Kunst mit Kasten vorm Kopf

von Falk Schreiber

Hamburg, 8. Juni 2020. Im Grunde wäre der ganze Aufwand gar nicht nötig gewesen. Im Grunde hätte die dritte Ausgabe des Virtual-Reality-Festivals VRHAM (klingt nach startendem Motorrad, steht für Virtual Reality Arts Festival Hamburg) wie in den Vorjahren im Hamburger Oberhafen stattfinden können – die Corona-Kontaktbeschränkungen sind ja soweit aufgehoben, dass sich ein aerosolarmes Event mit überschaubarer Publikumsmenge durchführen ließe. Andererseits: Es geht bei VRHAM um virtuelles Erleben, und für solch ein Erleben muss man nun wirklich nicht vor Ort sein. Wenn man das nötige technische Equipment hat, dann ist virtuelle Realität wohl tatsächlich ein Modell, wie Kunstpräsentation in Pandemiezeiten gewährleistet bleiben kann.

Zugangshürden statt Barrierefreiheit

Das essentielle Equipment ist eine VR-Brille, in diesem Fall ein rund 450 Euro teures Modell der Marke Oculus Quest. Ein 500 Gramm schwerer Kasten, den man sich vor den Kopf schnallt. Und mit dem man erstens gehörig uncool aussieht und als Brillenträger zweitens recht unbequeme Druckstellen ertragen muss. Mal unabhängig vom stolzen Preis: Barrierefreiheit sieht anders aus.

VRHAM FalkSchreiber 280 SimonePreilerAutor Falk Schreiber beim Festivalbesuch © Simone PreißlerFestivalleiter Ulrich Schrauth spricht in seiner Eröffnungsrede im virtuellen Raum davon, dass es bei VRHAM in erster Linie darum gehe, Künstler*innen Sichtbarkeit zu verschaffen, und darum, Menschen einen Zugang zu einer Kunst zu ermöglichen, mit der sie bis dahin noch nie etwas zu tun gehabt hätten, kurz: Es gehe um die Demokratisierung der Kunst.

Wobei die erste Zugangshürde eben, wie gesagt, ein Gadget ist, das man sich erstmal leisten können muss. Und an dem auch kein Weg vorbei führt: Geht es hier eigentlich noch darum, eine ganz spezifische Kunst zu zeigen, oder geht es darum, ein überteuertes Stück Unterhaltungselektronik möglichst effektvoll zu bewerben? Immerhin hat man es als Pressevertreter leichter: Das Festival stellt einem auf Anfrage eines der Geräte zur Verfügung, so dass man die Ausstellung überhaupt besuchen kann.

Virtueller White Cube

Der eigentliche Besuch führt dann tatsächlich in die ehemalige Gleishalle, die auch während der vergangenen Ausgaben die Heimat von VRHAM darstellte. Nur befindet man sich in der Virtuellen Realität: Die Halle am noch nicht restlos Investorenarchitektur gewordenen Rand der Hafencity wurde liebevoll digital nachgebaut, einzig der etwas staubige Charme der früheren Industriegebäude ließ sich nicht eins zu eins reproduzieren.

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Familienfoto aus "The Key" von Celine Tricart © VRHAM

Man hüpft also etwas unbeholfen durch die Räume, trifft andere Besucher*innen (beziehungsweise deren interessant dekonstruierte Avatare), versucht Kontakt aufzunehmen (was im konkreten Fall allerdings erfolglos bleibt) und landet über kurz oder lang in einem aseptischen Kunsttempel. Interessant: Längst hat sich in der analogen Kunstpräsentation die Erkenntnis durchgesetzt, dass der White Cube nicht unbedingt das Nonplusultra der Ausstellungsräume ist, aber bei VRHAM beharrt man stoisch auf der vorgeblichen Unaufgeregtheit kahler Wände und leerer Zimmer. Auch wenn diese leeren Räume ausschließlich aus Nullen und Einsen bestehen.

Atemberaubende Architekturen

Die gezeigte Kunst kann allerdings nicht mit den erprobten Kriterien gefasst werden. Originalität, ästhetische Eigenständigkeit, Verhältnis von Form und Inhalt treten bei den von der Wucht des Machbaren begeisterten Arbeiten in den Hintergrund. Wichtig ist eher, wie das virtuelle Kunstwerk in einen Dialog mit dem Betrachter tritt. 

Wenn man diesen Dialog nicht zulässt, dann ist man schnell versucht, die gezeigten Arbeiten in einen Genre-Kontext zu stellen, dann wird Mary Sibandes "A Crescendo of Ecstasy" zu Skulptur im virtuellen Raum, Fabio Rychters und Amir Admonis "Gravity VR" zum Trickfilm und das mit dem etwas albern "Vrhammy" betitelten Festivalpreis ausgezeichnete "The Key" von Celine Tricart zum Game (das die eigene Spielbeteiligung nicht ungeschickt unterläuft). Wenn man allerdings diese Kunst neben ihre analoge Entsprechung stellt, dann verliert sie. Ihre Qualität liegt woanders: in einer Immersion, die sich immer dann entzieht, wenn man versucht, den immersiven Charakter in den Vordergrund zu stellen.

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"Gravity VR" von Fabio Rychter und Amir Admoni © VRHAM
 

Was hier immer funktioniert: Arbeiten wie Kris Pilchers "Quantum Tesseract – A Folding in Space and Time" oder Michelle-Marie Leteliers "The Bone": Kunst, die sich auf den Raum bezieht, die mehr Wert auf geometrische Strukturen legt als auf einen inhaltlichen Überbau. Ohnehin, Inhalt. Der bewegt sich hier immer wieder in Richtung unterkomplexer Fantasy-Welten, während die Räume, Formen, Architekturen, die sich auftun, tatsächlich atemberaubend sind.

Keine Kanon-Kunst, sondern ganzheitliches Erleben

Das ist dann freilich mehr ein Problem der traditionellen Kunstkritik als von VRHAM: Es geht bei diesem Festival nicht darum, die Bedeutung einzelner Kunstwerke in Beziehung zum Kanon zu beschreiben, es geht um ein ganzheitliches Erleben, in dem die Kunst ebenso zu ihrem Recht kommt wie die Architektur oder die Kommunikation mit den anderen Beteiligten. Die virtuelle Realität nimmt dabei die Funktion des Bühnenbildes im Theater ein, sie ist elementarer Teil der Aufführung, nicht nur eine Hülle, in der sich das Geschehen abspielt.

Als schwierig erweist sich allerdings, dass VRHAM selbst immer wieder den Anschluss an den Kanon sucht. An einer Wand der virtuellen Ausstellungshalle wird Nietzsche zitiert: "No Artist tolerates Reality". Das verweist auf ein irgendwie radikales, irgendwie gefährlich wirkendes Kunstverständnis, das mit einem kanonisierten Gewährsmann belegt wird. Klingt so cool wie nichtssagend. Und überlagert dabei eine politische Ahnungslosigkeit bei gleichzeitig übergroßem Anspruch. Das ist VRHAM auf den Punkt gebracht: Hier merkt eine Ausstellung vor lauter Begeisterung über die eigene Großartigkeit nicht einmal, dass sie künstlerisch tatsächlich sehr, sehr spannend daherkommt.

Wie gesagt, nichts weniger als eine Demokratisierung der Kunst wünscht sich Festivalmacher Schrauth. Die pannensatte Eröffnung allerdings schafft es nicht einmal, das Grußwort des Hamburger Kultursenators Carsten Brosda ohne Unterbrechung in einen YouTube-Stream zu übertragen. "Das ist unser erstes Streaming überhaupt", entschuldigt sich der Tech Support im Chat, und, klar, wo Menschen arbeiten, darf es auch ruckelig zugehen. Aber vielleicht wäre diese Eröffnung eine Gelegenheit, nicht ganz so überheblich auf die restliche Kunstwelt herabzublicken? Die ach so uncoole Theaterszene etwa macht seit Monaten nichts anderes als einen Stream nach dem anderem zu realisieren. Bei VRHAM derweil folgt ein Konzert der Saxofonistin Stefanie Lottermoser. Musikalisch eher outdated. Aber: mit fingerschnipsenden Avataren.

 

Virtual Reality Arts Festival Hamburg
Künstlerische Leitung: Ulrich Schrauth
Beteiligte Künstler*innen in der VR Exhibition: Jan Kounen, Mary Sibande, Sandro Bocci, Joel ‘Kachi Benson, Joanne Ho, Yao Wang, Fabio Rychter, Amir Admoni, Brian Andrews, Michel Lemieux, Christian Lemmerz, Ida Kvetny, Maxime Coton, Olivia McGilchrist, Kerenza Harris, Alessio Grancini, Kris Pilcher, Youngyoon Song, Sngmoo Lee, Michelle-Marie Letelier, Celine Tricart.
Beteiligte Künstler*innen im VR Cinema: Jan Kounen, Sandro Bocci, Joanne Ho, Yao Wang, Ida Kvetny, Olivia McGilchrist, Kerenza Harris, Alessio Grancini, Youngyoon Song, Sngmoo Lee.
Festival vom 4. bis 7. Juni 2020

www.vrham.de

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