Unheimliche Vermählung

von Tobias Prüwer

Leipzig, 7. Juli 2020. Ein Comic ist sequentielles Erzählen. In Wort und Bild wird der Inhalt vermittelt, das Lesetempo kann man selbst bestimmen. Diesen Vorteil hat das Publikum beim vorgetragenen Wort nicht. Zudem sind bei einem reinen Vortrag die darstellerischen Möglichkeiten begrenzt. Dennoch entschieden sich Lina Majdalanie und Rabih Mroué, ihr Recherche-Stück zur polnischen Geschichte "Last but not last" am Schauspiel Leipzig nach dem Prinzip Comic-Vorlesen zu gestalten.

Untiefen

Inhaltlich knüpft der gut andertalbstündige Abend an eine kuriose Gegebenheit an. Im Mai 2016 wird in einer kleinen Stadt in Polen die Hochzeit eines längst verstorbenen Nationalhelden wiederholt – Lebende und Tote sind gegenwärtig. Eine gute Ausgangslage, um mit Gespenstern der polnischen Vergangenheit und ihren aktuellen Heimsuchungen zu spielen. In verteilten Rollen tragen Majdalanie und Mroué die Perspektiven von Offiziellen, Verstorbenen und Helden-Doubles vor. Einmal sprechen sie – zumindest behaupten sie das – auch aus eigener, aus der Performerperspektive.

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Sie werfen Fragen auf wie: Wenn ein richtiger Bischof bei der Trauung vor Schauspielern auftritt, sind seine Worte vor Gott nicht dennoch wirksam? Die Offiziellen versuchen sich herauszureden, dass es doch nur eine Rekonstruktion oder Erinnerung gewesen sei. Majdalanie und Mroué fragen: Wer gedenkt wessen auf welche Weise angemessen? Und allmählich zeigt sich, was vorher bereits bekannt war, dass nämlich die polnische Geschichtspolitik voller Untiefen ist.

Legitimierung

Immer mehr Ungereimtes fördern die Performer*innen zu Tage, es geht um Nationalsozialismus und Stalinismus, aktuellen Nationalismus und Heldenkulte. Das ist zum Teil hübsch überspitzt. Zu tieferer Erkenntnis führt das nicht. In einem losen Vergleich werden Polen und der Libanon zusammengeworfen; wohl auch als Legitimierung, warum sich gerade ein libanesisches Künstlerduo polnischen Gegenwartsdiskussionen widmet.

Comic Strip

In der Form wird dieses Perspektivenknäuel als Vortrag präsentiert. Abwechselnd sitzen Künstler und Künstlerin auf einem Podium und tragen aus einem Folianten vor, als handele es sich um ein Märchenbuch. Der Text erscheint mit Illustrationen versehen zugleich an der Rückwand. Diese Projektionen bilden den Inhalt und funktionieren gut als eigenständige Comicgeschichte.

Last but not last 3 560 RolfArnold u© Rolf Arnold

Die detailreichen fotorealistischen Zeichnungen und der dazugestellte Text teilen alles Wesentliche mit. Einen künstlerischen Mehrwert gewinnt der Abend hingegen nicht durch den zusätzlichen Vortrag der Projektionen – im Gegenteil. Liest man den Comic in eigener Lesegeschwindigkeit, muss man warten, bis es weitergeht. Oder man lauscht dem etwas schleppend gesprochenen Wort und muss dabei jenes Pidging-Englisch entschlüsseln, das sich in der Kunstwelt als Verkehrssprache und Merkmal für "Internationalität" etabliert hat. Das ist mühsam. Gerade zu Pandemie-Zeiten, in denen physischer Abstand ein hohes Gut ist, hätte man "Last but not last" auch einfach als Comic anbieten können, statt ihn vor Ort noch vorzulesen.

 

Last but not last
von Lina Majdalanie und Rabih Mroué
Konzept, Regie, Performance: Lina Majdalanie, Rabih Mroué, Dramaturgie und Projektkuratierung: Marta Keil, Grzegorz Reske, Kuratorische Beratung: Katarzyna Wielga, Zeichnungen: George Khoury.
Premiere: 7. Juli 2020 in der Residenz des Schauspiel Leipzig
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten

www.schauspiel-leipzig.de

 

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