Sich kreuzende Spuren der Gewalt

von Şeyda Kurt

16. Juni 2020. Meine Mutter sitzt Abend für Abend vor dem Fernseher. Manchmal leiste ich ihr Gesellschaft. Wir schauen ihre Lieblingssendung: Zwei Teams campieren an einem verlassenen Strand in der Dominikanischen Republik, ohne Kontakt zur Außenwelt. Sie leben – zumindest vor der Kamera – ohne Hab und Gut in Zelten und müssen sich selbst versorgen. Sie fischen, manchmal essen sie tagelang von einem Sack Reis. Unter der prallen Sonne treten sie in Parcourswettbewerben gegeneinander an. Wer gewinnt, darf schlemmen. Oder verreisen. Aus dem Team der Verlierer*innen muss eine Person den Wettkampf verlassen. Wer die mehrmonatige Odyssee bis zum Ende durchhält, darf sich auf einen Haufen Preisgeld freuen. Das Spektakel wird unter dem Namen Survivor auf dem Kanal TV8 ausgestrahlt und gehört zu den erfolgreichsten Sendungen im türkischen Fernsehen.

Zusammengehalten von einer strammen, niederträchtigen Logik

Wenn ich meiner Mutter nicht vor der Röhre Gesellschaft leiste, erzählt sie mir am Telefon, was auf der Insel passiert. Eines Tages berichtet sie mir von den neuesten Entwicklungen rund um einen der Kandidaten. Zunächst höre ich nicht zu. Dann höre ich zu. Ich vergesse die Geschichte. Dann erinnere mich wieder an sie. Sie geht mir tagelang nicht aus dem Kopf. Zunächst finde ich sie abstrus. Dann grotesk. Dann beginnt sie, Sinn zu ergeben – wie es nur Ereignisse tun, die in ihrem Kern von einer strammen, niederträchtigen Logik zusammenhalten werden. Ich sehe eine Tragödie mit lauter Spuren der Gewalt aus Kolonialisierung und Ausbeutung, die sich kreuzen. In den Hauptrollen: ein Theaterschauspieler. Und sein Hund.

Der Theaterschauspieler heißt Ersin Korkut. Er ist 42 Jahre alt und hat in zahlreichen Theater- und Filmproduktionen mitgewirkt. Er ist der Cousin von einem der renommiertesten Theater-und Filmschaffenden der Türkei. In der Saison 2020 nimmt Korkut das erste Mal an Survivor teil, im ünlüler takımı, im Team der Promis. Wegen seines Humors und seiner Hilfsbereitschaft, aber auch seiner sportlichen Leistungen, gehört er zu den beliebtesten Kandidat*innen.

NAC Kolumne Seyda Kurt V1In der Folge des 12. Mai wird plötzlich verkündet, dass Korkut die Sendung unerwartet nach drei Monaten verlassen muss. Der Grund sei eine leichte Verletzung, wie der Moderator und Produzent der Sendung, Acun Ilıcalı, erklärt. Der abgemagerte und bärtige Ersin ergreift nach ihm das Wort: "Ich bin wirklich traurig, dass ich mein Team nicht mehr unterstützen kann", sagt er. "Ich entschuldige mich bei allen." Dann fragt er sich lachend, ob sein geliebter Hund daheim ihn trotz seines üppigen Barts erkennen werde. "Das ist das Erste, was ich tun werde: meinen Hund sehen."

Korkut liebt seinen Hund. Er weiß in diesem Augenblick noch nicht, dass der Hund bereits verstorben ist.

In Korkuts Abschiedsfolge weinen die Kandidat*innen. Die Zuschauenden weinen. Meine Mutter weint. Und ich frage mich: Was treibt einen Theaterschauspieler auf die Dominikanische Insel, während er die Zeit mit seinem geliebten Hund verbringen könnte? Warum steht er nicht auf einer Theaterbühne? Warum muss er die Sendung wegen einer leichten Verletzung verlassen, während andere Kandidat*innen ständig verletzt sind und trotzdem weitermachen? Und warum scheinen diese Fragen die Zuschauenden nicht zu beschäftigen?

Die Antworten suche ich in der Geschichte und Gegenwart vierer Orte, die für Korkuts Geschichte und diese Kolumne von Bedeutung sind: Türkei, Nordkurdistan, Dominikanische Republik und Deutschland.

Türkei: An politische Konformität geknüpfte Idealisierung der Künstler*innen

In meiner Kindheit füllten Theaterstücke das türkische Abendprogramm im Fernsehen. Familien versammelten sich und schauten gemeinsam Komödien wie Bir Demet Tiyatro bis hin zu Improvisationstheater. Die Darstellenden wurden wie Popstars gefeiert. Man nannte sie Usta ("Meister*in") oder sanatçı ("Künstler*in").

Früher habe ich mich gefragt, wie das zusammenpasst: Einerseits werden populäre Theaterschaffende oftmals als Volkskünstler*innen betrachtet. Alle kenne sie, alle lieben sie, sie sind eine*r von uns. Auf der anderen Seite werden sie mit Worten der Ehrfurcht überschüttet, die Mehrheitsgesellschaft bückt sich vor ihnen in diesem mystifizierenden und demütigen Duktus. Heute weiß ich, dass diese Idealisierung der Künstler*innen auch eine Erpressung ist: Die Bewunderung und Erhöhung ist geknüpft an politische Konformität.

Im Jahre 2002 kam die Partei AKP des heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan an die Macht. Ich behaupte, dass die Künste bis dahin als Ventil für bürgerliche, liberale Kreise fungiert hatten, die sich gerne aufgeklärt und westlich präsentierten. Wie das begehrte und gefürchtete Europa. Die Erhöhung der westlich gelesenen Kunst wie des Theaters war eine Anbiederung, wenn auch staatliche Repressionen und Zensur in der Türkei schon immer zur Tagesordnung gehörten. Auch auf dieser kulturellen Repression fußt die Republik, in deren Gründungszeiten etwa kurdische Musik verboten wurde. Doch heute, wo es dieses staatlich verordnete Begehren nach Europa nicht mehr gibt, gibt es auch kein institutionelles, mehrheitsgesellschaftliches Interesse mehr am Theater.

Die Regierung macht keinen Hehl daraus. 2009 wurde etwa das Traditionstheater Emek Tiyatrosu dem Erdboden gleichgemacht, um Platz für ein Einkaufszentrum zu schaffen. Die Bedrohung und Gewalt an Kunstschaffenden ist offener und brutaler geworden. Im Sommer 2013 gingen in türkischen und kurdischen Städten Millionen von Menschen gegen die Regierung und gegen Polizeigewalt lang auf die Straße, wochenlang. Es war die Zeit der Gezi-Proteste, die blutig niedergeschlagen wurden.

2015 wurden Ersin Korkut und Dutzende andere Verdächtige wegen Drogenkonsums, -besitzes und -handels sowie der Gründung einer Organisation angeklagt. Darunter waren viele Schauspieler*innen und Künstler*innen, die an den Gezi-Protesten teilgenommen hatten. Korkut gab an, ein paar Mal illegale Drogen konsumiert zu haben. Er wurde zu zehn Monaten Haft verurteilt.

Nordkurdistan: Die kurdische Sprache wird fremd gemacht

Die Herkunft des Theaterschauspielers Ersin Korkut spielt in dieser Geschichte eine essenzielle Rolle. Denn Korkut wurde im kurdischen Colemêrg, zu Türkisch Hakkâri, geboren. Die Stadt liegt an der Grenze zum Irak und Iran.

Lese ich Artikel über Korkut, stoße ich immer wieder auf eine Beobachtung: Er sei als Schauspieler besonders durch seinen "seltsamen" Dialekt aufgefallen. Seltsam. Dabei ist Korkuts Muttersprache Kurmancî, also Kurdisch. Sein Dialekt ist kurdisch. Türkische Medien bezeichnen eine Sprache als "seltsam", die derzeit von rund fünf Millionen Menschen innerhalb der eigenen Staatsgrenzen gesprochen wird.

Und tatsächlich erinnere ich mich an viele Szenen aus der Sketch-Sendung Çok Güzel Hareketler Bunlar, die von 2008 bis 2011 im türkischen Fernsehen lief. Korkut gehörte zum Ensemble. Immer wieder gab es Szenen, in denen er wegen seines Dialekts aufgezogen wurde.

"Seltsam" ist der freundlichere Ausdruck der Gewalt, die seit Jahrzehnten durch den türkischen Staat und die Gesellschaft auf die kurdischen Städte, die kurdische Sprache und ihrer Sprecher*innen ausgeübt wird. Die türkische Republik befindet sich seit ihrer Gründung im Jahre 1923 im Krieg mit widerständigen Kurd*innen. Ihre Sprache wird fremd gemacht, verboten, kriminalisiert. Im Dezember 2018 schießt ein Mann in Sakarya auf einen Vater und seinen sechzehnjährigen Sohn. Sein Motiv: Die beiden hatten kurdisch gesprochen. Der Vater stirbt, der Sohn wird schwer verletzt.

Am 10. Mai, am Muttertag, bekommen die Kandidat*innen von Survivor Videobotschaften ihrer Mütter zu sehen. Das Publikum schaut mit. Mütter und Kandidat*innen sind bewegt, weinen. Eine in der Tschechischen Republik geborene Kandidatin bekommt eine. "Ich bin unendlich stolz auf dich", sagt ihre Mutter. Sie spricht tschechisch. Die Botschaft ist türkisch untertitelt.

Auch Ersin Korkut bekommt eine Videobotschaft seiner Mutter. "Ich vermisse dich", stammelt sie. Es fällt ihr offenbar schwer, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Denn sie spricht türkisch statt kurdisch. Musste sie oder wollte sie? In den folgenden Tagen fragen sich viele Menschen im Internet, warum ihre Botschaft nicht wie jene der tschechischen Mutter hätte untertitelt werden können.
Als Korkut nur zwei Tage später die Sendung überraschend verlassen muss, sind seine Fans überzeugt, dass das Ausscheiden von dem Moderator und Produzenten Acun Ilıcalı forciert wurde. Dieser habe nicht gewollt, dass Korkut den Wettbewerb gewinne. Oder: Zwischen den beiden habe es einen Streit gegeben, weil Ilıcalı Korkuts Mutter verboten hatte, kurdisch zu sprechen. Die Gerüchte wurden von Ilıcalı – der übrigens seit Jahren Lobeshymnen auf Erdoğan singt – dementiert.

Dominikanische Republik: Kolonialistischer Exotismus im Fernsehsetting

Acun Ilıcalı gehört als Fernsehproduzent zu den reichsten Männern der Türkei. Survivor ist gleichsam seine Goldgrube.
Nach Gold suchte auch der Kolonialisierer Christoph Kolumbus, als er am 5. Dezember 1492 auf einer karibischen Insel landete. Spanien kolonisierte den östlichen Teil der Insel, während die ihnen zur Hilfe eilenden Franzosen den westlichen Teil vereinnahmten und ihn Saint Domingue nannten. Aus ihm wurde später Haiti. Den östlichen Teil der Insel nannten die Spanier Santo Domingo, die heutige Dominikanische Republik.

Ob Columbus damals tatsächlich Gold fand, weiß ich nicht. Was feststeht: Für die Spanier und Franzosen war die Kolonisierung ein profitables Geschäft. Die indigenen Völker der Arawak, Ciboney und der Kariben wurden ermordet, versklavt und nach Europa geschifft.

Angeblich ist die Dominikanische Republik das erste Land auf dem amerikanischen Kontinent, in dem – von den Spaniern initiiert – Theateraufführungen stattfanden.

Erst 1844 wurde Santo Domingo unabhängig von Haiti und Spanien und benannte sich um. Doch die Kolonialisierung endet nicht mit einem Vertragsschluss. Die politischen und sozialen Folgen wirken bis in die Gegenwart.

Und auch in der türkischen Fernsehsendung Survivor offenbart sich eine kolonialistische Praxis. Das Produktionsteam belagert über Monate hinweg einen Inselabschnitt. Die Kandidat*innen leben in vermeintlich archaischen Verhältnissen, als hätte sich die Insel seit Jahrhunderten nicht verändert. Das Setting und das Programmdesign sind voller Elemente, die einen kolonialistischen Exotismus zur Schau stellen: geschnitzte Holzsäulen, Fackeln, Trommelmusik.

So spielt ein nicht mehr Theater spielender Schauspieler aus einer kolonialisierten Ecke Nordkurdistans bei einem kolonialistischen Spektakel auf einer ehemals spanischen Kolonie mit – eine Kolonie, deren Bewohnende vielleicht nie hätten Theater spielen wollen.

Deutschland: In Vertragsarbeitsprogrammen ausgebeutete Körper

Die Geschichte der Dominikanischen Republik ist übrigens auch eine deutsche Geschichte: Hunderte Jüdinnen*Juden fanden ab 1938 auf der Dominikanischen Republik Zuflucht vor den Nazis.

Und auch das ist eine deutsche Geschichte: Nach dem zweiten Weltkrieg wurden Zehntausende Gast- und Vertragsarbeitende nach West- und Ostdeutschland geholt, um das zertrümmerte Land wiederaufzubauen. Der Geograf Sinthujan Varatharajah beschreibt diese Praxis folgendermaßen: "Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und mit dem Beginn der partiellen Dekolonisierung der Welt wurden neue Vertragsarbeitsprogramme in Europa geschaffen. Diese bauten auf den kolonialen Programmen auf, welche wieder aus der europäischen Sklaverei stammten. Menschen wurden nicht mehr von Kolonie zu Kolonie transportiert, sondern in die ehemaligen europäischen Kolonialmetropolen geladen."

1961 schloss die Bundesrepublik mit der Türkei ein Abkommen über die Anwerbung von Gastarbeitenden. In 12 Jahren kamen fast 900.000 Türk*innen und Kurd*innen nach Deutschland. Meine Großeltern kamen nach Köln. Und holten Anfang der 1970er-Jahre meine Mutter und ihre Brüder nach.

Diese Menschen standen in der Arbeitshierarchie tief unten und erledigten für einen mickrigen Lohn die Arbeit, für die sich Weiße Deutsche zu schade waren. Und sind.

Jahrzehnte der Arbeit in Deutschland haben meiner Mutter einen ausgebeuteten, kaputten Körper hinterlassen. Sie sitzt vor dem Fernseher und träumt von dem klaren Ozeanwasser an karibischen Stränden, Abenteuern und einem schmerzlosen Körper, der von den Wellen getragen wird. Für sie ist Survivor eine Utopie.

Ein Theaterschauspieler wird in einer kurdischen Stadt innerhalb türkischer Staatsgrenzen geboren. Rund 8.000 Kilometer entfernt liegt ein anderer kolonialisierter Fleck der Erde, in das die Spanier das Theater brachten. In einer Fernsehsendung namens Survivor vergnügt der Theaterschauspieler ein Publikum, das die Zusammenhänge der Gewalt hinter diesem Spiel nicht sieht. Oder nicht sehen will. Zu diesem Publikum gehören meine Mutter und ihr ausgebeuteter Körper in einer westdeutschen Großstadt. Der Theaterschauspieler liebt einen Hund. Der Hund stirbt still und einsam. Er hieß Mes.

 

Şeyda Kurt ist Autorin und Moderatorin. Sie studierte Philosophie, Romanistik und Kulturjournalismus in Köln, Bordeaux und Berlin. In ihrer Kolumne ❤️topia begibt sie sich auf die Suche nach Utopien der Liebe auf der Bühne: Was erzählt uns das Theater über Zärtlichkeit? Und wo bleiben neue Visionen von Romantik, Freund*innenschaft und Solidarität?

 

Zuletzt sah Şeyda Kurt Shakespeare in Tokyo – und hatte weniger Angst vor einer Corona-Infektion als vor ihrem eigenen Blick.

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