertig: "Es ist die wohl raffinierteste Täuschung der Ideologie, dass es einen Bereich gäbe, der von ihr unberührt wäre." Etwas enttäuschend nimmt sich aus, welche Geheimwaffe der 1988 geborene Autor gegen Burger King und Hartz IV in Stellung bringt: Bert Brecht.

An Hayners Beispiel lässt sich erkennen, warum große Teile der Linken seiner (und meiner) Generation sich lieber identitätspolitische Belange auf die Fahnen schreiben. Das Angebot ist einfach attraktiver, die Antworten intuitiver und die Erfolgsaussichten größer. Wer sich auf der Bühne für Minderheiten stark macht, Postkolonialismus oder Black Studies performt, wer Frauenquoten in Regiepositionen einfordert, mag sich mit Nebenwidersprüchen befassen müssen, hat aber immerhin eine Schlacht gewählt, die nicht bereits geschlagen wurde.

3. Der Archivar

Simon Strauß stieß als Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die lesenswerte Reihe Spielplanänderung an, in der Autoren und Kritiker sich für die Wiederentdeckung jeweils eines Stücks aussprachen. Nun erscheinen die Artikel als Buch. Strauß' Initiative richtet sich gegen die Eintönigkeit der immer gleichen Klassikerinszenierungen.

Diesen Missstand halte ich für treffend beschrieben. Ich würde aber nicht davon ausgehen, dass die Zukunft des Theater in seinen Archiven lagert. Strauß' Vision ist eine Retrospektive, nicht nur Stücke betreffend. In einem Video-Interview antwortet er auf die Frage, was in der theaterfreien Zeit fehle: "Wir alle haben permanenten Zugriff auf die Digitalität. 24 Stunden können wir jetzt an unseren Bildschirmen sein. Es erfüllt uns aber eben nicht endgültig. Und was für viele Menschen fehlt, ist der Moment des live stattfindenden Happenings, der Performance, der Darstellung, des Spiels."

Da ist sie wieder, die ewiggleiche Beschwörung des Theaters als Live-Kunst! Wenn ich so was höre, will ich sofort eine Netflix-Serie wegbingen. Und zwar nicht, weil die Aussage falsch wäre, sondern weil sie so schrecklich defensiv ist. Nichts Positives hat das Schauspiel demnach im Ensemble medialer Ästhetik zu bieten, es dient nur als Schutzraum in Zeiten des medialen Sperrfeuers. Anstatt sich der Gegenwart zu stellen, bräuchten sich die Bühnen demnach nur einbunkern. Wenn Strauß so argumentiert, hat ausgerechnet er offenbar auch gar keine Vorstellung davon, was Theater in vordigitalen Zeiten einmal bedeutete, scheint es ihm doch dieser Tage vor allem als ein Gegengewicht zur Virtualität zu dienen. So schrumpft eine Kunst auf das Format einer Digital-Detox-Kur.

In allen drei Beispielen scheint sich das Theater auf einem vermeintlichen Erbrecht ausruhen zu können. Ich fürchte, da gibt es weniger Nützliches zu erben als erhofft. Das muss aber keine schlechte Nachricht sein. Ich bin mir sicher, dass es auch noch in ferner Zukunft ein ästhetisches Angebot für Menschen wie uns geben wird, die wir gerne Theater schauen oder spielen. Ich habe aber meine Zweifel, ob wir selbst diese Kunst entwickeln werden. Vielleicht sollten wir heute schon weniger den Visionen von Theatermenschen Gehör schenken, als Visionären, die zufällig mal im Theater waren.

 

Michael Wolf, Jahrgang 1988, ist Redakteur bei nachtkritik.de. Er mag Theater am liebsten, wenn es schön ist. Es muss nicht auch noch wahr und gut sein. 

 

Zuletzt entdeckte Michael Wolf dramatische Spielräume in den Corona-Verordnungen.

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