Dabeisein war alles

von Michael Stadler

München, 11. Juli 2020. Vielleicht ist ja ein guter Intendant wie ein Gärtner, der mit ruhiger Hand die zarten Pflänzchen in seinem Garten zum Wachsen bringt, der seine Bühnen, großen Rasenflächen gleich, wässert und gepflegt hält, mit Umsicht und Übersicht, aber auch Lust an tollen Wucherungen und neuen Kreuzungen, mit einem grünen Theaterdaumen sozusagen, inklusive blumigen Farbtupfern. Ach, so ein orangenes oder grünes T-Shirt macht sich doch wunderbar, gerade im anzugsgrauen München.

Oder vielleicht ist ein guter Intendant wie ein Klempner, allzeit bereit, wenn mal der Abfluss verstopft ist oder andere Reparaturen anstehen, der alles sicher im Fluss hält und im Notfall Körper und Bauch in Bewegung bringt, Jump and Run, hophop, über alle Hindernisse hinweg? Oder vielleicht ist ein Intendant sogar wie ein Superheld, der über allen Dingen steht, ja, ganz mutig über ihnen schwebt?

Wer schwebt da?

Ist es ein Flugzeug? Ist es ein Vogel? Oder wer fliegt da über den Rasen des Münchner Olympiastadions? Nein, es ist nicht Matthias Lilienthal, der hoch oben auf einem Stahlseil über Münchens schönsten, ungenutzten Fußballrasen rast, sondern Julia Riedler, die als Superwoman mit Cape und Chuzpe einen Flug wagt. Mit ihr beginnt die als "kleine Geste des Abschieds" angekündigte, einstündige Performance, die den Schlusspunkt von Lilienthals Ära an den Kammerspielen markiert.

opening ceremony 1 280 julian baumann uJulia Riedler als Superwoman © Julian Baumann Eigentlich wollte der Berliner, der einst auszog, um München mindestens das Wundern zu lehren, es am Ende noch mal richtig krachen lassen. Eine 24-Stunden-Performance durch die Stadt unter dem Titel "Olympia 2666", angelehnt am gleichnamigen Roman von Roberto Bolaño, hatten er und sein Team im Sinn, um das Maß (in München: die Mass) wirklich voll zu machen. Dem großen Happy-End des fulminanten Theater-Blockbusters, an dem Lilienthal unermüdlich und mit Beihilfe von Ensemble, Publikum und Kritiker*innen fünf Jahre lang gestrickt hat, stand eigentlich nichts mehr im Wege. Vom Tiefsten ("Jammerspiele") bis zum Höchsten (Theater des Jahres) war ihm der dramaturgische Bogen perfekt gelungen; die Saat war zuletzt aufgegangen (Auslastung: 85 Prozent), auch wenn zuvor die CSU die schönen Blüten vor lauter Unkraut nicht sah und ihm den Vertrag nicht recht verlängerte.

Dass aber zu allem Überfluss die Corona-Pandemie ausbrach und die Kammerspiele wie alle andere ins Internet vertrieb, war dann doch noch eine ziemlich überraschende, eher avantgardistische Volte in Lilienthals Kammerspiele-Epos. Kein Feuerwerk am Schluss, sondern seine Intendanz verdampft hinter Masken, versandet im digitalen Raum, im Zoom und in verstümmelten Zuschauerräumen, im Nichts. Fast im Nichts. Denn dass ihm der Gesundheitszustand seiner Mitarbeiter*innen wichtiger sei als jedes Finale, hat Lilienthal zwar in mehreren Interviews glaubhaft versichert. Aber einer geht noch rein. Wobei der letzte Kick im Olympiastadion dann doch ein bisschen megaloman anmutet: Hier spielten der FC Bayern (und die Sechziger), hier traten Jon Bon Jovi, Coldplay und Helene Fischer auf.

Nur Fliegen ist schöner

Der FC Bayern ist bereits 2005 in die Allianz-Arena abgewandert. Dort will auch Julia Riedler hin. Auf dem Dach des Olympiastadions fängt sie ihre Begrüßungsrede an, erzählt den rund 400 behördlich genehmigten Zuschauer*innen, die über den Eingang Nord ins Stadion durften und mit nach rechts gedrehtem Hals zu ihr hochblicken, dass die Handys aus oder auf Flugmodus gestellt werden sollen, dass sie dringend aufs Klo muss, aber die Toiletten im Altbau Olympiastadion so schmutzig seien, dass sie lieber rüber in die Allianz-Arena will und deshalb ein Uber-Taxi bestellt habe. Dann steigt sie noch höher aufs Dach, geht selbst in den Flugmodus und saust übers Seil auf die andere Stadionseite.

Dass er die Möglichkeiten des ihm gegebenen Spielraums nicht ausgenutzt habe, kann man Regisseur Toshiki Okada nach diesem Start schon nicht mehr vorwerfen. Nach Riedlers Stunt am Himmel lässt er mehrere Ensemblemitglieder auf den Rasen treten und ihn per Gießkannen bewässern. Es sind durchweg gelassene Hilfskräfte, zärtliche Gärtner, denen der Rasen offenbar etwas bedeutet. Über die (Nicht-)Eröffnung eines "globalen Events" denken sie nach, während Gitarrist Kazuhisa Uchihashi auf seiner E-Gitarre sanfte Klänge perlen lässt. "Opening Ceremony" heißt die Performance, mit Schalk im Nacken, weil es ja auch eine letzte ist. Aber in jedem Ende steckt ein Anfang, beziehungsweise so richtig weiß man in Zeiten des Virus nicht, ob etwas vorbei oder verschoben ist.

opening ceremony 3 560 julian baumann uMit letztem Schwung © Julian Baumann

Toshiki Okada sollte tatsächlich einen Teil des Rahmenprogramms der Olympischen Spiele in Japan inszenieren, musste die Proben aber abbrechen, weil die Olympiade nach Ausbruch der Pandemie auf 2021 verschoben werden musste. Welche Texte und Ideen, die er für die Show in Yokohama entwickelt hatte, nun in München Verwendung fanden, lässt sich nicht genau ausmachen. Jedenfalls hat Okada in nur fünf Tagen mit dem Kammerspiele-Ensemble ein versponnen-poetisches Stück wuchern lassen, in dem zunächst vor allem das "globale Event" in den Köpfen herumspukt und ein "Mario", der offenbar Chef ist ("Wenn Mario sagt, dass es gemacht wird, dann wird es gemacht").

"Es war schrecklich!"

Ist er also vielleicht eine Spiegelfigur des scheidenden Kammerspiele-Chefs, dieser Super Mario, der dann auf seinem Go-Kart im roten Overall auf den Rasen rollt? Samouil Stoyanov gibt als Erstes den berühmten Klempner aus dem berühmten Videospiel, wärmt das Publikum auf (in die Knie gehen, hochspringen, Mario-Juchzer!) und könnte, wie gemutmaßt wird, auch nur ein Fake sein. Wer ist also der echte Mario? Etwa Damian Rebgetz, der ebenfalls im roten Overall auf den Rasen summend flaniert, an die Vergangenheit und dabei vielleicht an alte Kammerspiele-Krisen denkt ("Die Zeit war aus den Fugen. Erinnern sie sich? Können Sie sich erinnern? Es war schrecklich!"). Oder Julia Riedler, die wie eine rote Raupe aufs Feld robbt, um sich dann durch eine unsichtbare Wildnis zu kämpfen?

Aus dem Rasen wird vielleicht eine Wiese, denken sich die Gartenarbeiter. Okada geht es offenbar darum, wie Flora und Fauna vielleicht wieder das Ruder übernehmen, wie die Samen nur darauf warten, sich zu verbreiten ("Wind überträgt. Vogel überträgt. Insekt überträgt."), wie die Natur auf einen neuen Start lauert. Auf der gegenüberliegenden Seite lässt Okada ein paar Ensemblemitglieder in grünen Outfits (Kostüme: Victoria Dietrich) mit den grünen Sitzen fast verschmelzen. Eine Form der Mimese, des Schutzes. Aber sie machen sich bemerkbar, mit Sätzen über Honig, Bienen, Insekten, und in dieser eigenwilligen Okada-Körpersprache, die man in München jetzt schon kennt.

opening ceremony 4 560 julian baumann uFerienstimmung © Julian Baumann

Nicht die Idee von globalisierten Mega-Events, sondern von einem internationalisierten Theater hegt Matthias Lilienthal über sein Kammerspiele-Ende hinaus. Sein Team, das hier erneut verschiedene Sprachen spricht (viele deutsch, Thomas Hauser ein heiteres Japanisch, die Mitglieder des Open Border Ensembles – Majd Feddah, Kinan Hmeidan, Kamel Njama – Syrisch-Arabisch), trägt diesen Gedanken womöglich wie Samen in den Köpfen weiter. "Vielleicht ist Mario gar nicht der Name eines Individuums, sondern einer ganzen Spezies", heißt es gegen Ende. Vielleicht gibt es nicht einen Chef, sondern viele Chefs. Oder gleichgestellte Mitglieder in einem Team. Solche schönen Utopien schwirren vielleicht herum. Schön ist es allein schon, sie noch mal (fast) alle vereint zu sehen: das Lilienthal-Ensemble, zwischendurch im Gras sportelnd, unsichtbare Gewichte stemmend, tanzend.
Zuletzt steht Julia Riedler auf dem Rasen und winkt ins Publikum, was sowohl ein Zeichen zum Abschied als auch zur Begrüßung sein könnte. Ensemble und Team verneigen sich. Der Chef hält sich zurück. Einen Empfang gibt es danach, hinter den Rängen im Olympiastadion. Kulturreferent Anton Biebl hält eine Rede auf Lilienthal. Der steht in einigem Abstand daneben und lässt sich dann anhaltend beklatschen. Nach fünf umkämpften Jahren doch ein Held. Super Matthias. Mission erfüllt.
Oder geht sie erst richtig los?

 

Opening Ceremony
von Toshiki Okada
Aus dem Japanischen von Andreas Regelsberger
Regie: Toshiki Okada, Dramaturgie: Tarun Kade, Helene Eckert, Valerie Göhring, Martin Valdés-Stauber, Video: Amon Ritz
Kostüme: Victoria Dietrich, Live-Musik: Kazuhisa Uchihashi.
Mit: Zeynep Bozbay, Majd Feddah, Thomas Hauser, Walter Hess, Kinan Hmeidan, Gro Swantje Kohlhof, Jelena Kuljic, Eva Löbau, Christian Löber, Kamel Najm, Annette Paulmann, Benjamin Radjaipour, Damian Rebgetz, Vincent Redetzki, Julia Riedler, Thomas Schmauser, Samouil Stoyanov, Julia Windischbauer.
Am 11. Juli 2020
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de


Kritikenrundschau

"Auch wenn nie konkretisiert wird, worum es sich bei diesem 'Event' handelt – so ist doch klar: Okada spielt auf die Olympischen Spiele an, die in diesem Jahr in Tokio hätten stattfinden sollen. Und die wie so vieles sorgsam Geplante verschoben werden mussten", so Susanne Burkhardt im DLF Fazit (11.7.2020). Wenn alles Planbare unplanbar werde, was bleibe dann? Wie lange lässt sich das 'globale Event' verschieben? "Um diese Frage kreist die einstündige 'Opening Ceremony', eine kleine Geste in einem großen Raum.

"Lilienthal und München, das war keine Liebesgeschichte. Man hat sich missverstanden, aneinander gestoßen und sich schließlich doch zusammengerauft, ja, angefreundet. Erkenntnis- und Lerneffekte auf beiden Seiten", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (13.7.2020), und über "Opening Ceremony": "Der Ort selbst ist schon das Ereignis. (...) Jetzt kann nichts mehr schiefgehen, da ist es egal, dass der Text, wie immer bei Okada, ein bisschen krude und banal ist." Mit Gärtner-Metaphern spielten die Darsteller*innen auf "ein niedrigschwelliges Programm von Diversität, Internationalität und freiem Austausch von 'Überträgern' an, wie Lilienthal es für sein Theater entwarf", so Dössel: "Die Botschaft ist klar: Sie werden seine Theatersamen weitertragen, auf dass sein Münchner Ende doch zu einem 'Opening' werde."

Ironisch spie­gele "der für die Ambi­va­lenz von gespro­che­ner und verkör­per­ter Botschaft seiner Figu­ren bekann­te" Toshiki Okada die Gigan­to­ma­nie olym­pi­scher Eröff­nungs­fei­ern: "durch die Verein­ze­lung seiner Akteu­re im gleich­sam riesi­gen Univer­sum des Stadi­ons, beglei­tet durch die spär­li­che Live-Musik von Kazu­hi­sa Uchi­ha­shi. Zugleich banal, skur­ril, zuwei­len auch wehmü­tig wirkt dies alles", schreibt Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.7.2020). Wecke das größtenteils leere Stadi­on anfangs noch die Asso­zia­ti­on an das schwin­den­de Publi­kum in der ersten Zeit der Inten­danz Lili­en­t­hals, so töne später mit dem einstu­dier­ten Frage-Antwort-Wech­sel­ge­sang "Alle Pannen dieser Welt? – Repa­riert Mario!" "even­tu­ell auch das endlich zufrie­de­ne Fazit des Thea­ters in diesem durch die Pande­mie zwar ange­fres­se­nen, durch die leiden­schaft­lich bespiel­te, virtu­el­le Kammer 4 jedoch beherzt aufge­fan­ge­nen fünf­ten, letz­ten Jahr".

"Den großen Raum füllt hier ein ausgemachter Meister des Kleinen", schreibt Sabine Leucht in der taz (13.7.2020). "Okadas Text ist verspielt, manchmal poetisch, teils banal und immer redundant. Doch egal, was die Schauspieler sagen, diese letzte Begegnung mit ihnen geht ans Herz. Neben Deutsch wird Japanisch und Arabisch gesprochen und allmählich diffundiert etwas gemäßigt Wildes in die Dialoge hinein." Die "Opening Ceremony" sei keine sich selbst feiernde Rückschau, "sondern eher ein kleiner, hingefrickelter Gruß an eine vielleicht bessere Zukunft, der dem Spektakel, das es nicht geben durfte, keine Träne hinterherweint".

"Den gerechten Abschied – also: den Münchnern letztmals zeigen, was sie verlieren – hatte sich Lilienthal anders vorgestellt." Aber da er keiner sei, der nachträgt und schmollt, mache er der Stadt noch einmal ein Geschenk, schreibt Bernd Noack in der NZZ (14.7.2020). In der schieren Grösse werde das schöne Kleine präsentiert. Im Olympiastadion setze Toshiki Okada mit dem ganzen Kammerspiel-Ensemble eine melancholisch-trotzige Bild- und Wort-Collage in Szene, "die wie ein leises Servus im Gedächtnis bleiben wird." Ein Dutzend Spielfreudige suchen in "Opening Ceremony" nach dem Sinn ihres Spielens und Redens. "Fast zärtlich pflegten sie den Rasen und schwärmten vom bunten Wildwuchs, der durchs sauber gestutzte Grün bricht, um das langweilige Bild von Akkuratesse und Ordnung aufzulockern." Fazi: "Eigentlich hätte Okada seine Inszenierung im Kulturprogramm zu Beginn der diesjährigen Olympischen Spiele in Japan zeigen sollen, aber die wurden ja auch auf 2021 verschoben. Die Fragmente hat er jetzt den Münchnern präsentiert, ohne überraschendes Brimborium, keine Supershow, nur ein wirkliches Kammerspiel in Breitbildformat, wo im grossen, freien Raum die kleinen Sehnsüchte umherschwirren und sich verflüchtigen."

 

 

 

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