Nicht bloß schlechte Geschäfte

von Alice Saville

London, 14. Juni 2020. Theater ist gut im Geschichtenerzählen. Es erzählt sie, es wiederholt sie und findet frische Formen, damit Geschichten wieder neuen Biss kriegen. Da die Coronavirus-Pandemie jetzt Live-Theatervorstellungen beinahe unmöglich macht, müssen die britischen Theater all ihre Ressourcen einsetzen, um eine Geschichte zu erzählen, die sowohl schmerzhaft als auch von zentraler Bedeutung für ihr Überleben ist: eine Geschichte, die erklärt, warum Theaterkompanien und Gebäude in einer Zeit der Krise erhalten bleiben müssen.

Das Vereinigte Königreich hat die traurige Ehre, eine der höchsten Corona-Todesraten der Welt aufzuweisen. Das Vertrauen in die Regierung, die "business as usual" über Leben gestellt hat, ist weitgehend erschüttert. Zwar hat die Regierung mit ihrem Kurzarbeitprogramm den Theatern (und anderen angeschlagenen Unternehmen) ermöglicht, vorerst zu überleben, doch diese Unterstützung wird sich ausdünnen und im Oktober vermutlich ganz enden. Ebendiese Regierung hat auch gesagt, dass die soziale Distanzierung bis 2021 bestehen bleiben wird – und da die britischen Spielstätten stark von den Einnahmen aus dem Kartenverkauf abhängen, ist ein Spiel vor teilweise leergeräumten Sälen, wie es vom Berliner Ensemble ausprobiert wird, finanziell ein Ding der Unmöglichkeit.

James Grahams Investitionsforderung

Also was nun? Kulturminister Oliver Dowden hat zwar gesagt: "Ich werde nicht zusehen, wie die Künste zerstört werden." Bisher hat er aber weitgehend geschwiegen, während regionale Spielstätten wie Leicester's Haymarket Theatre, Southport Theatre und Nuffield Southampton Theatre bereits pleitegingen.

Großbritanniens Theaterkünstler warten sehnsüchtig auf Nachrichten und drängen die Regierung via Zeitungen und Rundfunk zum Handeln. Der Dramatiker James Graham war eine der ersten wesentlichen Stimmen, die die Unterstützung der Theater auf die Tagesordnung der Regierung setzte; in einer eindringlichen Rede in der BBC-Sendung "Question Time" forderte er "eine Investition" und nicht bloß eine Rettungsaktion, um die Zukunft des Theaterbetriebs zu sichern. Zugleich erklärt er, dass er sich unwohl fühle, plötzlich ins Rampenlicht zu taumeln: "Wir bitten die Regierung ständig um Geld, damit wir sie zur Rechenschaft ziehen können, was eine seltsame Position ist.“

National Theatre London 560 c CC BY SA 20Das National Theatre in London © CC BY-SA 2.0

Gleichwohl ist Graham durch politische Dramen wie seinen Blockbuster "This House" an Londons National Theatre dazu ungewöhnlich gut in der Lage: "Ich verbringe viel Zeit damit, in meiner Phantasie durch die Korridore der Macht zu wandern. Ob zum Guten oder zum Schlechten, ich schreibe die Art von Stücken, zu denen Politiker kommen, um sie zu sehen. Wie kann ich diese Arbeit nutzen, um sie an die Verletzlichkeit des Theaters zu erinnern?"

Graham wies darauf hin, dass diese Regierung unverhältnismäßig stark über die Medien kommuniziert; Premierminister Boris Johnson verbrachte einen Großteil seiner früheren Karriere als Zeitungskolumnist. "Ideen werden auf die Probe gestellt, indem sie den Zeitungen zugespielt werden. Diese Form der Amtsführung basiert fast ausschließlich auf Kommunikation, weniger auf politischem Handeln."

"Talking Tory" und die Tücken der Anpassung

Die Kritikerin Kate Maltby ging in dieser Deutung noch weiter, als sie einen kontroversen Artikel in The Stage schrieb, in dem sie führende Persönlichkeiten aus dem Kunstbereich aufforderte, zu lernen, wie die konservativen Torys zu sprechen ("talk Tory"). Aus ihrer Sicht sollte sich die Argumentation für den Erhalt der Theater auf drei zentrale Themen stützen sollten: wirtschaftlicher Wohlstand, psychische Gesundheit und die Rolle des Theaterbaus als Drehscheibe der bürgerlichen Stadtgesellschaft. Aber ignoriert dieser Ansatz womöglich alles, was das Theater ausmacht?

Regisseur Omar Elerian widerspricht dieser Annahme, dass wir "lernen sollten, wie die Torys zu sprechen" mit Nachdruck: "Ich finde dieses Argument völlig naiv, denn es basiert auf der Annahme, dass wir innerhalb der herrschenden Strukturen arbeiten und sie um jeden Brotkrümel zu bitten haben, den sie uns geben könnten." Bevor er nach Großbritannien zog, lebte Elerian in Frankreich – und er spricht mit Bewunderung von einer Kultur, in der Künstler energisch gegen Kürzungen protestierten, anstatt sie stumm zu akzeptieren.

Die Sprache der Zahlen

Wie die "Torys zu reden", bedeutet zumeist, sich in Zahlen auszudrücken. Eine populäre Statistik besagt, dass die Regierung für jedes in die Kunst investierte Pfund 5 Pfund an Steuern einnimmt. Aber was bedeuten diese Zahlen eigentlich, wenn sie Steuern auf alles, von Videospielverkäufen bis hin zu Restaurantkosten vor dem Theaterbesuch enthalten? Wie die Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin Eleonora Belfiore erklärt: "Meine Untersuchungen zeigen, dass diese Art von Argumenten präsenter werden, wenn sich die Künste bedroht fühlen. Es ist eine defensive Strategie. Meiner Meinung funktioniert sie nicht, wenn man den Fall wirklich überzeugend vorbringen will." Stattdessen greifen überhöhte Statistiken um sich, und die Theater verlieren den Kontakt zu anderen, emotionaleren Möglichkeiten, den Wert des Theaters zu verteidigen.

Während Frankreich protestierte, hat die Kunstszene Großbritanniens gelernt, Schnitt für Schnitt zu überstehen und sich daran anzupassen. Die jüngste Umfrage der National Campaign for the Arts ergab, dass die öffentlichen Gelder für die Künste seit dem Finanzcrash 2008 pro britischem Bürger um 35 Prozent zurückgegangen sind. Einnahmen (aus Kartenverkauf, Vermietung von Veranstaltungsorten, Verkauf von Speisen und Getränken und anderem) füllten die Lücke und stiegen um 47 Prozent. Es ist verlockend, als Gegenleistung für eine Rettungsaktion der Regierung eine weitere phönixartige Neuerfindung zu versprechen. Aber die beeindruckende Fähigkeit des britischen Theaters, sich an eine Krise anzupassen, ist genau das, was seine Leiden so groß macht, jetzt, da die Spielstätten über Nacht alle Einkünfte verlieren.

staysafe 560 c unsplashTheater in London: Pleite über Nacht © Unsplash

Nicht nur die Theatergebäude leiden. Heute sind 70 Prozent der Theatermitarbeiter freiberuflich tätig und diese prekäre Belegschaft ist von der Krise zuerst betroffen. Das Projekt Artists Fund Artists der Dramatikerin Sabrina Mahfouz ist ins Leben gerufen worden, um die große Zahl von freien Autoren, Schauspielern, Regisseuren und anderen Kreativen, die von den Förderpaketen der Regierung ausgeschlossen sind, zu unterstützen. Mahfouz erklärt, dass "die Umverteilung von persönlichem Reichtum und öffentlichen Geldern schon immer etwas war, an dem ich in seinem Potenzial für einen echten, systemischen gesellschaftlichen Wandel interessiert war".

Während die Proteste gegen Rassismus und die Vorherrschaft der Weißen sowohl in den USA als auch im Vereinigten Königreich weitergehen, richtet der Fonds seine Gelder derzeit auf schwarze Künstler aus, wie Mahfouz erklärt: "Schwarze Künstler leisten unverhältnismäßig viel unbezahlte Arbeit, indem sie erziehen, protestieren, demontieren, entkolonialisieren – Dinge, die allen in der Gesellschaft zugutekommen."

Wen retten – und warum?

Ihre Vision sieht Künstler als Agenten des sozialen Wandels – nicht als gute Investitionsaussichten. Das ist eine Sprache, die weit entfernt ist von den Mainstream-Argumenten von Leuten wie Sam Mendes, der in einem kürzlich erschienenen Artikel der Financial Times verspricht, dass jede staatliche Investition in das Theater um ein Vielfaches zurückgezahlt wird. Wie Omar Elerian sagt: "Für den kommerziellen Sektor macht das alles Sinn, aber wenn es um den subventionierten Sektor und Theater außerhalb Londons geht, funktioniert es nicht. Nur weil etwas nicht zum öffentlichen Wachstum beiträgt, heißt das noch lange nicht, dass es abgeschnitten werden sollte".

battersea arts centre 560 c manuel vason u"United we stand": Das Battersea Arts Centre nach der Wiedereröffnung © Manuel Vason

Was wie ein isolierter Fall erscheinen mag – die Rettung des Theaters – ist in Wirklichkeit komplex und vielschichtig. Die Rettung der kommerziellen Machtzentren des Londoner West End ist eine ganz andere finanzielle und soziale Angelegenheit als die Rettung einer beliebten, aber unrentablen lokalen Bühne. Und die Argumente, die Politiker ansprechen, sind nicht notwendigerweise diejenigen, die die öffentliche Meinung ansprechen, die Boris Johnsons ins Schlingern geratene Regierung so sehr zurückgewinnen möchte.

Elerian erklärt: "Im Battersea Arts Centre gab es nach dem Brand im Jahr 2015 deshalb große öffentliche Unterstützung, weil dieses Theater zuvor in seinen Standort investiert hatte, auch jenseits davon, einfach nur Stücke zu produzieren. Aber viele andere Institutionen, die durch öffentliche Subventionen finanziert werden, haben das nicht getan und sind nun zu bloßen Kästen und Räumen geworden, in denen eben Dinge geschehen. Die Frage ist: Wenn wir ein Theater verlieren, was verlieren wir dann? Eine Spielzeit mit Programmen? Oder einen Leuchtturm unserer Gemeinschaft?"

Das Ideal des öffentlichen Guts

Das erinnert an eine sehr viel ältere Idee – das Ideal des Gemeinwohls. Der britische Arts Council entstand 1946, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, und wurde vom Ökonomen Maynard Keynes mitbegründet. Er nutzte die sozialen Investitionen, um Großbritanniens tiefe Nachkriegsschwermut zu lindern. Graham sagt: "Das war eine grundlegende Entscheidung, die Künste in die DNA dieser neuen Welt einzubauen."

Wie können wir also diesen Sinn des Theaters als etwas an sich Gutem und Wertvollem zurückgewinnen und gleichzeitig von Statistik-Argumenten loskommen, die die Vorstellungskraft eines müden Publikums nicht gerade animieren? Das ist eine Frage, mit deren Beantwortung sich sämtliche meiner Interviewpartner schwertaten. In einer Zeit, in der die Theaterszene eigentlich zusammenarbeiten müsste, um einen gemeinsamen Plan für ihr Überleben zu entwickeln, ist sie stattdessen zersplittert; es gibt wachsende Spannungen zwischen schlechtgestellten, oftmals isolierten Freischaffenden und den festbezahlten Angestellten der Theaterhäuser. Und auch die Festangestellten sind häufig von den Debatten abgeschnitten. Entweder aufgrund der Bedingungen der Kurzarbeit, deretwegen sie rechtlich nicht arbeiten dürfen, oder aus Angst vor massenhaften Entlassungen. Dennoch machten viele deutlich, dass die momentane Quelle allen Übels im Theater – das Zusammensein im selben Raum – zugleich auch seine Rettung sein könnte. Oder wie Graham sagte: "Ich glaube nicht, dass wir wollen, dass unsere Zukunft privat, isoliert und atomisiert ist. Wir wollen zusammen sein."

Innere Erneuerung des Theaters

Die Geschichte, die die Theater also erzählen sollten, hat nichts mit aufgeblasenen Statistiken und finanziellen Investitionen zu tun. Denn das Argument der Rentabilität legt nahe, dass Theater auch nichts weiter seien als Unternehmen – und Unternehmen können scheitern und sie tun es auch. Stattdessen sollten wir, wie Belfiore meint, "artikulieren, warum und wie die öffentliche Finanzierung von Kunst und Kultur für eine gute Gesellschaft notwendig ist. Wir brauchen dieses wertvolle öffentliche Gespräch, und wir brauchen mutige Kunstorganisationen, die bereit sind, ihr Publikum in solch eine Debatte einzubinden."

Als Zeitungen und soziale Medien die Bilder des Feuers verbreiteten, das 2015 aus dem Dach des Battersea Arts Centre loderte, gingen die Spenden wie ein warmer Regen nieder. Wir müssen die gegenwärtige Krise im britischen Theater jetzt mit derselben brennenden, emotionalen Kraft zum Ausdruck bringen. Allerdings müssen wir – so wie das Battersea Arts Centre nach dem Brand seine Innenräume tauglich für das 21. Jahrhundert gemacht hat – auch signalisieren, dass die Theater in der Lage sind, sich an neue Zeiten anzupassen. Mahfouz: "Ich denke, die Regierung sollte die Theater während der Krise unterstützen, damit sie überhaupt in die Lage versetzt werden, sich selbst zu retten – und zwar indem sie sich von innen heraus völlig erneuern." Den Wert des Theaters zu behaupten wird also auch bedeuten, von krisengeschüttelten Communities zu lernen, ihnen zuzuhören und sie zu reflektieren. Mahfouz kommt zu dem Schluss: "Wenn die Theaterindustrie nicht in der Lage ist, einen systemischen Wandel in sich selbst herbeizuführen, dann bin ich mir nicht sicher, ob sie es wert ist, gerettet zu werden."

 

Alice Saville ist Redakteurin beim britischen Theater-, Tanz- und Performance-Magazin Exeunt. Außerdem schreibt sie Kritiken und Artikel für verschiedene Publikationen, darunter Time Out und Financial Times.




(Übersetzung von Janis El-Bira und Christian Rakow)

 

Lesen Sie hier den Text in englischen Original.

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