Nur das Beste - Theater Freiburg
Die Mietgroschenoper
von Jürgen Reuß
Freiburg, 4. Juli 2020. War früher der Einlass ein anarchischer, dem Publikum weitgehend selbst überlassener Akt, werden zurzeit auch die Theatergäste unter strenger Regie inszeniert. Zunächst in die Maske, dann vorgeschriebene Laufwege und feste, locker im Raum verteilte Positionen. Nie mehr als zwei nebeneinander. Erst wenn die Akteure auf der Bühne übernehmen, darf das Publikum die Maske fallen lassen. Treten die nach dem Applaus ab, muss das Publikum wieder ran zur umgekehrten Choreographie. Gewöhnungsbedürftig, aber dafür geht die Show weiter.
Im Berliner Klischeemilieu
Im Freiburger Kleinen Haus sogar mit einer Uraufführung, Dirk Lauckes Wohnraumposse "Nur das Beste". Die Bühnenlandschaft ist ein zerknülltes Zeitungspapiergebirge vor einer Videoprojektionswand (Bühne: Manuela Freigang). Wer da an Clochards oder eine untergehende Welt, in der das Zerknüllte noch Leitmedium war, denkt, liegt sicher nicht völlig daneben. Die Zeitung ist aber auch Auftraggeber von Ludi (Martin Hohner), der als Karikaturist zum Bohèmeprekariat gehört. Seine Frau Sanne (Elisabeth Kopp) hat nach Geburt der Tochter ihr Musikerinnendasein für mietnötiges Gejobbe bei Startup-Kreativen aufgegeben.
Immerhin mag sich die Familie. Anders als Sannes Jobgeberin Larissa (Iris Becher), die ihr irgendwie boutiquiges Treiben vom gutverdienenden Kreativspace-Workaholic Stefan (Tim Al-Windwe) finanziert bekommt. Weil keiner von beiden Bock auf Betreuung des gemeinsamen Kindes hat, knallt's, und nur die finanzielle Bequemlichkeit wird dieses Beziehung am Ende retten.
Soweit das Berliner Kreuzkölln-Klischeemilieu, das in Freiburg vielleicht zwischen Stühlinger und Wiehre daheim wäre. Dann beginnt der Dominoeffekt. Der nette Schlamper Ludi verpasst zum wiederholten Mal die rechtzeitige Mietzahlung und liefert den Immobilienbösen den willkommenen Anlass, die Familie zwecks Gewinnoptimierung rauszuschmeißen. Zusammen mit Ladenbesitzerkumpel Murat (Henry Meyer) kifft sich Ludi zur Schnapsidee, dass man erpresserische Mietverträge und Vermieter-PCs nur verbrennen muss, und in der Welt herrscht Wohngerechtigkeit.
Hai und Igel
Sanne ist da realistischer und schließt einen Pakt mit dem Wohnhai-Teufel: Sie schmeißt für ihn andere Mieter raus, und bekommt dafür eine Wohnung. Dem Stück gibt das Gelegenheit, auch mal Vermieter zu Wort kommen zu lassen. Da ist der opernliebende Internist Jan (Holger Kunkel), der gelegentlich für die angetraute Immobilienmogulin Isi (Moritz Peschke) als Verwalter einspringt. Und ja, das Paar ist so pseudokulturell-gewinnorientiert, wie man sich Vermieter mit Blick auf die eigenen Mietkonditionen gern vorstellt.
Und dann gibt's da noch einen Igel. Und damit ist man auch bei der Inszenierungsidee von Regisseur Bastian Kabuth. Denn der Igel, den Ludi und Sannes Tochter an einem Autoreifen findet, führt auf der Projektionswand durch das Stück wie das Tumbling Tumbleweed im Kinoklassiker "The Big Lebowski" macht. Mal erscheint er wie das Sandmännchen, mal treibt er auf einem Fluss wie die vor der bösen Nacht des Jägers fliehenden Kinder. Und ganz am Ende bekommt er auch eine Erzählerstimme, bei der man nur darauf wartet, dass sie mit "Howdy" Leute verabschiedet. Aus Sicht dieses Igels sind die im Stück verhandelten Nöte sicher nur eine Posse.
Erlesener Soundtrack
Überhaupt kommt das ganze Stück sehr filmisch rüber. Leicht klischeehafte, aber ausreichend realistisch-unterhaltsame Dialogszenen werden in harten Schnitten durch Video und Sound ins Episodische montiert. Dabei kosten die Videos (Bastian Kabuth) den Spaß an der Übertreibung sehr unterhaltsam aus. Etwa wenn der opernliebende Internisten-Makler von der Dusche bis zum Luxusgefährt filmisch eingeführt wird, bevor er leibhaftig auf der Bühne erscheint. Dazu ein Klaus-Nomi-artiger Opernpop.
Und damit wären wir beim größten Bonbon dieses Theaterabends: dem Soundtrack. So oft passiert es nicht, dass man nach einem Schauspiel am liebsten sofort die Playlist mit nach Hause nehmen möchte. Hier ist das so. Man hört dieser Inszenierung einfach gern zu. Das liegt natürlich nicht nur an der Auswahl der Songs, sondern auch an der Musikalität von Lauckes Sprache und deren Umsetzung durch das Ensemble. Aber trotzdem, wie da Sandmännchenpop, aufjaulende 70er-Elektrogitarre oder After Laughter reinreggaed, macht Spaß.
Finale mit Widerstand
Trägt es auch die Idee des Stücks? Die elenden Wohn- und Arbeitsverhältnisse des Hipsterprekariats in Playlist-Episoden? Gegenfrage: Wie sonst? Nur der Igel hat noch das Sprachregister von Friedrich Engels zur Verfügung, um sich zur Wehr zu setzen. Die Bohème geht lieber wie die Kapelle auf der Titanic in cooler Pose zugrunde.
Nur Sanne bricht damit, und setzt um, was Autor Laucke dem Lokalblatt im Interview diktiert hat: "Nur mit Scheiße an der Jacke kommt man aus der Scheiße". Sannes Widerstandsakt am Ende des Stücks ist die Bruchlinie der Inszenierung. Für den Bühnenästheten ist dieser politisch wertvolle, aber unmusikalische Akt zu sehr pädagogisches Grips-Theater. Andererseits, warum sollte dies wachsende Bruchlinie von "Wohnst du noch oder bohèmst du schon" unter der Brücke im realen Leben nicht auch auf der Bühne sichtbar sein?
Nur das Beste
von Dirk Laucke
Uraufführung
Regie: Bastian Kabuth, Bühne: Manuela Freigang, Kostüme: Charlotte Morache, Dramaturgie: Rüdiger Bering.
Mit Tim Al-Windawe (Stéfan), Martin Hohner (Ludi), Elisabeth Kopp (Sanne), Holger Kunkel (Jan), Henry Meyer (Murat), Moritz Peschke (Isi), Iris Becher (Larissa)
Premiere am 4. Juli 2020
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.theater.freiburg.de
Kritikenrundschau
Laucke liefert "eine Milieustudie von den Sörgen und Nöten der Kreativjobber, die entweder reichlich unsympathisch herüberkommen oder total verpeilt sind", so Eva Marburg auf SWR2 (6.7.2020). Der Humor des Textes komme nicht zum Ausdruck. 'Wo ist hier die Posse, die Satire?', frage man sich. "Die konkrete Milieustudie schafft den Sprung nicht in die gesellschaftliche Problematik, bleibt ein gut gemeintes, etwas pädagogisches Erklärstück in Sachen Wohnraumkrise."
"Zur wirklich stringenten Story" fügt sich der Text in den Augen von Michael Laages von der Deutschen Bühne online (6.7.2020) "erkennbar noch nicht". Regisseur Bastian Kabuth "zerfasert ihn im Kleinen Haus vom Freiburger Theater noch obendrein: durch ambitiöse Video-Filmerei zwischen den Szenen". Die "Filmchen" sorgten "vor allem dafür, dass Lauckes ohnehin schon fragile Handlung nicht wirklich vorankommt; immer wieder wird sie aufgehalten. Und so kann sie schon gar nicht jenes Tempo aufnehmen, das für eine 'Posse' nötig wäre – also eine chronisch überdrehte Klippklapp-Komödie mit möglichst abstrusen Verwicklungen."
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Die Visuellen Effekte hätten, so mein spontanes Empfinden, etwas reduzierter einen größeren Effekt. Eine Kritik meinerseits allerdings auf hohem Niveau.
Des Weiteren war im schauspielerischen Sinne, so zumindest meine Wahrnehmung, ein überraschend hoher qualitativer Unterschied zu sehen.
Während Ludi, wenn auch zum Teil etwas sehr druckvoll gespielt, und Larissa sehr authentische Darstellungen boten und es einfach Spaß machte sich in der Rolle des Jan zu verlieren, so fiel die Rolle des Stefan doch qualitativ überraschen massiv in der schauspielerischen Darstellung ab.
Trotzdem war die Aufführung in der Summe sehr stimmig und der Regie sowie der Dramaturgie ist ein uneingeschränktes Lob auszusprechen.
Opernpop von"Klaus Nono" wäre mir gänzlich unbekannt;-)
(Liebe/r Kenner/in der 80er, absolut richtig beobachtet. Wir haben den Fehler korrigiert und danken für den Hinweis! Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)