Experimentierlabor Straßburg

von Jürgen Reuß

Freiburg, 4. Oktober 2008. Nachdem in der vergangenen Spielzeit über dem Theater Freiburg bereits der Spruch "Europa wird kulturell sein oder es wird nicht sein" prangte, widmet es in dieser Spielzeit seine kleinste, die Kammerbühne, ganz der Vertiefung der europäischen Frage. Sie wird zum Experimentierlabor umgebaut, in dem man mit den Mitteln des Theaters an der Baustelle Europa basteln kann. Um dafür auch das passende Umfeld zu schaffen, hat das Theater den Künstler Moritz Müller beauftragt, ein geeignetes Raumkonzept zu entwickeln. Und Müller machte erst mal Tabula rasa.

Der gesamte Kammerbühnenkomplex mit Spielstätte, Hinterräumen und Foyer wurde komplett entrümpelt und geweißelt. Von dieser künstlichen Stunde Null an darf das kleine Experimentaleuropa nun wuchern. Jede dort stattfindende Produktion muss sich zunächst einrichten und wird Spuren hinterlassen - Requisiten, Wandbemalung o.ä. -, auf denen sich die folgenden Produktionen aufbauen bzw. mit denen sie sich abfinden müssen. Die Kammerbühne soll zum "prozessualen Raum" werden, in dem ein Stück niemals zweimal in derselben Kulisse stattfindet, sich die Geschichte seiner Benutzung Nutzung für Nutzung sedimentiert. Müller nennt das eine bewusste "Torpedierung des Repertoirebetriebs", durch die konstruktive Konflikte strategisch vorprogrammiert werden.

Aufbau in der Stunde Null

Von Konflikten ist bei der ersten Premiere im neuen Raum allerdings noch nichts zu spüren. Um die Stunde Null auch für das Publikum nachvollziehbar zu machen, wurden die ersten, während der Probearbeit entstandenen Sedimente vollständig entsorgt. Das Ensemble-Projekt "Die Europäische Verfassung. Eine Verzettelung" beginnt im leeren Raum, präziser gesagt in einer Neubauatmosphäre, in der das Baustellenhafte noch zu spüren, fürs Kommende schon geputzt und die erste provisorische Inbesitznahme schon sichtbar ist durch eine Tischreihe und drei Stühle.

Die erste Handlung der drei Schauspieler Ricardo Frenzel, Albert Friedl und Nicola Fritzen besteht folgerichtig darin, Material auf die Bühne zu schaffen. Als gewählte Anzugträger – zweimal schwarz, einmal braun – stammt ihr Material aus Parlamentarier-Kreisen: Berge von Aktenkoffern, Ventilator, Kaffeemaschine, Kleinkopierer, Mikro, Akten, Kaffeetassen, Stifte, Fähnchen, Tacker. Die ersten Koffer werden noch seriös hereingetragen, wie man das von alerten Politprofis erwarten würde. Doch dann werden es immer mehr Koffer, routinierte Gesten wuchern in einen Slapstickkampf mit der Materie.

Projekt mit viel Papier

Wenn das Szenario wirklich dem Alltag eines typischen Europaabgeordneten entspricht, an dessen Arbeitsstelle im Straßburger Parlament sich das Ensemble auf Anregung der Dramaturgin Johanna Sprondel sachkundig gemacht hat, muss dort eine gewisse Verwahrlosung vorherrschen. Hinter ihren staatstragenden Volljuristenfassaden lauert der kindische Messi. Und das Parlament muss aussehen wie eine russische Raumstation nach Dauerbetrieb.

Solche Schlüsse vom Bühnengeschehen aufs realpolitische sind übrigens erwünscht. Will Regisseur Christoph Frick mit dem Stück doch ein "Sittenbild der kommunikativen Unschärfe der EU" entwerfen und die "sprachlich-choreographische Gestaltung von Europagesetzgebung" sichtbar machen. Ein spannendes Projekt, das in der Umsetzung allerdings mit dem Konflikt zwischen realbürokratischer Ödnis und dem Willen zur Unterhaltung zu kämpfen hat. Gesetzestexte sind für den Laien ein endlose Verzettelung von Ziffern, Unterziffern, Unterunterziffern und Änderungen zu Änderungen von Änderungen bis in ein völlig sinnentleertes Gebrabbel. In diese naive Draufsicht kippt auch die Inszenierung immer wieder.

Und ein wenig lost in translation

Gleich zu Beginn brauchen die Darsteller eine gefühlte Viertelstunde, um in Piet-Klocke-Manier das EU-Motto "Vielfalt in Einheit" hervorzubringen. Danach ist das Bühnengeschehen so erschöpft, dass es sich darauf beschränkt, einer Kaffeemaschine bis zum bitteren Ende beim Kochen zuzuschauen. Dann wird wieder die Bürokratieschraube mit dem Vortrag der endlosen Namenslitaneien aus der Verfassungspräambel oder dem Verlesen einer Parlamentstagesordnung auf Portugiesisch angezogen, um sie mit komischen Elementen aufzupeppen.

Das ist in Ansätzen durchaus gelungen, wenn bei einem Streit übers Kochen Nationalismen mit gebrüllten Europaargumenten verteidigt werden. Auch die Rhetorik von Lobbyisten und prominenteren Politikern wird schön kabarettistisch seziert. Aufgelockert wird das Ganze mit musikalischen Einlagen zu den Hymnen Europas, deren Vaterlandslyrik in dieser Konzentration fast schon erschreckend wird.

Kabarettistischer Auftakt

Schwierig wird es beim gespielten Gegenbild der Flüchtlinge, die die volle Erbarmungslosigkeit der Ausgrenzungsbürokratie der Europäer zu spüren bekommen. Wenn man vorher die Mechanismen der Rhetorik schauspielerisch durchleuchtet, wird das eigene Spielen auf der Betroffenheitsklaviatur zum zwiespältigen Manöver. Insgesamt ist "Die Europäische Verfassung" jedoch ein angemessener kabarettistischer Auftakt, um so ein theatrales Europalabor einzuweihen, der durch das Angebot, anschließend mit jeweils anderen Europaexperten zu diskutieren, stimmig abgerundet wird.

Die Europäische Verfassung. Eine Verzettelung
Ensemble-Projekt von Christoph Frick, Ricardo Frenzel, Albert Friedl, Nicola Fritzen.
Regie: Christoph Frick, Ausstattung: Birgit Holzwarth, Musik: Nikolaus Reinke, Dramaturgie: Johanna Sprondel. Mit: Ricardo Frenzel, Albert Friedl, Nicola Fritzen.

www.theater.freiburg.de
www.festungeuropa.eu

 

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