Handke im Jogging-Schritt

von Otto Paul Burkhardt

Karlsruhe, 4. Oktober 2008. Von wegen "Plateau mittenhinten im hintersten Kontinent, probenhell, leer, still": Die Bühne im Badischen Staatsschauspiel ist bis unters Dach zugerümpelt. Sie gleicht einem vollgepropften Memento-Raum für ausrangierte Mammutrequisiten – ein Flugzeug neben einer antiken Säule, ein Auto neben einer weißen Goethezeit-Riesengipsbüste, ein Dixiklo unter einer venezianischen Gondel. Keine kontemplative Ödnis, statt dessen eine Bühne überquellend voll mit optisch opulentem Hochbedeutungs-Müll.

Die Handke-Gemeinde mag zunächst geschockt sein, doch jetzt kommt's: Regisseur Michael Simon lässt den ganzen grandiosen Kulissen-Plunder nach und nach abräumen. Ein toller Einstieg. Handkes Sprachreinigungs-Poetik wird hier in ein schlüssiges Bild übersetzt – die totale Bühnenentrümpelung. Bis nichts mehr übrig bleibt, nur eine riesige leere blaue Fläche.

Flair der Unrealisierbarkeit

Womit wir dann doch beim kargen "Spiel vom Fragen" angekommen sind. 1989 erschienen, von Peymann 1990 am Burgtheater in einer fünfstündigen Inszenierung aus der Taufe gehoben: Handkes "Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land" hat mit den Jahren ein gewisses Unrealisierbarkeits-Flair erhalten. Ein skurriler Trupp aus acht Typendarstellern, darunter ein "Mauerschauer", ein "Spielverderber" und ein "Parzival", pilgert durch entlegenes Niemandsland und beschäftigt sich in allerlei antithetisch angelegten Diskursen mit Schönheit und Weltekel. Irgendwo zwischen Sinnsuche und Slapstick, hochtönendem Pathos und mittelflachen Pointen.

Michael Simon, von Haus aus Bühnenbildner und als Regisseur mit Burgtheater- und Schaubühnen-Arbeiten bekannt geworden, übersetzt den stark gerafften Text in eine widersprüchliche Befindlichkeit – mit viel Skepsis gegenüber dem Handkeschen Verkünderton (den die Regie, wo es geht, ideenreich mit Alternativtonfällen bricht) und mit viel Sympathie gegenüber Handkes Radikalverachtung für all den täglichen Wortmüll dieser Welt.

He goes Pollesch

Heraus kommt eine dichte, vielschichtige Inszenierung mit starken Momenten. Simon frischt Handkes betuliches Pilgerensemble zu einer munter-sportiven Gruppe auf, die zwischen den Szenen immer wieder rhythmisches Warming-Up betreibt – Circuit-Dance als Auflockerung im philosophisch aufgeladenen Textumfeld: Handke goes Pollesch, warum nicht?

Timo Tank grundiert seinen honigkuchenpferdhaft strahlenden "Mauerschauer", der in ökobunter Flicken-Strickjacke überall nur staunend Schönheit entdeckt, mit einer oft subtilen Scheinheiligkeit (wenn er Bierdosen im Jutesack entsorgt). Und Sebastian Kreutz treibt seinen pessimistischen "Spielverderber", der um sich nur "Gehetztheit" wittert, ins bitterlich heulende Verzweiflungselend, wenn's um Frauen geht ("was will denn diese fremde Truppe?").

Der "junge Schauspieler" (André Wagner) kann bei seiner jungen Kollegin (Annika Martens) auch deshalb nicht landen, weil sie in Simons Inszenierung unerreichbar himmelhoch auf einer Schaukel über ihm schwebt. Und anstelle der beiden Alten bei Handke, die über Liebe sinnieren, sehen wir in Karlsruhe "nur" eine Schauspielerin (Teresa Trauth), die mit ihrem Gatten bauchrednerhaft dialogisiert – und dazu den übriggebliebenen Kopf des Ehemanns aus dem Rucksack zerrt: So wirkt das eh' desillusionierte Gespräch wie ein grotesker Puppenspieltrick.

Jetzt fragt!

Simons Freiheiten sind übrigens legitim: Die "Szenenangaben", heißt es vorab bei Handke, seien "nicht immer unbedingt Szenenanweisungen". Der "Einheimische"? Ist in Karlsruhe ein österreichisch grantelnder Handke-Wiedergänger (Wolfram Jantsch), ein Eremit, der mit einem Topfbäumchen umherstakst, an dessen kahlen Zweigen lauter Zettel hängen – ein neckischer Hinweis auf des Autors Beschreibungs- und Benennungs-Tick. Parzival? Der wird in Simons Inszenierung von einer Frau verkörpert (Ursula Grossenbacher) – ein begriffsstutziges, scheues Wesen im Kampfanzug, das irgendwann die Zuschauer auffordern wird: "Jetzt fragt!"

Nach langem Schweigen im Saale kamen bei der Premiere dann doch ein paar Fragen zusammen: "Wie lange noch?", "Warum sind wir heute hier?" und "Wer vergütet mir zwei Stunden Lebenszeit?" So wird Handkes hermetisches Suchspiel bei Michael Simon eher unverkrampft zu einer gemeinschaftsstiftenden Fragerunde. Ganz im Sinne des "Spielverderbers", der bedauernd feststellt, dass die Frage aller Fragen "Was sollen wir tun?" heute nur noch in Schwundform existiert: "Was soll ich, ich allein, tun?"

Handke light, Handke-Workshop, Handke im Joggingschritt – mögliche Vorwürfe gegen Simons Regie liegen auf der Hand. Nein, ein sinnhuberndes Hochamt ist dies nicht. Aber eine Auseinandersetzung mit dem Text, oft angenehm distanziert, zuweilen auch leise emphatisch. Auf jeden Fall hintergründig, pfiffig, charmant, bitterböse, verrückt. Eigentlich im Sinne des Autors. Und, man wagt es kaum zu sagen: ermunternd.


DAS SPIEL VOM FRAGEN oder Die Reise zum sonoren Land
von Peter Handke
Inszenierung und Bühne: Michael Simon, Kostüme: Zana Bosnjak, Video: Yvette Pistor. Mit: Timo Tank, Sebastian Kreutz, André Wagner, Annika Martens, Teresa Trauth, Ursula Grossenbacher, Wolfram Jantsch.

www.staatstheater.karlsruhe.de


Mehr über Michael Simon lesen Sie in der Nachtkritik zu seinem Kölner Melville-Abend Ich, Moby Dick im November 2007.

 

Kritikenrundschau

Sebastian Kreutz kröne seine Darstellung des ewig ängstlichen Miesepeters "mit einer Klage über die Rätselhaftigkeit der Frauen, die so tieftraurig wie brüllkomisch ist", schreibt Andreas Jüttner in den Badischen Neuesten Nachrichten (6.10.) aus Karlsruhe. Gerade indem Kreutz den "selbstmitleidigen Tiraden-Tonfall" offensiv ausstelle, verleihe er ihm "ergreifende Aufrichtigkeit". Ausgerechnet an der "Grenze zum Slapstick" löse er eine zu Beginn des Abends formulierte Idee ein: "Ein Schauspieler sollte ein Wahrspieler sein." In Michael Simons Inszenierung gewinne "Genuss und Gefahr des reinen Spiels", die "Handke wortreich behauptet, verhandelt und reflektiert", "pulsierendes Bühnenleben". Ein "lustvoll irritierendes Seh-Erlebnis" zwischen "Traumspiel und Toben", eine "sogkräftig-stimmige Szenenfolge sanft schwebender surrealer Momente", gewürzt mit "liebevoller Ironie und atmosphärisch dichter Musik", umgesetzt mit "schauspielerischen Glanzleistungen". Eine "großartige Aufführung".

 

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