"Odem" vom Staatstheater Kassel

11. Juni 2020. Weil die Theater erst allmählich wieder Türen, Tore und Bühnen öffnen, stellt nachtkritik.de noch bis Juli einen digitalen Spielplan aus Mitschnitten von Inszenierungen zusammen: Vom 11. Juni, 18 Uhr, bis 12. Juni zeigen wir für 24 Stunden "Odem", geschrieben und inszeniert von Wilke Weermann. Nachtkritiker Michael Laages sah in dem "Schauspiel für drei Androiden und eine Nonne", das von Ferne her zu Mary Shelleys "Frankenstein" hinübergrüßt und aus der Nähe betrachtet, nicht wenig mit der Diskussion über Künstliche Intelligenz zu tun hat,  eine "freie Fantasie über die Erfiindung des Menschen".

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Das Staatstheater Kassel schreibt auf seiner Website über "Odem":

"Die Unsicherheit darüber, ob mein Gegenüber ein Mensch ist oder eine Maschine, ist auf sozialen Plattformen bereits jetzt alltäglich. Schreibt mir ein Bot? Wie wird er sich verraten? Bald werden wir nicht mehr wissen, ob unser Chauffeur ein Mensch gewesen ist mit einem Bewusstsein, ob ein Mensch uns operiert hat oder unsere Heimatstadt zerstört. Was, wenn ich sogar den Tod umgehen kann, indem ich das berechenbare Skelett meiner Persönlichkeit, indem ich meinen Tonfall und mein Aussehen auf einen Androiden übertragen kann? Oder das meines verstorbenen Partners? Zumindest für eine Zeit, klar, um die Trauer zu überwinden. Meine Gefühle werden echt sein, alles andere nicht. Natürlich kann sich dieser Entwurf ins Dystopische verkehren, wenn mein gehackter Sexroboter plötzlich versucht, mich umzubringen. Doch wenn nichts schiefgeht, ist er dann utopisch?
Es heißt, wir wären heutzutage besonders anfällig für Vorurteile, weil die Welt uns überfordert. Wir greifen auf das zurück, was man schon immer gedacht hat, denn es erhält uns Struktur und Zusammenhänge, die wir so dringend zum Leben brauchen. Fake News funktionieren also, weil wir uns nach Klarheit sehnen. Hauptsache ist, wieder eine Welt zu kreieren, die funktioniert, wie sie soll. Das ist nämlich das Kernproblem der sogenannten realen Welt: Sie kann nicht funktionieren, wie sie SOLL, denn sie SOLL nicht. Unerträglich eigentlich.
Was tut sich also in unserer Gefühlswelt, wenn wir uns vor der Einsamkeit nur mit noch mehr Technik verschanzen? Was, wenn die Androiden selbst gar nicht wissen, dass sie keine echten Menschen sind? Kann uns die Liebe für die Maschinen letztlich in den Wahnsinn treiben, wie es auch in E.T.A. Hoffmanns »Sandmann« passiert? Was ist der Unterschied zwischen Erlösung und Fortschritt? Wo bleibt die Zivilgesellschaft im Cyberspace? Ist der Cyborg nicht unser Freund gegen die virale Macht des gestaltlosen Netzes wie der gute alte Terminator? Worin unterscheidet sich das elektrische Einhorn, von dem der Android vor dem Tannhauser Gate in »Blade Runner« träumt, von dem süßen Einhorn in unseren Kinderzimmern?"

 

Michael Laages schreibt in seiner Nachtkritik vom 9. November 2018:

" .... Wilke Weermann hat eine verstörende kleine Spielanordnung voller kluger Material-Zitate entwickelt, deren thematische Zusammenhänge eine Menge Gedankenfutter bereithalten für die Zeit danach. Die szenische Umsetzung gerät verspielt und elegant; Weermann gehört offenbar zu denen, die sich in beträchtlicher Selbstsicherheit Zeit lassen können und nichts überstürzen. Da ist ein Talent auf bestem Wege."

 

Odem
Text und Inszenierung: Wilke Weermann, Bühne und Kostüm: Josa Marx, Komposition: Constantin John, Dramaturgie: Thomaspeter Goergen.
Mit: Marius Bistritzky, Lona Culmer-Schellbach, Eva-Maria Keller, Alexandra Lukas und der Stimme von Alexander Marsch.
Premiere am Staatstheater Kassel am 9. November 2018
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-kassel.de

 

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