Landestrauer

von Alfred Kerr

Berlin, 11. August 1901. Die zweite Kaiserin des neuen Reiches ist in das unentdeckte Land gezogen, aus des Bezirk kein Wandrer wiederkehrt. Berlin steht im Eindruck dieses schmerzlichen Vorgangs. Die Verstorbene hat eine gesonderte Stellung eingenommen, was das innere Verhältnis der Nation zu ihr betrifft. Ihr gegenüber waren die Gefühle nicht alltäglich: sie hatte besonders glühende Verehrer, und es gab andererseits Leute, die sie mit Nachdruck befehdeten. Aber beides, die große Zuneigung und die stille Abneigung, floss zuletzt ineinander in einziges Gefühl der Ehrfurcht vor den tiefen Schmerzen, die sie erfahren. Da wurden alle einig. Sie war die Kaiserin der Schmerzen.

Man weiß, daß die Anhänger einer freiheitlichen Weltanschauung besonders viel von Friedrich III. und seiner Gemahlin erwarteten. Aus diesem Grunde wurde die tote Kaiserin von einem verhältnismäßig kleinen Schwarm auf den Schild erhoben. Auf der anderen Seite standen die, welche aus dem gleichen Grunde ängstlich waren. Sie sahen vor allem in ihr die Britin. Ich entsinne mich aus meiner Studentenzeit, welche Äußerungen man damals hören konnte, als die Kronprinzessin den Kaiserthron bestiegen hatte. Ich war oft genug verwundert. Besonders aber, als meine alte Wirtin eines Tages vor mich hin trat und ihrem Herzen Luft machte. Die Frau war sonst von friedlichem Charakter, und ich hatte niemals Exzesse an ihr bemerkt. Aber jetzt legte sie los – mit einer verblüffenden Leidenschaft. Ich erlebte denselben Vorgang anderwärts. Immer galt die gekrönte Frau als Engländerin, nur als Engländerin. Und das, scheint mir, war ein Unrecht.

Die Kaiserin Victoria hat ihre Pflicht gegen das deutsche Volk niemals versäumt. Gewiß war sie in England geboren und groß geworden. Sie hat bis in die späte Zeit hinein eine Vorliebe für ihr Vaterland und seine Bewohner bewahrt, – aber das ist ein natürlicher Zug, und man hätte nur dann Grund gehabt, sich darüber zu beklagen, wenn es uns Nachteile geschafft haben würde. Wir Deutsche haben leider den Drang, in fremden Ländern allzuleicht die Heimat zu verleugnen, – das ist hundertmal gesagt und gedruckt worden, und vielleicht sind wir in Folge dessen heute auf dem Wege der Einkehr und lassen unsere Nationalität nicht so leicht fahren. Man soll aber auch Anderen keinen Vorwurf machen, wenn sie die ihrige nicht ohne Weiteres preisgeben.

Wir würden es der Schwester des gegenwärtigen Kaisers sehr verargen, wenn sie in Griechenland Preußen vergäße! Und was würden wir von der schönen Frau auf dem russischen Thron denken, wenn sie für immer ihre holde Darmstädter Jugend zum alten Eisen werfen wollte? Beide haben Pflichten in dem neuen Lande und gegen das neue Volk, und diese Pflichten müssen sie freudig erfüllen. Die verstorbene Kaiserin hat sie erfüllt. Sie hat auf deutschem Boden die höchsten Höhen und die tiefsten Tiefen ihres Empfindens durchlebt, und sie wird in deutscher Erde schlafen. Sie ist eine Deutsche – von englischer Abkunft.

 

BeerdigungKaiserinFriedrich 560 uDie Beisetzung der Kaiserin Friedrich am 13. August 1901 in Potsdam. Zeichnung für die Illustrierte "Die Woche" von Paul Brockmüller. 

Es ist fast unnütz, diese gescheite und edle Frau noch gegen irgendjemand heute zu verteidigen; denn nicht erst ihr Tod – die ganzen dreizehn Jahre und ihr gehäuftes Leid haben rauhe und zweifelnde Patrioten verstummen lassen und versöhnt. Wenn sie heut in unserem Gedenken vor allem als die Trösterin und Gefährtin des heimgegangen Frühlingskaisers dasteht, so erinnern wir uns leise an ein kleines Gedicht von Theodor Fontane. Dieser wundervolle Alte schildert die letzte Fahrt des Kaisers. Der Kranke wünscht sich, noch einmal Alt-Geltow zu sehen. "Und Ihr kommt mit", spricht er zu seiner Frau, "die Kinder und Du". Als sie in das Dorf gekommen sind, tritt er in die stille Kirche im Sonnenschein, und er spricht:

Wie gern
Vernahm' ich noch einmal "Lobe den Herrn":
Den Lehrer im Feld ich mag ihn nicht stören,
Vicky, laß Du das Lied mich hören.

Da spielt sie auf der Orgel den Choral, und der Kranke glaubt die Gestalt des Menschensohns zu erkennen, der ihm entgegen tritt und die Siegerworte verkündet, er werde die Krone des Lebens davontragen, – lobe den mächtigen König der Erben.

Die Hände gefaltet, den Kopf geneigt,
So lauscht er der Stimme.
Die Orgel schweigt

Es ist schön, daß in diesem herrlichen Gedicht die liebreiche und treue Frau eine Stätte gefunden hat. Orgelspielend in der Kirche von Alt-Geltow, – so wird sie durch die Dichtung in die Zukunft einziehen; und zwei leuchtende Züge ihres Wesens treten aus dem Bild hervor: ihre tapfere Güte und zugleich ihre Neigung zur Kunst.

Grade die Künstler sind aber durch den Tod der Herrscherin in einen Leidenszustand versetzt worden, der nicht nur die Gefühle der Trauer um die Heimgegangene enthält. Es mischt sich leider die private Sorge hinein; denn in Folge der angeordneten Landestrauer sind zehntausend Musiker, Schauspieler, Sänger und wer sonst diesen Berufen nahesteht, zu Geldverlusten, wenn nicht zum Verlust der Existenz gebracht worden. Es ist schmerzlich, am offnen Sarge solche Fragen erörtern zu müssen, aber in Berlin hat die Maßregel einen so starken Eindruck erzeugt, daß man kaum darüber hinwegkommt. Sie ist zweifellos in der besten Absicht erlassen worden.

Aber man fragt doch: warum sollen gerade diese zehntausend Bürger, die nicht immer glänzend gestellt sind, in der allgemeinen Trauer wirtschaftlich leiden? Wenn der Staat verlangt, daß Theatervorstellungen und Konzerte nicht stattfinden, so wäre es nur billig, wenn er den Ausfall ersetzt; und vielleicht gewährt das Parlament nachträglich die Mittel. Will aber der Staat keine Entschädigung geben, so wäre dringend zu wünschen, daß entweder das Verbot sich nur auf den Beerdigungstag in künftigen Fällen erstrecke, – oder daß man die Trauerwochen in der Behandlung dem Totensonntag gleichstellt, daß also ernste Aufführungen nicht gehindert werden. Stört man denn unsere Trauer durch die Darbietung einer Beethovenschen Sinfonie, eines Goetheschen Dramas? Ich glaube nicht. 

Wer in Berlin nur die Schaufenster der wichtigeren Straßen mit ihrem Sterbeschmuck und verhüllenden Trauerfloren erblickt, der sieht, wie man auch ohne besondere Anordnung die tote Herrscherin zu ehren weiß. Diese Anordnung beruht zweifellos auf gesetzlicher Befugnis, und wer sie erlassen hat, ist in vollem Recht. Aber wenn nicht alle Zeichen trügen, wird man auf dieses Recht künftig weniger Gewicht legen oder es mit Einschränkungen handhaben.

 

 

Alfred Kerr 280h RobertSennecke BibiothequeNationale PublicDomain uAlfred Kerr (1932) © Robert Sennecke | Bibiothèque nationale de FranceAlfred Kerr, 1867 in Breslau geboren und 1948 in Hamburg gestorben, gehört zu den bedeutendsten deutschen Theaterkritikern. Bereits während seines Studiums der Geschichte, Philosophie und Germanistik in Halle, das er 1894 mit der Promotion zum Dr. phil abschloss, begann er Kritiken zu schreiben. Von 1900 bis 1919 war er Theaterkritiker der Berliner Zeitung "Der Tag", von 1919 bis 1933 Theaterkritiker des "Berliner Tageblatts". 1933 wurden Kerrs Bücher und Schriften verbrannt, er selbst im August 1933 ausgebürgert. Bereits im Februar 1933 war er, von einem Polizisten gewarnt, sein Pass würde eingezogen, nach Prag geflohen. Über die Schweiz und Paris gelangte er mit seiner Familie schließlich nach Großbritannien und erhielt 1947 die britische Staatsbürgerschaft. 1948 starb Alfred Kerr in Hamburg, wo er sich im Rahmen einer Vortragsreise aufhielt.

Der Text erschien am 11. August 1901 in der "Königsberger Allgemeinen Zeitung", für die Kerr unter der Überschrift "Berliner Plauderbrief" von 1897 bis 1922 sonntägliche Feuilletons schrieb. Kerr-Biographin Deborah Vietor-Engländer hat die Texte wiederentdeckt und bereitet eine Edition vor, die 2021 im Wallstein-Verlag erscheinen soll. Wir danken Deborah Vietor-Engländer, dass sie uns auf den (hier behutsam gekürzt erscheinenden) Brief aufmerksam gemacht und zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat.

 

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