Top Dogs / Medea – Landestheater Tübingen – Mit Euripides und Urs Widmer vermessen Ragna Guderian und Christoph Roos die Spannweite des Theaters durch zwei vordigitale Jahrtausende
Vor dem Mord bitte Hände waschen
von Thomas Rothschild
Tübingen, 19./20. Juni 2020. Nein, das hat sich das Landestheater Tübingen nicht extra für die Wiedereröffnung nach der erzwungenen Vorsommerpause ausgedacht, und es wurde auch nichts verschoben. Streng nach Spielplan gab es zwei auf einander folgende Premieren, die geradezu modellhaft die Spannweite dessen abstecken, was Theater in jenen zweieinhalb vordigitalen Jahrtausenden bedeutet hat, die manche unter dem Eindruck gegenwärtiger oktroyierter Entwicklungen auf den Müllhaufen der Geschichte entsorgen wollen – zwischen einem der ältesten Dramen der europäischen Antike und einem zeitgenössischen Stück, das in den 24 Jahren seit seiner Uraufführung auf schlechterdings beängstigende Weise an Aktualität gewonnen hat.
Auferstandenes Bühnengeschehen
Vor der "Medea" des Euripides in der zu Recht gepriesenen Übersetzung von Peter Krumme also Urs Widmers "Top Dogs", deren Problemperspektive auf neoliberale Entfremdungszusammenhänge seither allenfalls Kathrin Röggla auf vergleichbarem Niveau abgehandelt hat. An der anderen Landesbühne in Esslingen übrigens feierte zeitgleich die zweite Heroin des griechischen Theaters, Antigone, in der Sprache des Tübinger Vorzeigeintellektuellen Walter Jens Premiere. Zufall, aber doch auch keiner. Beide, Antigone wie Medea, haben zurzeit auf deutschen Bühnen Konjunktur.
Da saß man also, abgezählt und (hoffentlich) ansteckungsresistent über die Werkstatt und über den Hauptsaal weiträumig verteilt, und freute sich über das auferstandene Bühnengeschehen. Dass man keine fremden Nachbarn hatte, die einem die Armlehne streitig machten, muss, wenn man die Situation nicht über Gebühr aufbauschen will, nicht unbedingt ein Nachteil sein. Ob Theater nun system-, oder, wie manche meinen, doch eher lebensrelevant ist: jene, die es lieben, haben es vermisst wie andere den Biergarten oder die Sauna. Und den Spöttern sei versichert: den meisten ging es, zumal in einer Universitätsstadt wie Tübingen, um den unterhaltenden, anregenden, belehrenden, ästhetischen Thrill, nicht um das Pausenbuffet. Das musste denn auch am LTT ausfallen. Theater aber fand statt, und zwar in einer Qualität, die keines Coronabonus bedarf.
Ob sich einzelne Entscheidungen den Corona-Einschränkungen schulden, wissen wir nicht. Aber wir vermögen auch in coronafreien Zeiten nicht zu beurteilen, ob eine Inszenierung etwa an einem Kleintheater ausfiele, wie sie ausgefallen ist, wenn das Theater über eine Drehbühne oder ein höheres Budget verfügte. Wir können immer nur bewerten, was unter den gegebenen Bedingungen zu sehen ist.
Getauschte Positionen
So viel jedenfalls lässt sich sagen: Wenn bei der Uraufführung von Urs Widmers Stück über entlassene Führungskräfte 1996 am Zürcher Neumarkttheater, die von einer "New Challenge Company" in einem Zwischending von Coaching und Therapie für einen neuen Job geschult werden, "die Schauspieler, die Schauspielerinnen den Zuschauern radikal nahe kamen", verbietet sich unter den gegenwärtigen Voraussetzungen eine Nachahmung.
"Top Dogs" ist ein handlungsarmes Stück. Genau genommen ist es eine Folge von Dialogen, die keine spektakuläre Aktion suggerieren. Regisseur Christoph Roos hat sich jedoch einiges einfallen lassen, ohne aufdringlich zu wirken. Peter Scior hat ihm eine weiß ausgekleidete Arena bereit gestellt. Die Schauspieler*innen sitzen auf Gymnastikbällen, die die Bewegung auf der ansonsten leeren Spielfläche erleichtern. "Top Dogs" ist ein Ensemblestück ohne herrausragende Individuen.
Dem entspricht die Inszenierung mit wechselnden Positionierungen im Raum, bei denen der Rest der Darsteller – in Tübingen wurden sie gegenüber Widmers Vorlage von acht Figuren auf fünf reduziert – den Rahmen bilden, wenn Sprecher*innen in den Vordergrund treten.
Urs Widmer hat den Figuren die Namen der Darsteller bei der Zürcher Uraufführung verliehen. Auch in Tübingen tragen die Personen der Handlung nun die Namen der Schauspieler. Gegenläufig hat der Autor eine schon damals nicht ganz taufrische Technik eingesetzt. Die Rollenträger tauschen ihre Position. Jede und jeder kann im Prinzip in jede (soziale) Rolle geraten. Peter Palitzsch und in der Folge auch andere haben dieses Verfahren 31 Jahre zuvor in ihren Inszenierungen von Peter Weiss' "Ermittlung", nicht ganz unumstritten, etabliert.
Alle Schweizer Spuren hat man in Tübingen entfernt. So wurde aus der Swissair die Lufthansa, was dem Text eine ungeplante Aktualität hinzufügt. Die Figuren nähern sich der Karikatur, ohne die Ernsthaftigkeit des Themas zu verraten. Wenn Gilbert Mieroph Susanne Weckerle verkörpert und vice versa, wenn Andreas Guglielmetti und Stephan Weber einander das richtige Gehen beibringen, ist das in einem angenehm klamaukfreien Sinn komisch.
Kollektives versus individuelles Unglück
Gegen Ende ziehen die Männer ihre Sakkos und Krawatten aus, und im warmen Licht wird "Die Utopie vom Menschen" verkündet: Es wird, es muss die Zeit kommen, da wir Menschen uns achten und mit Würde begegnen." Pause. Alle verstummen. Doch dann schlägt, ohne Übergang, weil eine Szene gestrichen wurde, im wiederum grellen Licht die ernüchternde Replik ein: Frau Weckerle wird die Runde verlassen. "Sie hat eine Stelle gefunden." Alles wie vorher. Nichts dazugelernt.
Dem kollektiven Unglück der Top Dogs steht das individuelle der Medea gegenüber. Zunächst meint man, in das falsche Stück geraten zu sein. Hinter einer halbtransparenten Plastikplane scheint Brechts Kleinbürgerhochzeit stattzufinden. Aber nein, es ist die Hochzeit Jasons mit Kreusa, deren Name bei Euripides nicht einmal genannt wird. Gemeinhin bemühen sich Regisseurinnen, die antike Tragödie der Gegenwart anzunähern. Ragna Guderian geht den umgekehrten Weg. Sie rückt die ambivalente Geschichte in die Ferne, in eine Märchenwelt mit Fabelwesen in weißen Fantasiekostümen. Nur der Kontrabass spielende Kreon trägt zur Krone, die seinen Status signalisiert, Grautöne, und Jason eine braune Felljacke. Ergänzt werden die sieben Schauspieler*innen, von denen vier auch als Chor reüssieren, durch zwei Puppen, die allerdings dramaturgisch nicht viel einbringen und eher wie die Konzession an eine Mode wirken.
Sog der schönen Gesten
Die zum Teil wie Marionetten zappelnden Kunstfiguren lassen keine Identifikation zu, nicht mit Medea und erst recht nicht mit ihren männlichen Gegenspielern. Nicht nur die Titelfigur ist eine Fremde, auch das Korinth dieses Dramas ist exotisch, und man muss sich schon darauf einlassen wie auf Mundschutz und Distanzregeln. Ehe Medea nach vollzogener Rache Jason und das Exil verlässt, wirft sie sich einen bunten, folkloristisch anmutenden Umhang über. Der von Drachen gezogene Wagen allerdings, der sie entführen soll, bleibt aus.
Dem LTT ist eine eindringliche Inszenierung gelungen, die nach und nach einen zunehmenden Sog entwickelt. Das Theater hat uns wieder. Je später der Abend, desto schöner die Gesten.
Top Dogs
von Urs Widmer
Regie: Christoph Roos, Bühne und Kostüme: Peter Scior, Dramaturgie: Stefan Schnabel.
Mit: Stephan Weber, Gilbert Mieroph, Andreas Guglielmetti, Insa Jebens, Susanne Weckerle.
Premiere am 19. Juni 2020
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
Medea
von Euripides
Deutsch von Peter Krumme
Regie und Bühne: Ragna Guderian, Puppenszenen und Projektentwicklung: Dorothee Metz, Kostüme: Marianne Hollenstein, Dramaturgie: Laura Guhl.
Mit: Jennifer Kornprobst, Nicolai Gonther, Hannah Jaitner, Dennis Junge, Rolf Kindermann, Jürgen Herold, Sabine Weithöner
Premiere am 20. Juni 2020
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.landestheater-tuebingen.de
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