Norm oder Nicht-Norm, das ist hier die Frage

von Georg Kasch

Berlin / Online, 16. Juni 2020. Menschen ohne Behinderung haben es schwer. Wegen des KNZR- und KKG-Syndroms (Kommt nicht zur Ruhe; Kennt keine Grenzen) brauchen sie immer was zu tun. In jungem Alter werden sie von den anderen separiert und auf eine Sonderschule für Kinder mit Lernstärke geschickt. Und wenn sie sich tagsüber nicht richtig verausgabt haben, können sie abends nicht einschlafen, brauchen mitunter sogar Schlaftabletten. 

Andere Perspektive

Ein schweres Schicksal, findet Moderatorin Athina. Sie sitzt in ihrem Zoomfenster im grellen Fummel vor einer noch grelleren Regenbogenshowtreppe. Über ihr steht ihr Double als Gebärdendolmetscherin. Neben ihr windet sich Angela als bedauernswerte Nicht-Behinderte, der das Wort abgeschnitten wird, wenn's denn der Show-Dramaturgie dient. Dazu dringt frisch gemixte Synthie-Atmo aus den Boxen.

NoLimit 560 ScreenshotAlles so schön bunt hier: Athina moderiert (auch) in Gebärdensprache  Bild: Screenshot

So sieht die Welt in "No Limit" aus, in der Menschen mit Behinderung die Norm sind und Menschen ohne Behinderung die Ausnahme. Entsprechend muss man sich als Nichtbehinderte*r auf einige ungewohnte Dinge einstellen. Mal doppelt sich alles, weil man Dinge sieht, die die Audiodeskription und die Untertitel parallel beschreiben. Mal versteht man gar nichts, weil Gal Ivrit spricht und Atina das in Gebärdensprache übersetzt. Mal zieht es sich, weil alle Barrieren (aus nichtbehinderter Perspektive) umständlich beiseite geräumt werden. Mal verweigert der Gebärden-Overkill jede Deutung.

Was die Mehrheitsgesellschaft leicht vergisst

Eigentlich hätte "No Limit" eine Live-Show in den Berliner Sophiensaelen werden sollen. Nun hat die Tänzerin und Choreografin Angela Alves ihre Bühne auf Zoom aufgeschlagen. Die angekündigten interaktiven Elemente aber sind überschaubar: Mittendrin gibt es Multiple-Choice-Umfragen, am Ende kann sich das Publikum theoretisch im Chat austauschen (praktisch wird nur Lob hingetippt).

Aber vielleicht ist das auch alles so gewollt: Niemand muss sich hier produzieren, niemand darf sich in den Vordergrund drängeln – Nichtbehinderte bleiben bis zum Schluss Zaungäste einer kreischbunten Welt in der Ästhetik des frühen Internets. Vermutlich sind die gähnenden Leerstellen auch gewollt, ebenso wie die grellen, etwas arg übertriebenen Show-Persiflagen. Live hätten sie vielleicht schön schräg gewirkt – am Bildschirm nerven die großen Gesten und eingespielten Lacher.

Generell ist "No Limits" sehr deutlich, wenn es darum geht, die Normativitätsfrage zu stellen. Einmal wird ein Video eingespielt, das Angela bei ihrem Gang durchs nicht-behinderte Leben zeigt, im Stil pseudobetroffener TV-Dokus. Manchmal aber schleichen sich auch komplexere Verunsicherungen ein. Gegen Ende entwickelt sich einmal in mehreren Fenstern eine halbwegs synchrone Gestenchoreografie in Gebärdensprache, die zunehmend aus dem Leim geht. Oder ist es doch eine Erzählung, eine Andekdote, ein Witz, den wir Nichtbehinderte nur nicht lesen können und als ästhetische Äußerung missverstehen? Wenn man der Mehrheitsgesellschaft angehört, ist es leicht zu vergessen, dass wir die Welt aus einer Perspektive deuten, die nicht alle teilen, die aber oft genug einen Universalitätsanspruch in sich trägt. Gut, dass einen "No Limit" daran erinnert.

 

No Limit
von Angela Alves
Regie, Choreografie: Angela Alves, Dramaturgie: Alexandra Hennig, Setdesign: Philippe Krueger, Sound: Christoph Rothmeier.
Mit: Angela Alves, Athina Lange, Gal Naor (The progressive wave), Simone Detig, Christoph Rothmeier. 
Premiere am 16. Juni 2020
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

sophiensaele.com

 

Kritikenrundschau

Angela Alves' "No Limit - Remote-Performance" sei "sicher einer der kreativsten Livestreams in dieser Zeit, zudem mit einem wichtigen und relevanten Thema", so Magdalena Bienert im RBB (17.6.2020). "Aber offenbar fehlte eben auch Zeit, um ihn wirklich richtig gut zu machen." Ein bisschen ratlos werde man zurückgelassen. "Man wüsste zu gern, wie diese Performance live in den Sophiensälen gelaufen wäre – hoffentlich gibt es die Chance, das noch mal herauszufinden".

Kommentare  
No Limit, Berlin: in den Wind geschrieben
Ich bin ein Nicht-Behinderter, und doch war ich immer behindert.
Einer wie ich stößt immerzu auf Mauern, auf Grenzen (auch den verborgenen). Es ist, weil ich mit dem Leben wie es ist, und der Menschenwelt wie sie ist, nicht einverstanden bin.
Das war so schon immer. In Wahrheit kann ich mit Menschen, so Vieh sie sind nichts anfangen. Ist es denn meine Schuld, dass das allgemeine Leben so ist wie es ist?
Jede eigene Bemühung daran etwas zu ändern ist in den Wind geschrieben. Man braucht nur gute Literatur zu lesen, und gutes Theater zu sehen, und bekommt die Bestätigung vom behinderten Leben in der modernen Gesellschaft. Wann bricht das Zeitalter der "N i c h t b e h i n d e r u n g" an? Sicherlich nicht in naher Zukunft. Von "New Age" kann schon lange keine Rede mehr sein.
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