Da hast du dich geschnitten, Guido

von Johanna Lemke

Leipzig, 2. Oktober 2008. Von dem Vorbild ist kein Loskommen. 1966 in Frankfurt am Main uraufgeführt, war Peter Handkes "Publikumsbeschimpfung" in der Inszenierung von Claus Peymann eine der wichtigsten Arbeiten jener Zeit, die später mit dem Stempel "68" versehen und zum Inbegriff des Umbruchs wurde. In Videoausschnitten ist die als Skandal geborene Kult-Aufführung vom Theater am Turm auch in Sebastian Hartmanns Leipziger Inszenierung als Pate dabei. Man will nicht verbergen, dass man hier mit Geschichtsträchtigem handelt.

Aber kann ein Stück, das vor 40 Jahren den Nerv der Zeit traf, heute noch aufregen oder amüsieren? Ja. Denn Hartmann hat einen zweiten Kern darin gefunden. In Handkes Stück geht es nämlich nicht nur um die Anprangerung von Mitwissern und heimlichen Tätern des Nationalsozialismus, sondern auch um das Theater selbst. Sein erstes "Sprechstück", in dem keine Figuren gespielt und keine Dialoge geführt werden und das in Tiraden an das Publikum gipfelt, hebt den tradierten Begriff von Theater auf. "Wir sind keine Darsteller. Wir stellen nichts dar. Wir stellen nichts vor", heißt es. Und die stille Vereinbarung, die Grundlage der bürgerlichen Theatersituation, die den Zuschauer zum schweigenden Voyeur macht, wird aufgekündigt. Auf diesen Punkt konzentriert sich der Intendant des Schauspiels Leipzig, das jetzt Centraltheater heißt.

Wahrhaftigkeit in der Resignation

Da sind vier denkbar unprätentiöse Männer, die scheinbar ohne Plan die Bühne zum Nicht-Theater machen. Ihr Spiel beschränkt sich auf läppische Slapstick-Einlagen, stümperhafte Deklamationen und billiges Playback. Felix Goeser, Thomas Lawinky, Peter René Lüdicke und Guido Lambrecht befinden sich in einem Gewirr aus kleinen Katastrophen, Kabbeleien und Bauchnabelschau. Aber ihre Nummern sind permanent am Kippen. Manchmal bringen sie vor lauter Stottern und Haspeln kein verständliches Wort hervor oder deklamieren bis zur Unkenntlichkeit.

Momente der blanken Wahrhaftigkeit entstehen, wenn die Sprecher zwischen ihren peinlichen Show-Einlagen und albernen Zauberstücken in Resignation verfallen. Dann schaut Thomas Lawinky dem Pechvogel Guido Lamprecht dabei zu, wie dieser sich beim Rasieren schneidet: "Du hast dich irgendwie geschnitten, Guido, ziemlich doll. In die Halsschlagader, glaube ich." Und Lambrecht heult hysterisch, aber helfen kann ihm keiner. Was soll man auch noch sagen im Theater von heute, wenn man alle Botschaften schon zig Mal gehört hat.

Es ist dieses fortwährende Brechen der theatralen Situation, das Aufbauen einer Form, die im nächsten Moment, im vollen Angesicht des Zuschauers, zertrümmert wird. Wo sich der Zuschauer eben noch in den einlullenden Bild-Musik-Räumen verloren hat, wird er sofort wieder wachgerüttelt, weil die Musik plötzlich abbricht oder mal eben der Zuschauerraum komplett erleuchtet wird.

Und dann krabbelt Lawinky auf den Schreibblock zu...

Hartmann ist nicht der erste, der sich mit den bürgerlichen Bühnen-Konventionen auseinandersetzt. Im Grunde ist es seit jeher eine zentrale Praktik des Theaters, die eigene Hypnosewirkung auf den Zuschauer zu persiflieren. Aber Hartmann wendet diese Methode mit hartnäckiger Geschicklichkeit an und hat großartige Schauspieler zur Verfügung. Guido Lambrecht als der tragische Trottel mit dem dummdreisten Mondkalb-Blick ist so komisch wie lange nichts mehr, gerade durch die Einfachheit seiner Sketche. Er stößt sich immer wieder den Schädel und fällt in Zeitlupe auf den Misthaufen, und das Publikum quiekt.

Thomas Lawinky hingegen spielt erstaunlich weich und präzise. Wenn er sorgfältig seine Schuhe scheuert und losstapft, einen großen Spiegel zu holen, dann ist das von liebenswerter Ernsthaftigkeit. Einmal, als er durch den Zuschauerraum krabbelt, kommt der Kritikerschreck dem Schreibblock gefährlich nahe. Doch er lässt sich nur gemütlich auf einem leeren Sessel nieder und bietet seiner Sitznachbarin einen Schluck Weißwein an. Aus der Flasche natürlich.

Mit Schimpfwörtern holt man heute niemanden mehr hinterm Ofen hervor, das ist das Eingeständnis dieser Inszenierung. Wer im Saal hätte sich auch von "Nazischweine" oder "Genickschuss-Spezialisten" angegriffen gefühlt? Und so krächzt Lambrecht im prolligen Dialekt "Ihr seid Thäma unserer Bä-schimpfung, ihr Glotzaugäään!" und ein etwa elfjähriges Mädchen kommt auf die Bühne und dient als Sprachrohr für die Pöbeleien im Playback. Die Männer schimpfen im flackernden Licht kaum verständlich in eine Kamera – aber mehr für sich selbst, als dass sie irgendjemanden damit treffen wollten. Eine Schale mit Feuer steht auf der Bühne, zusätzlich wird das Publikum buchstäblich eingenebelt. Das geht ein paar wenige Minuten so, und dann verlassen die fünf Darsteller ganz plötzlich über Seitentüren den Saal.

 

Publikumsbeschimpfung
von Peter Handke
Regie: Sebastian Hartmann. Bühnenbild und Kostüme: Sebastian Hartmann. Mit: Felix Goeser, Guido Lambrecht, Thomas Lawinky und Peter René Lüdicke sowie im Wechsel Nora Dubilier und Florentine Zimmermann.

www.schauspiel-leipzig.de


Mehr lesen über Sebastian Hartmann und seine Neuerfindung des Schauspiels Leipzig als Centraltheater? Hier geht es zur Kritik (samt Kritikenrundschau und ausgiebiger LeserInnendiskussion!) zu Sebastian Hartmanns Matthäuspassion, hier zum Bericht über Jorinde Dröses Die Schock-Strategie. Hamlet.


Kritikenrundschau

Als "grandios hintersinnige Mogelpackung" feiert Gisela Hoyer in der Leipziger Volkszeitung (4.10.2008) Sebastian Hartmanns Lesart des 1966 uraufgeführten Stücks. Außerdem gebe es "viel zu lachen". Mal "mehr oder minder böse", dann wieder "mitleidig", "schadenfroh", oder sogar "einvernehmlich". Entgegen der Ankündigung im Stücktitel jedoch bleibe der Saal eher ungeschoren. Stattdessen geht es zum Wohlgefallen der Kritikerin auf der Bühne vor allem um "Philosophie und Theater", "Raum, Zeit, Welt, Erwartung, Wirklichkeit, Kunst und die verloren gegangenen Gewissheiten."

 

 

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