Klebrige Küsse vom Kosmos

von Jan-Paul Koopmann

Lübeck / Stuttgart / online, 6. Juni 2020. Ein normales Stück – ein frontales – hätte "Haus der Antikörper" ja eh nicht werden sollen. Da war der Schritt vom Theater zum gestreamten Kunstfilm-Doublefeature vielleicht gar nicht so gewaltig, wie andernorts für klassischere Formate. Von fünf simultan bespielten Bühnen war vorab die Rede, und von einem Publikum, das mehr oder weniger frei drumherum kreisen sollte, um zu sehen und zu fühlen, wie Viren in Körper und Gesellschaften eindringen und sie von innen auf den Kopf stellen. Dann kam ein echtes Virus, ein Kontaktverbot und aus dem ambitionierten Theaterprojekt wurden zwei knapp 40-minütige Filme: "Pandemie – Eine Wiedergängerin" und "COCOONING /kəˈkuːnɪŋ/". Gedreht wurde direkt in den Wohnungen der Darsteller*innen, in Berlin, Antwerpen, Marseille, München und anderswo.

Auf der Isolierstation

"Haus der Antikörper" ist eine Koproduktion vom Theater Lübeck, der Tanzkompagnie backstein produktion und Theater Rampe aus Stuttgart. Und es ist eine Fortsetzung. Bereits in Sivan Ben Yishais Die tonight, live forever oder Das Prinzip Nosferatu hatte ein Untoter seinen Pestodem verbreitet, wenngleich nicht ganz so klinisch wie heute und noch eher unspezifisch gefasst als eine Idee von Krebs und HIV und irgendwas. Zwischen Lübeck, Stuttgart und Internet fühlen sich also nicht nur lokal-isolierte Produktion und digital-pandemische Verbreitung höchst zeitgemäß an, sondern das Stück ist auch inhaltlich so aktuell wie nur was.

Antikörper2 560 Screenshot u"Dieser Patient entwischt uns nicht": Marie Ulbricht hinter der Maske. Quelle: Screenshot

Der erste Teil, "Pandemie – Eine Wiedergängerin", spielt auf einer anonymen Isolierstation zwischen Knast, Labor und Krankenhaus. Niko Eleftheriadis und Marie Ulbricht treten einander streng getrennt als Konfliktpärchen gegenüber: Er ist Patient und Gefangener, sie seine Ärztin, die eigentlich hinter dem Virus selbst als unsichtbarem Dritten her ist. Die Erzählung bleibt vage und wäre möglicherweise sogar etwas unverständlich, wenn das Publikum nicht so gut drauf vorbereitet wäre. Nicht vom Programmzettel, sondern aus einer Realität, die sich schließlich seit inzwischen drei Monaten mit kaum etwas anderem als Viren, Antikörpern und Isolationsfolgen beschäftigt. Im Zoom auf die mikrobiologische Ebene wird hier von der großen weiten Welt und einer sich schlagartig wandelnden Gesellschaft erzählt. Aber auch das ist dieser Tage ja nichts Ungewöhnliches.

Gestochen scharfe Bildsprache

Es sind jedenfalls vertraute Motive, mit denen die meist experimentellen Einstellungen da ausgesprochen kunstfertig jonglieren. Einmal filmt die Kamera von unten durch eine unruhige Wasseroberfläche groß in das bemundschutzte Gesicht von Marie Ulbricht – und erschafft groteskerweise beides zugleich: den Flimmerblick eines erwachenden Patienten und die Perspektive des Virus', wie es da klein und hilflos in der Petrischale paddelt. "Dieser Patient entwischt uns nicht", sagt Ulbricht und meint wohl wirklich irgendwie beide.

Antikörper1 560 Screenshot uHaupt voll Blut und Wunden: Niko Eleftheriadis Quelle: Screenshot

Die Stimmung ist so angespannt wie das alternativlose Miteinander der letzten beiden Menschen – und schraubt sich klaustrophobisch noch tiefer rein. Unter der Regie von Marie Bues finden der fragmentarische Text von Natascha Gangl und eine gestochen scharfe Bildsprache punktgenau zusammen: Beide behaupten eine Sachlichkeit, die immer wieder kurz ins Poetische schießt, da aber einen fies sterilen Dämpfer bekommt. Einmal wird Eleftheriadis etwa sekundenlang Blut quer durchs grell ausgeleuchtet Gesicht gespritzt: ein Ekelbild, das komischerweise noch schlimmer durch die Korrektur aus dem Off wird, dass es nämlich gar kein Blut sei, sondern "äh, einfach nur rot". Das ist so nüchtern, unfertig und unbefriedigend wie die nächste wissenschaftliche Corona-Studie mit einer Halbwertzeit von drei Tagen. Aber eben auch genauso wahr.

Alles bleibt fremd

Mit einfacher, aber wirkungsvoller Tricktechnik werden die Figuren bis zum Ende immer weiter vervielfältigt, sitzen und stehen im Abschlussbild wie kopierte Viren und Antikörper neben- und zwischeneinander: 18 mal Niko Eleftheriadis im leuchtend blauen Anzug, 21 grell orange Marie Ulbrichts. Wie sie nun funktioniert und was sie ausmacht, die nach dem Medizinkrieg neu sortierte Gesellschaft, bleibt dabei bemerkenswert offen. Nicht im Sinne abgewogener Vor- und Nachteile, sondern einfach, weil alles so fremd bleibt. Vielleicht weil diese Bilder vom Danach eben noch nicht vertraut sind. Doch obwohl die drastischen Veränderungen hier nicht unbedingt bösartig ausfallen, haben sie erfreulicherweise nichts von dieser "Krise als Chance", wie sich's die Überprivilegierten dieser Welt schon seit der ersten Lockdownwoche lustvoll in den Mundschutz hauchten – während in China, Italien und New York noch die Leichen abgefahren wurden.

Antikörper 560 Screenshot uDie neue "Antikörper"-Gesellschaft: Niko Eleftheriadis, Marie Ulbricht und ihre Doubles. Quelle: Screenshot

Als zweiter Film aus dem Haus der Antikörper beschäftigt sich "Cocooning /kəˈkuːnɪŋ/" auf ähnlichem Abstraktionsniveau dann sehr viel körperlicher mit der Infektion. In zunächst streng getrennten Szenen exerzieren die Tänzer*innen Chloé Beillevaire, Andreia Rodrigues, David Ledger und Steven Chotard ein gemeinsames Unbehagen durch. Schauplätze sind ihre eigenen Bäder, Schlafzimmer und Treppenhäuser. Hinter den Kameras stehen Partner*innen oder die ihnen sonstwie verbundene Mitbewohnerschaft.

Was macht das Eingesperrtsein mit uns?

Der Film ist eine vielleicht notwendige persönliche Ergänzung zum unterkühlten Gesellschaftsbild aus "Pandemie – Eine Wiedergängerin". Während ein auch hier vager Rahmen die Tänzer*innen als Organe eines Großkörpers einführt, verschwimmt diese Verortung bald hinter der brutzelnden Entladung aufgestauter Energie. Es gilt tatsächlich für alle vier, dass sie auf engstem Raum extreme Spannung aufbauen und zum Ausbruch bringen, wenn etwa Chloé Beillevaire in ihrer nicht besonders großen Badewanne wie in einer bis unter die Decke gekachelten Zelle zittert, sich windet und sich wie geschraubt zum Hahn des Waschbeckens hinquält.

Auch hier entstehen widersprüchliche Bilder zwischen totaler Ruhe und extremer Aufgewühltheit. Aus allem schreit die Frage, was das mit uns macht: das Eingesperrt-Sein mit uns selbst. Selbst als die vier gegen Ende in Stopmotion in Zuckerwatte gewickelt werden, um schließlich gemeinsam als monströse, klebrige Kugeln einen bewaldeten Hang hinunter zu rollen, wird noch diskutiert: Ist diese unsere einsame Transformation nun "ein besonderer Moment", gar eine "Umarmung des Universums" - oder einfach nur ekelhaft? Keine Ahnung. Dass es aber irgendwie weitergeht, beweist "Haus der Antikörper" unter widrigen Bedingungen, mit zuweilen sicherlich bedrückender Aktualität noch mit beachtlichem ästhetischen Überschuss.

 

Haus der Antikörper
Eine Koproduktion von backsteinhaus produktion, Theater Rampe und Theater Lübeck

Pandemie – Eine Wiedergängerin
Ein Theaterfilm von Marie Bues, Niko Eleftheriadis, Marie Ulbricht, Annatina Huwiler und Luise Heiderhoff, mit Texten von Natascha Gangl
Regie: Marie Bues, Dramaturgische Mitarbeit: Martina Grohmann, Produktionsleitung: Isabelle Gatterburg, Projektkoordination: Luise Heiderhoff, Ausstattung: Annatina Huwiler, Musik: Siri Thiermann, Kamera und Schnitt: Niko Eleftheriadis, Filmische Mitarbeit: Christopher Bühler, Technische Leitung: Max Kirks, Bühnenbau: Stephen Herter, Tontechnik: Timo Kleinemeier, Technik: Sebastian Fürst, Christoph Schmitz, Alex Weidle.
Mit: Niko Eleftheriadis und Marie Ulbricht.
Premiere am 6. Juli 2020
Dauer: 38 Minuten

COCOONING /kəˈkuːnɪŋ/
Ein Tanzfilm von backsteinhaus produktion
Von und mit: Nicki Liszta, Heiko Giering, Isabelle Von Gatterburg, Tobias Tönjes, Christopher Bühler, Annatina Huwiler, Chloé Beillevaire, Steven Chotard, David Ledger, Andreia Rodrigues, Ferdinand Roscher, Monika Roscher.
Premiere am 6. Juli 2020
Dauer: 39 Minuten

www.haus-der-antikoerper.de

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