Einblick in den Brustkorb

von Andreas Klaeui

Zürich, 4. Oktober 2008. Es ist ja nicht davon auszugehen, dass sich George Bush II. in seiner Rede vom Kampf des Guten gegen das Böse bewusst war, dass er damit auf einen Topos des altiranischen Philosophen Zoroaster zurückgreift. Dennoch gleichen sich die Szenarien in gespenstischer Weise, bis hin zur versuchten Ehrenrettung des Vaters im erneuten Feldzug, und man sieht sich zur Feststellung genötigt, dass sich die Menschheit seit 480 v.u.Z. nicht groß verändert hat.

Jedenfalls nicht, was ihre Hybris angeht. Und die ewige Wiederkunft des Gleichen (um noch einmal an Zoroaster anzuknüpfen), im Zuge deren sich die Grenze zwischen Ost und West - im Jahr 480 ein für alle Mal festgelegt am Hellespont - je nach Bedarf beliebig um den Globus verschiebt, rückt ja auch die These unserer vereinten Geschichts- und Griechischlehrer in ein unsicheres Licht, bei Marathon und Salamis habe sich das Schicksal des Westens entschieden: Wäre wirklich alles so ganz anders gekommen, wenn Xerxes damals gesiegt hätte und die griechischen Städte persisch geworden wären?

Früh gezogene Grenzen

Die Frage stellt sich Aischylos nicht, acht Jahre nach dem Triumph von Salamis. Aber er geht an den Hof der Perser und untersucht das Drama von Verhängnis und Verblendung in der Spiegelung der Gegenseite, in der persischen Innensicht, Geist-Erscheinung des guten Herrschervaters inklusive. Ein Spiegel, der möglicherweise auch auf die eigene athenische Hybris zielte und auf Themistokles. Jedenfalls sind Aischylos' "Perser" fern jeder chauvinistischen Propaganda, einzig auf ihre tragische Dynamik angelegt - und darum nicht im Geringsten verstaubt. Wie Stefan Puchers Inszenierung am Schauspielhaus nun imponierend zeigt.

Eine einfache Setzung, eine schlichte, gleichsam reduzierte Inszenierung. Nach seiner unvergessenen Zürcher "Orestie" im Wilden Westen einer Gründerzeit der Moderne geht Pucher nun in den Osten: nach Bagdad. Bühnenbildnerin Barbara Ehnes hat sich von einem Palast Saddam Husseins inspirieren lassen und eine sternförmige Marmorhalle auf die Pfauenbühne gebaut, Perserteppiche und orientalische Kacheln an den Wänden, in der Himmels-Kuppel scheuende Pferde und an der Rückwand ein immenser gekachelter Adler; heraldisches Vorbild jenes Adlers, der sich in Königsmutter Atossas Albtraum von einem plötzlich auftauchenden Habicht wehrlos töten lässt.

Atossas filmische Traumerzählung

Hier sitzt Atossa (Catrin Striebeck) auf einem orientalischen Thron; hier steht Jean-Pierre Cornu als Oneman-Chor des persischen Ältestenrates in würdigster Biederkeit und zählt sie alle auf, die Vasallen und Heerführer, die mit Xerxes nach Griechenland gezogen sind, "aus allen Provinzen des grossen Reiches, aus jeder Ecke Asiens, die Blüte Persiens", wie es in Durs Grünbeins wunderbar geschmeidiger Übersetzung heisst.

Es ist ein fabelhaftes Heer, eine fabelhafte Aufzählung, gewaltig reiht sich Name an Name, und nichts weiter passiert. Keine Handlung, kaum ein Gang über die Bühne – und man sitzt da, gebannt und gefesselt, und hört zu. Dann kommt Atossa dran; man kann es nicht anders sagen, einen nach dem andern lässt Aischylos auftreten. Sparsam eingesetzte erste Videobilder (in Schwarzweiß, vom Traumadler, später auch von Schlachten, Ruinen des Dareios-Palasts, die königliche Familie in besseren Tagen, gefilmt von Meika Dresenkamp).

Darauf wieder der Chor. Rede, Gegenrede, neue Rede. Schritt für Schritt entwickelt Pucher die Dynamik von Aischylos' Text, dieses so unglaublich statischen Dramas, und sie steigert sich hinreißend spannungsvoll. Der Botenbericht – selten war Daniel Lommatzsch so eindringlich zu erleben wie mit diesen altgriechischen Soldatenworten von der List der andern und dem eigenen Debakel. Und nun gibt es einen Riss, eine minimale Verschiebung.

Klagen, Hadern, starker Auftritt

Zum ersten Mal nimmt jemand bei Musik Zuflucht an diesem Abend. Der Bote singt einen westlichen Popsong; ein starker Auftritt. Um so heftiger die Leere auf der Bühne nach seinem Abgang. Brutal wechselt nun das Licht, kalt und fahl. "Das ist jetzt alles so schneidend. Das ist alles so frisch", sagt der Chor bei Grünbein. Und genau so ist es. Dareios' Geist tritt auf, Robert Hunger-Bühler in einer Szene von (erstaunlich) diskreter Komik. Er raucht eine Zigarette, wie man es in der Schweiz unter den Lebenden bald nirgendwo mehr darf, und poliert seine ballistischen Raketen.

Als er seine Ahnen aufzuzählen beginnt, seufzen Atossa und der Chor vernehmlich: immer das Gleiche, wie damals schon, als er noch lebte. – Endlich Xerxes selbst: Oliver Masucci mit geballten Fäusten, von seinem Prachtbody blättert das hautnah applizierte Gold ab. Ein bitterer Schlussmonolog, noch einmal die lange Aufzählung aller Heerführer, alle verloren, "in meinem Brustkorb schreit es", ein heftiges Klagen und Hadern, schneidend und frisch.

Die Perser
von Aischylos, Deutsch von Durs Grünbein
Regie: Stefan Pucher, Bühne: Barbara Ehnes, Kostüme: Tina Kloempken, Musik: Arvild Baud, Video: Meika Dresenkamp. Mit: Jean-Pierre Cornu, Catrin Striebeck, Oliver Masucci, Robert Hunger-Bühler, Daniel Lommatzsch.

www.schauspielhaus.ch


Mehr lesen über Stefan Pucher: Im Juni 2008 brachte er am Berliner Maxim Gorki Theater Fritz Langs M - Eine Stadt sucht einen Mörder auf die Bühne. Der Sturm entstand im vergangenen November an den Münchner Kammerspielen und eröffnete das Theatertreffen 2008.

 

Kritikenrundschau

"Ein Wurf." Barbara Villiger Heilig zeigt sich in der Neuen Zürcher Zeitung (6.10.) von Stefan Puchers "atemraubender" "Perser"-Inszenierung am Schauspielhaus Zürich tief beeindruckt: "Pucher verzichtet auf jegliche Mätzchen. Er hält sich zurück und packt doch zu. Die Details der 'Handlung' – sie kommt in Form von Rückblick, Analyse, Erwägung auf die Bühne – liefern die Schauspieler in messerscharfer Diktion, wobei sich ihrer Rede die Erschütterung des Augenblicks beimischt". Die Aufführung halte sich "einfach an den (etwas gekürzten) Text, der in Durs Grünbeins Übertragung tönt wie neu." Der Schall der grandiosen Sprache des Aischylos erreiche in Grünbeins Fassung "das Hier und Jetzt unserer Gegenwart". Und so vergegenwärtige etwa, "wenn Daniel Lommatzsch auftritt, über dem Gesicht ein blutroter Streifen, und die verlorene Schlacht schildert, ... sein niederschmetternder Botenbericht Greuel und Grauen des Kriegs schlechthin."


Auch Peter Iden stimmt in der Frankfurter Rundschau (6.10.) in den Jubel ein: "Das ist eine nun wirklich erregend spannende, bewegende Aufführung. Zügig im Ablauf, sehr dicht, in jedem Moment der Spieldauer von wenig mehr als einer Stunde konzentriert auf einen Text, der szenisch nicht durch Zutaten aktualisiert werden muss, um seine Aktualität zu erweisen." Denn die aktuellen zeitgeschichtlichen Bezüge drängten "sich auf wie von selbst. So hat die Regie Stefan Puchers jetzt in Zürich denn auch auf direkte Anspielungen verzichtet." Die eine Person etwa, auf die der Chor des Staatsrats reduziert wird, sei "kein iranischer Fundamentalist und auch kein amerikanischer Senator", sondern trete auf "wie ein Archivar oder das Klischee eines strengen Griechischlehrers". Insgesamt habe man sich den "Persern" in Zürich "aufmerksam genähert – mit Sinn für das Vergangene, das nicht vergangen ist."


Martin Halter will in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (6.10.) nicht recht mitjubeln, doch kann er der Aufführung seinen Respekt auch nicht ganz versagen. Zwar sei Pucher "der Berufsjugendliche des Poptheaters" und er stecke auch "den Vater aller Tragödien in den Fummel der Popkultur". Und ursprünglich habe Pucher sogar die Bezüge der "Perser" "zu den Irak-Kriegen der beiden Bushs noch deutlicher, will sagen: platter herausarbeiten" wollen, wovon nur die Bühne von Barbara Ehnes geblieben sei: "ein babylonisches Protzmausoleum mit einem Wappenadler". Doch die "gemessenen Schrittes absolvierten Auf- und Abtritte, Reden und Gegenreden haben durchaus ihren statuarischen Reiz." Es gibt "bloß zwei, drei Popsongs und ein paar verhuschte Videos, und am Ende verbeugt sich der Regisseur sogar artig im Anzug." Und so scheine "der ewige Sohn des Poptheaters langsam erwachsen zu werden."

Stefan Pucher nehme die Angst-Spiegelung im Schauspielhaus Zürich bildlich ernst, so Tobi Müller in der taz (7.10.). Barbara Ehnes' Bühne ist ein "plakativer Innenraum der Macht. Den Stern am Boden sowie den Pfauenthron gibt es auch in Saddam Husseins Präsidentenpalast ... Doch das Blau, die Ecken im Rund und das Adlerwappen erinnern an das Weiße Haus in Washington. So sieht es aus, wenn man zuschaut, wie sich der Westen den Orient vorstellt. Disney Middle East." Diese "Architektur des Imaginären" könne man "platt" und "plump" rufen. "Allein: Einfach ist das gerade nicht." Die Perspektive sei so schön unrein, wie sie es vor zweieinhalbtausend Jahren war. Anders die Inszenierung selbst: "Noch nie hat Pucher die Systeme so klar getrennt. Das Bild. Die Sprache. Die Songs. Der Traum der Avantgarde, die Ebenen zu zersägen, statt sie zu verschrauben, trifft hier auf eine durchgearbeitete Diktion."


Einen "posttraumatischen Poptraum" hat Simone Meier laut ihrer Überschrift in Zürich erlebt. Pucher, schreibt Meier in der Süddeutschen Zeitung (8.10.) habe sich "für die Leere entschieden, für die Fassungslosigkeit, die Ohnmacht". Für "ein statisches Protokoll des Scheiterns". Das funktioniere solange "einigermaßen uninspiriert", bis Pucher vom "einsamen Deklamieren" genug habe und in "diesen Text über die unmögliche Bewältigung des Traumas Pop-Elemente" einfüge. Bloß wirkten die Songs nur wie "alberne Einbrüche in eine Arbeit, die sich auch sonst für keinen rechten Fokus und für keinen der sonst bei Pucher so geschätzten dekonstruktivistischen Kicks entscheiden" könne. "Natürlich" werde auch der nahe liegende Vergleich von Dareios und Xerxes zu Bush Senior und Junior gezogen, aber der sei "so offensichtlich, dass es plump wirkt". Eindringlicher erst der Schluss, wenn Oliver Masucci als Xerxes heimkehre wie all die "amerikanischen Kriegsheimkehrer aus dem Irak, für die der Glaube an den Erfolg im Feld die einzige Droge ist, die sie noch am Leben erhält".

 

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