Sühne für (Un-)Schuld?

Moskau, 26. Juni 2020. Zu drei Jahren Haft auf Bewährung und einer Geldstrafe von 800.000 Rubeln (umgerechnet rund 10.000 Euro) ist der russische Regisseur Kirill Serebrennikow heute von einem Moskauer Gericht wegen Veruntreuung von Fördergeldern verurteilt worden. Die Verurteilung meldete heute Vormittag Spiegel Online unter Berufung auf die Agentur Interfax, das Strafmaß am Nachmittag u.a. Zeit Online

Verboten ist es Kirill Serebrenikow zudem, in Russland künftig als Theaterdirektor zu arbeiten, so Zeit Online. Der FAZ zufolge darf Serebrennikow jedoch weiterhin das Moskauer Gogol Center leiten.

Neben Serebrennikow waren auch drei Mitglieder seiner ehemaligen Theatergruppe "Das siebte Studio" angeklagt. Serebrennikows Verteidiger Dmitri Charitonow plant Zeit Online zufolge, Einspruch gegen das Urteil einzulegen.

Gefordert hatte die Staatsanwaltschaft sechs Jahre Haft und eine Geldstrafe in Höhe der nun verhängten rund 10.000 Euro, so Spiegel Online. Serebrennikow wurde vorgeworfen, zwischen 2011 und 2014 129 Millionen Rubel (etwa 1,65 Millionen Euro) Fördergelder veruntreut zu haben. Serebrennikow hatte stets seine Unschuld beteuert, jedoch eingeräumt, dass die Buchhaltung seines Theaters schlecht organisiert gewesen sei.

Kritische Kunst unerwünscht

Das Verfahren wird international wegen mangelnder Rechtsstaalichkeit kritisiert. Beobachter bewerten es als politischen Schauprozess gegen die liberale Kunstszene in Russland. Viele internationale Künstler*innen, Vertreter*innen internationaler Kulturinstitutionen und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel haben sich für den prominenten Regisseur eingesetzt. Am gestrigen Donnerstag forderte der Deutsche Bühnenverein in einer Presseaussendung die Einstellung des Verfahrens. Auch die Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt, Bärbel Kofler, appellierte an die russischen Institutionen, "einen objektiven, fairen und transparenten Prozess nach rechtsstaatlichen Grundsätzen zu gewährleisten".

Eine Petition zur Freilassung Serebrennikovs hat rund 56.000 Unterzeichner*innen gefunden. PEN International und PEN Moskau bezeichneten das Urteil in einem gemeinsamen Statement als einen "Affront gegen die Gerechtigkeit"; die Untersuchung und die Gerichtsverfahren stünden symbolisch für den zunehmenden Druck auf die Kunstfreiheit in Russland.

(SPON / Zeit Online / gazetta ru / chr / miwo / eph)


Upadate vom 7. Juli 2020. Kirill Serebrennikow wird nicht gegen das Urteil in Berufung gehen. "Kirill ist von dem ganzen Gerichtsverfahren sehr müde. Nach dem ungerechten Schuldspruch ist er niedergeschlagen", zitiert die Süddeutsche Zeitung Serebrennikows Anwalt Dmitri Charitonow.

 

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Presseschau

"Alle Anerkennung, alle Solidarität von Künstlern und Kulturschaffenden in Berlin, Moskau oder Nowosibirsk haben nichts geändert", kommentiert Sonja Zekri in der Süddeutschen Zeitung (26.6.2020). Serebrennikow müsse zwar nicht ins Gefängnis, "aber er wurde schuldig gesprochen, unter dem Deckmantel des internationalen Kunstprojekts 'Plattform' eine Bande gegründet zu haben, um 1,6 Millionen Euro staatliches Fördergeld zu unterschlagen". Wie hätte Serebrennikow die Festival-Künstler*innen bezahlen können, wenn er alles Geld in die eigene Tasche gesteckt hätte?, fragt Zekri. Der Grund für den Prozess bleibe unerklärlich: Unterstützt worden sei "Plattform" vom damaligen Präsidenten Dmitrij Medwedjew, und im Gogol Center "reservieren Politiker Karten für die kühnsten Aufführungen". Umso eindeutiger sei die abschreckende Wirkung des Verfahrens: "[W]enn der Wind sich dreht und neue oder alte Mächtige ans Ruder kommen, sind die Gönner von gestern weit weg. Russlands Kunst wird überleben. Aber die Künstler? Diese Frage bleibt offen."

Von Protesten und Solidaritätsbekundungen bei der Urteilsverkündung berichtet Kerstin Holm in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.6.2020, Paywall). Etliche der Anwesenden "bezeichneten das Verfahren als fabriziert und als eine Bedrohung für die gesamte russische Zivilgesellschaft", so Holm. "In regelmäßigen Intervallen wurde den Angeklagten applaudiert." Als bekannt wurde, dass die Haftstrafen zur Bewährung ausgesetzt werde, habe die Menge gejubelt. In den Hintergründen zum Prozess schildert Holm die zweifelhafte Beweislage: Aus einer in der Theaterszene üblichen Praxis – Überweisungen des Kulturministeriums in Bargeld umzuwandeln, z.B. um Künstler zu bezahlen – habe die Staatsanwaltschaft einen Kriminalfall mit einem angeblichen Diebstahl gemacht. "Bezeichnend ist auch, dass vom Gericht insgesamt drei Gutachten in Auftrag gegeben wurden, von denen die ersten beiden die Beschuldigten entlasteten – was offenbar nicht ins Konzept passte. Erst das dritte, das zu niedrige Kostenschätzungen ansetzte und manche Produktionen von 'Platforma' gar nicht berücksichtigte, wurde als Beweismittel akzeptiert", so die FAZ-Autorin. Präsident Putins Sprecher Dmitri Peskow kommentierte das Urteil Holm zufolge mit der Aussage, dass bei der Aufwendung von Finanzmitteln für die Kultur "Korruption effektiver verhindert werden" müsse. Putins Sprecher zufolge "nähmen die Machthaber keinerlei Spannungen in der Gesellschaft infolge des Prozesses wahr".

Auch Berliner Theaterschaffende protestierten, berichtet Jens Bisky in der Süddeutschen Zeitung (26.6.2020), darunter DT-Intendant Ulrich Khuon und Schaubühnen-Spieler Lars Eidinger. Schaubühnen-Intendant Thomas Ostermeier habe vergeblich versucht, der russische Botschaft eine Protestresolution mit 56.000 Unterschriften zu übergeben.

Den Vorwurf des Subventionsbetrugs sieht auch Frank Herold im Tagesspiegel (26.6.2020) nur vordergründig als treibenden Faktor des Verfahrens – "in Wahrheit ging es um Zensur". Anders als die sowjetische Zensur, die "brachial und berechenbar" gewesen sei, funktioniere die aktuelle Zensur auf den ersten Blick nicht über ideologische Grundsätze, sondern werde "subtiler in Anschlag gebracht“: "Die Methode ist Verunsicherung, ihre effektiven Werkzeuge – wie sich jetzt erneut herausstellt – sind Finanz- und Strafverfolgungsbehörden", so Herold. Ein immer stärker werdender konservativ-autoritärer Diskurs ziele auf eine "Verbannung aus der Mehrheitsgesellschaft": "Serebrennikow musste zur Strecke gebracht werden, weil er sich als kritische Stimme gegen die russische Kulturpolitik zu erkennen gegeben hatte."

Es gelte "als offenes Geheimnis, dass jemand einflussreiche Feinde haben muss, bevor ihn all diese Fallstricke vor Gericht bringen", in der Berliner Zeitung (27.6.2020) dröseln Susanne Lenz und Stefan Scholl den Fall noch einmal auf und berichten von der Demonstration und dem Versuch der Petitionsübergabe vor der russischen Botschaft sowie von Reaktionen auf das Urteil in Moskau.

"Als exemplarischen Testfall für die Kunstfreiheit" versteht Lars Eidinger den Prozess gegen Serebrennikow im Interview mit Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.6.2020).

Der russische Staat signalisiere, es gäbe Kunstfreiheit und die Vorwürfe im Prozess seien andere, dabei werde in Wirklichkeit ein Signal an alle Künstlerinnen und Künstler gesendet, nicht zu kritisch zu werden, kommentiert Intendant Ulrich Khuon im Interview mit Deutschlandfunk Kultur (26.6.2020) das Urteil. Das Ziel sei Einschüchterung.

"Die geläu­figs­te Erklä­rung lautet, hinter dem Prozess stecke der einfluss­rei­che Bischof der russisch-ortho­do­xen Kirche Tichon Schew­ku­now, der als Putins Beicht­va­ter gilt", schreibt Nikolai Klimeniouk in der FAS (28.6.2020). "Diesem sollen Sere­bren­ni­kows freche Inter­pre­ta­tio­nen der Klas­sik und sein freier Umgang mit Themen wie Sexua­li­tät, Reli­gi­on oder Stali­nis­mus miss­fal­len haben." Ob das stimme oder nicht, der Verlauf des Prozesses habe "noch einmal das zentra­le Prin­zip der russi­schen Straf­ver­fol­gung bestä­tigt: Ist eine Straf­sa­che einmal eröff­net, kommt es fast unab­wend­bar zu einer Verur­tei­lung. Sind die Ange­klag­ten unschul­dig, wird im besten Fall eine Bewäh­rungs­stra­fe ausge­spro­chen." Mit dem Urteil sei die Sache noch nicht zu Ende, prophezeit Klimeniouk: "Die Ange­klag­ten und die Ankla­ge können in Revi­si­on gehen, das Ganze kann dann von vorne anfan­gen und sogar mit schwe­re­ren Stra­fen enden. Danach bliebe noch ein Gang zum Euro­päi­schen Gerichts­hof."

In der Zeit (2.7.2020) kritisiert Regisseur und Schaubühnen-Intendant Thomas Ostermeier den Prozess scharf und kündigt an, nicht mehr in Russland zu arbeiten. "Ich habe die Schnauze voll, ich fühl mich dort nicht mehr wohl. Ich will’s nicht drauf ankommen lassen."

 

 

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