"Hey, Ihr im Westen!"

von Martin Pesl

Berlin / Wien / Online, 21. Juni 2020. Kommt ein Wiener nach Oberösterreich und geht dort ins Deutsche Theater Berlin. Dort sieht er sich Inszenierungen aus Russland, Polen, Georgien an. Der Witz unserer absurden Corona-Zeit ist, dass das eben kein Witz ist. Es geht, es ist gratis, und niemand wundert sich, wenn diese Konstruktion ein Festival genannt wird. Während die Autorentheatertage des DT 2020 de facto abgesagt sind und den eingeladenen Autor*innen stattdessen Stückaufträge erteilt wurden, bietet das seit 2018 veranstaltete Eröffnungswochenende "Radar Ost" auch in diesem Jahr volles Programm – im Internet. Produktionen aus osteuropäischen Ländern, teilweise in Kollaboration mit Berliner Künstler*innen, wurden von Birgit Lengers, der Leiterin des Jungen DT, sorgsam kuratiert. Ihr Mann Björn platzierte sie in einer Art Graphic-Novel-Version des ehrenwerten Berliner Hauses, abrufbar über dessen Webseite.

Monolog in der Schauspieler*innengarderobe

Seit Freitagnachmittag und noch bis Sonntagabend läuft das Kurzfestival, das 50 Stunden Theater verspricht. Den Macher*innen ist dabei besonders wichtig, ein Live-Erlebnis zu suggerieren. Nach Monaten der zur spontanen Stillung der Theatersehnsucht stunden-, tage-, wochenlang oder überhaupt permanent on demand bereitgestellten Streams sollten Realität und Digitalität den nächsten konsequenten Schritt des Weges aufeinander zu machen. Das bedeutet: Die "Aufführungen" der drei wichtigsten Gastspiele beginnen um 20 Uhr und sind nach ihrem Ende nicht mehr verfügbar. Wie ungewöhnlich, denkt man, bis man realisiert, dass es das schon in grauer Vorzeit gab. Da hieß es Fernsehen.

RadarOstDigital 560 ScreenshotEin Theaterfestival als interaktive Graphic Novel: Der Vorplatz des Deutschen Theaters. Bild: Screenshot 

Die von Björn Lengers' VR-Firma CyberRäuber gestaltete 360-Grad-Aufnahme von Vorplatz, Foyers, Spielstätten, Bar, Garderoben, ja sogar Unterbühne und Keller des Deutschen Theaters ist ein bemerkenswert aufwändiges Unterfangen, das vor allem den Eindruck eines dichten Programms "im ganzen Haus" erwecken soll, wie man es von manchen analogen Festivals kennt. Ohne technische Vorkenntnisse kann man sich mit Smartphone, Tablet oder PC intuitiv in allen Richtungen umsehen. Anklickbare gelbe Pfeile ermöglichen den Schritt in den Nebenraum, kleine Play-Buttons lassen Videokästchen aufpoppen.

So lässt sich also behaupten, in der Kantine die Kurzversion von Kamila Polívkovás Inszenierung "Macocha" aus Tschechien gesehen zu haben und – besonders passend – in der Schauspielergarderobe den Monolog "Queendom", den die ungarische Theatermacherin und Choreografin Veronika Szabó tatsächlich in einer Garderobe aufnahm. Die abendfüllenden Gastspiele werden als geschnittene Aufzeichnungen mit zwei bis drei Kameras gezeigt. Suggestiver wäre die Präsenzillusion nur, hätte man sie in einer Frontaltotale gefilmt nahtlos in den Rahmen der Guckkastenbühne eingebettet. Wäre natürlich zu viel verlangt, und doch holt gerade das Fehlen dieser ultimativen technischen Finesse einen immer wieder in die traurige Wirklichkeit zurück, dass man nämlich nicht im Theater ist, obwohl man es gerne wäre.

RadarOstDigital4 560 screenshot uMan muss pünktlich im Zuschauerraum eintreffen, um auf der Bühne den Livestream zu aktivieren. Denn er ist wirklich live. Bild: Screenshot

Die Eröffnungssequenz am Freitag fand dafür tatsächlich live statt. Da saßen Birgit Lengers und Intendant Ulrich Khuon vor einem Greenscreen im DT, auf den der virtuelle Theatervorplatz projiziert war. Sie dankten einander und dem Auswärtigen Amt, interviewten an länderübergreifenden Kooperationen beteiligte Ensemblemitglieder und betonten den Fokus des Programms auf weibliche Positionen. Beide fremdelten etwas mit dieser Form der Kommunikation, bemühten sich aber umso mehr, der aufregend modernen Technik kein Ablenken vom inhaltlichen Fokus auf osteuropäisches Theater zu erlauben.

Scrollen, Klicken, Chatten

Seither bewegen sich die Festivalbesucher*innen frei im digitalen Haus. Nach dem ersten Staunen ob der Rundumansicht des Theaters – ein Chat-Teilnehmer verglich die Ästhetik gleich in den ersten Minuten durchaus treffend mit der eines Ersan-Mondtag-Bühnenbilds – betritt man aus Bequemlichkeit lieber den gewohnten Internet-Pfad: zurück auf die Startseite, zum Programmpunkt der Wahl scrollen, Link anklicken.

In einem Chatroom, den man von einer Bar aus erreicht, könnte man sich mit echten Mitgästen mündlich unterhalten, indem man sich ihren Avataren mit einem eigenen nähert. Stichprobenartige Besuche zu verschiedenen Tageszeiten zeigen allerdings, dass die natürliche Hemmung hierzu selten überwunden wird. Ein schriftlicher Chat steht auch zur Verfügung, er wird hauptsächlich zum Erbitten von Technik-Support genutzt ("Hilfe, dieses Video ist ohne Untertitel"). Auch hier kommt es nicht zu dem inhaltlichen Austausch, den sich Festivalmacher*innen jenseits und diesseits des Netzes erträumen.

RadarOstDigital2 560 Screenshot uPer Klick poppt das Video mit dem Livestream auf. Hier: Kirill Serebrennikows "Eine alltägliche Geschichte". Bild: Screenshot  

Tagsüber wähnt man sich ohnedies nicht so sehr im Theater wie in einem Museum für zeitgenössische Videokunst. Das on demand abrufbare Material umfasst gekürzte Zusammenschnitte von Inszenierungen sowie eigens für Video hergestellte Arbeiten. Data Tavadze etwa erweitert in seinem Kurzfilm "In dritter Person" das Deutsche Theater virtuell in ein Partnerhaus in Tiflis, wo die Transsexuellen Gérômine Castell und Nikolo Ghviniashvili einander auf einer abstrakten Ebene begegnen. Olga Shilyaevas Stück "28 Tage" über Menstruation, in der eine Schneewittchen-Figur einen exzentrischen Chor anführt, erweckt Lust, es echt und in voller Länge zu erleben.

Clinch mit der Justiz

Shilyaeva schickte dazu eine Art witziges Making-of als Teil einer von Birgit Lengers live anmoderierten Lecture-Reihe mit anschließender Diskussion. Diese Beiträge aus Russland, Polen und der Ukraine zeigen die Widerstände, mit denen sich Theatermacher*innen in Osteuropa auseinandersetzen müssen. Zusammen mit verzweifelten Videos über den Abriss des Albanischen Nationaltheaters vor einem Monat und über die Gängelung der Kunstakademie in Budapest durch die Orbán-Regierung entsteht ein Gesamteindruck des "Hey, ihr im Westen habt es schon viel bequemer als wir."

RadarOst ImHerzenderGewalt 560 Natalia Kabanow uJetzt im Fullscreen: "Im Herzen der Gewalt" von Édouard Louis, inszeniert von Ewelina Marciniak © Natalia Kabanow

Ähnliche Gedanken kamen beim Livestream von "Im Herzen der Gewalt" am Samstagabend auf. Der autobiografische Stoff von Édouard Louis wird im deutschsprachigen Raum rauf und runter gespielt; eine solide erzählte Inszenierung bei künstlichem Dauerregen aus einer 70.000-Seelen-Stadt wäre hier vermutlich nicht weiter aufgefallen. Im erzkonservativen Polen durfte sich das Fredro Theatre Gniezno angesichts heftig knutschender Schauspieler auf der Bühne hingegen ordentlich was anhören.

Notwendige Verheiratung

Auch nicht gerade obrigkeitshörig, aber weniger leidend gab sich am Abend zuvor der dank seines Clinchs mit der russischen Justiz international bekannte Regisseur Kirill Serebrennikow. Sein Gogol Centre zeigte eine Aufzeichnung der Inszenierung "Eine alltägliche Geschichte" aus 2015. Serebrennikow verlegt Iwan Gantscharows Erzählung über einen naiven Provinzjüngling, der nach Sankt Petersburg geht und von seinem zynischen Onkel desillusioniert wird, ins heutige Moskau. Der galgenhumorige, zupackend gespielte Drei-Stunden-Abend ist die ideale Festivaleinladung, was sich sogar per Video einigermaßen vermittelt. Der dritte große Stream am Sonntagebend wird ebenfalls eine Romanadaption sein: Timofej Kuljabins Variante von Puschkins "Onegin" aus dem Theater Rote Fackel in Nowosibirsk.

RadarOst Onegin2 560 Viktor Dmitriev u"Eugen Onegin" von Alexander Puschkin, Inszenierung: Timofej Kuljabin © Viktor Dmitriev

Die Mühe, mit der diese Radar-Ost-Ausgabe für die widrigen Umstände kompatibel gemacht wurde, darf nicht geringgeschätzt werden. Für fast alle Programmpunkte wurden englische und deutsche Untertitel vorbereitet, Künstlerinnen und Künstler schickten Einführungsvideos. Niemand wird behaupten können, dass dieses Festival nicht wirklich stattgefunden hat. Und doch, aus den bekannten Gründen, für die keiner was kann, spürt man ständig, dass man das alles nicht so würdigt, wie man sollte. Wie bei allen Streamings bleibt die Hoffnung, dass die notwendige Verheiratung von Theater und Digitalität in normaleren Zeiten wieder zum Heimspiel des Ersteren wird. Wie sagte mit stirnrunzelndem Ernst der Dramaturg Jan Czapliński in seiner sympathischen Einführung zu "Im Herzen der Gewalt": "Ob das ein echtes Treffen ist, ist schwer zu sagen, aber es ist alles, was wir momentan haben."

 

Radar Ost Digital
19. bis 21. Juni 2020

www.deutschestheater.de
www.radarost.digital

 

Kritikenrundschau

Für Barbara Behrendt vom Kulturradio des rbb (20.6.2020) hat dieses "3-D-Festival mit Live-Veranstaltungen aus dem realen Theater, der Imitation eines Festival-Zentrums und der im Großen und Ganzen starken Auswahl an Stoffen für Corona-Zeiten Maßstäbe gesetzt." Viele der in den digitalen Räumen gezeigten "Adaptionen" bleiben für die Kritikerin "jedoch Trailer, die Lust machen, die oft gesellschaftskritischen Arbeiten live zu sehen". Und: "Wie so oft, wenn Produktionen aus ihrer Kultur, ihrem Sprachraum gerissen werden: für das ausländische Publikum bleibt deren Bedeutung im Ursprungsland oft undurchsichtig." Die Arbeiten von Kirill Serebrennikow ("Eine schöne atmosphärische Arbeit mit exzellenten Schauspielern, viel Musik und schwarzem Humor") und Timofej Kuljabin ("selbst digital bewegend und konzentriert auf unser aller Fragen nach einem gelungenen Leben") ragen für die Kritikerin aus dem Festivalprogramm heraus.

Angesichts des für dieses Festival "visuell spektakulär" als 3D-Umgebung reproduzierten Deutschen Theaters spricht Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (21.6.2020) von einem "Meisterwerk von digitalem Schmuckkästchen". Auch für sich genommen hatten aus Sicht der Kritikerin alle Vorstellungen im Kontexts dieser virtuellen Festivalumgebung großen Charme. Insgesamt machte diese unverletzlich scheinende, "vor allem menschenlose Luxusoberfläche" für die Kritikerin auch die drastische Verletzlichkeit realer Theaterbauten in unseren Zeiten sehr deutlich. Den diese Oberfläche prvoziere in Kombination mit Videos von Produktionen über die Gefährdung dieser Kunstform durch Politik und Ökonomie auch die Frage : "Was ist uns eigentlich noch Theater in dieser aseptischen Überhülle?"

Beeindruckt durchstreift Fabian Wallmeier für rbb|24 (22.6.2020) das digitale Deutsche Theater. Auch künstlerisch überzeugt ihn vieles, was er hier sieht, insbesondere die eigens für die digitale Präsenation neu gefassten Stücke. Die "hinzu kuratierten Konserven-Streams dreier Inszenierungen aus Polen, Georgien und Russland" dagegen wirken auf den Kritiker "im Kontext des virtuellen Mehr-als-Ersatz-Programms eher unnötig". Denn ihrer künstlerischen Qualität ungeachtet wirken sie "wie kuratorische Krücken in diesem ansonsten so deutlich auf die besonderen Begebenheiten des Virtuellen ausgerichteten Programm" auf ihn. Spannender findet er da die drei kleinen länderübergreifenden Kooperationen, die eigens für "Radar Ost" entstanden sind.

"Für das in diesem Jahr digitale Festival „Radar Ost digital“ wurde fast das ganze Gebäude des Deutschen Theaters ins Netz übertragen," schreibt Katja Kollmann in der taz (23. 6. 2020). "Drei Tage lang, von Freitag bis Sonntag, konnte man im ganzen Haus umhernavigieren und traf immer wieder auf 'Theater'. Die Ästhetik des virtuellen Theaterhauses erinnerte dabei an Edvard Munch, dem das Haus durch den von ihm geschaffenen Reinhardt-Fries verbunden ist."

"Für das Deutsche Theater hat das Designkollektiv Cyber-Räuber das Haus in eine digitale Graphic-Novel übertragen, durch die der Besucher online flanieren kann, " schreibt Kevin Hanschke in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.6.2020). Erstmals sei, so der Kritiker, in diesem Kontext die Inszenierung "Eine alltägliche Geschichte" von Kirill Serebrennikow für eine breitere Öffentlichkeit online im digitalen Zuschauerraum des Deutschen Theaters zu sehen. Das Festival am Deutschen Theater will der Einschätzung Hanschkes zufolge "ein Schaufenster für die avantgardistischen Produktionen des 'globalen Ostens' sein."

"Für das in diesem Jahr digitale Festival 'Radar Ost digital' wurde fast das ganze Gebäude des Deutschen Theaters ins Netz übertragen," schreibt Katja Kollmann in der taz (23. 6. 2020). "Drei Tage lang, von Freitag bis Sonntag, konnte man im ganzen Haus umhernavigieren und traf immer wieder auf 'Theater'. Die Ästhetik des virtuellen Theaterhauses erinnerte dabei an Edvard Munch, dem das Haus durch den von ihm geschaffenen Reinhardt-Fries verbunden ist."

 

 

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