Was ist passiert?

19. Juli 2020. Bis vor kurzem hatte das Badische Staatstheater den Ruf, ein modernes Vorzeigehaus zu sein. Das hatte vor allem mit der seit 2018 amtierenden Schauspieldirektorin Anna Bergmann zu tun, die eine Regie-Frauenquote einführte. Jetzt befindet sich das Haus in der Krise.

Anna Bergmann im Gespräch mit Esther Slevogt

Wie konnte das passieren?

Anna Bergmann im Gespräch mit Esther Slevogt

19. Juli 2020. Bis vor kurzem hatte das Badische Staatstheater in Karlsruhe den Ruf, ein modernes Vorzeigehaus zu sein. Das hatte vor allem mit der seit 2018 amtierenden Schauspieldirektorin Anna Bergmann zu tun, die als erste Amtshandlung eine hundertprozentige Regie-Frauenquote einführte. Inzwischen wurde das von Generalintendant Peter Spuhler geleitete Mehrspartenhaus von einer Führungskrise erfasst, in der dem Intendanten unter anderem Machtmissbrauch und ein toxisches Arbeitsklima vorgeworfen werden. Im Zuge dessen wurde ein Spartenleiter nach Vorwürfen sexueller Übergriffe freigestellt.

Auf einem Instagram-Account, wo unter anderem anonym Vorwürfe gegen die Leitung veröffentlicht wurden, finden sich auch Spitzen gegen Anna Bergmann. Zu den Vorgängen in Karlsruhe hat sie lange geschwiegen – aus schwerwiegenden familiären Gründen, wie sie im Vorgespräch zu diesem Interview mitgeteilt hat. Das Interview wurde am Freitagabend nach einer Mitarbeiterversammlung im Badischen Staatstheater per Telefon geführt. Am Vormittag hatte der Verwaltungsrat des Theaters in Karlsruhe getagt – und Peter Spuhlers Verbleib im Amt beschlossen.

 

nachtkritik.de: Anna Bergmann, eben noch galt das Theater Karlsruhe als beispielhaft in Sachen Führungskultur. Sie haben dieses Außenbild wesentlich mitgeprägt. Inzwischen steckt das Haus in einer tiefen Führungskrise. Wie konnte das passieren?

Ich denke, man muss die verschiedenen Bereiche trennen. Die Führungskrise betrifft zunächst einmal den Generalintendanten und sein Verhältnis zum gesamten Haus. Dem kann sich natürlich auch das Schauspiel nicht entziehen. Ich habe mich in den letzten Wochen – neben Gesprächen mit dem Ministerium und auch Peter Spuhler – vor allem intensiv mit meinem Ensemble und Anna BergmannAnna Bergmann © ONUKmeinem Leitungsteam ausgetauscht und sortiert. Im Schauspiel sind wir uns einig, dass es neben der virulenten Causa Peter Spuhler um eine viel größere Debatte geht: Es gibt eine Führungskrise der über Jahrzehnte eingeübten neofeudalen Machtstrukturen im Theater. Diese Strukturen sitzen uns allen so tief in den Knochen, dass man auch selbst nicht davor gefeit ist, diese zu reproduzieren – egal ob man ein Mann oder eine Frau ist. Wir sind vor zwei Jahren mit einem Shared-Leadership-Modell gestartet – Anna Haas als meine Stellvertreterin und Dramaturgin, Sonja Walter als Geschäftsführende Dramaturgin. Das war für Leitung des Staatstheaters nicht immer einfach und kostet natürlich viel mehr Zeit, als wenn nur eine Person schnell etwas entscheidet. Aber ich glaube fest an das Prinzip der geteilten Verantwortung. Um die verkrusteten Machtstrukturen aufzubrechen und Machtmissbrauch effektiv und auf Dauer zu verhindern, muss man eine Kultur der Partizipation und der Mitbestimmung entwickeln. Genau das wollen wir gemeinsam mit unserem Ensemble nun radikal weiterentwickeln. Die Krise hat in diesem Prozess nochmal ganz neue Räume eröffnet. Gemeinsam mit den Schauspieler*innen sind wir dabei, praktikable Möglichkeiten der Teilhabe des Ensembles an wesentlichen strukturellen, personellen und künstlerischen Entscheidungen zu finden. Einzelne vom Ensemble gewählte Vertreter*innen könnten sich an Leitungsaufgaben wie Spielplangestaltung, Disposition, der Besetzung vakanter Stellen und der Auswahl von Regieteams beteiligen. 

Die Vorwürfe gegen Peter Spuhlers Führungskultur sind heftig. Machtmissbrauch, toxische Arbeitsatmosphäre. Was haben Sie davon mitbekommen?

Ich habe nie erlebt, dass er sich Kollegen des Schauspiel-Ensembles gegenüber in irgendeiner Weise lautstark oder cholerisch verhalten hätte. Aber ich habe ein paar Mal mitbekommen, dass Kolleginnen weinend aus einer Sitzung herausgekommen sind. Auch ich selber habe die ein oder andere sehr emotionale Erfahrung gemacht in den letzten Monaten, das muss ich zugeben. Am Anfang hatten wir eine Art Freifahrtschein, aber das hat sich sukzessive verändert. Seit gut einem Jahr haben wir als Leitungsteam einen extremen Kontrolldruck gespürt und den unbedingten Willen des Generalintendanten, dass alles ein Erfolg sein muss. Die Freiheit und die Freude gingen verloren. Corona hat hier noch einmal wie ein Katalysator gewirkt, der alle Unstimmigkeiten noch einmal besonders hervorgehoben und schließlich zum Ausbruch gebracht hat, weil die Leute Zeit hatten, nachzudenken.

Sie kennen Peter Spuhler schon lange – seit seiner Stendaler Zeit in den 1990er Jahren. Hat das Auswirkungen?

Das stimmt und ich wusste natürlich, worauf ich mich einlasse. Ich hatte aber gehofft, dass die Tatsache, dass man sich schon so lange kennt, auch ein großes Vertrauen voraussetzt, und bestimmte Kontrollmechanismen außer Kraft setzt. Das hat zu Beginn wie gesagt gut funktioniert. Und ja - wenn Sie meine Loyalität meinen, ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, hier gäbe es keinen Konflikt.

Haben Sie nicht das Gefühl, dass Sie und Ihre 100%-Frauenquote eine Deckmantel-Funktion hatten, und hinter dieser Fassade weiter ein patriarchales Intendantenmodell völlig unangefochten in Kraft bleiben konnte?

Natürlich ist die Frage berechtigt. Ich glaube aber nicht, dass das so kalkuliert war, um etwas zu verschleiern. Macht verändert die Persönlichkeit von Menschen und so haben die von Peter Spuhler über Jahrzehnte ausgefeilten Kontrollmechanismen natürlich auch vor uns keinen Halt gemacht. Das sitzt zu tief im Blut. Dennoch möchte ich jetzt nicht das Handtuch werfen, sondern ich werde das Ensemble, das mir schließlich vertraut und auch hier arbeiten möchte, nicht im Stich lassen, nur weil ich mich gekränkt fühle.

Es ist ja auch zu hören, dass in Ihrer Sparte die Arbeitsatmosphäre nicht immer gut war, es Streit gab, Produktionen plötzlich abgesagt wurden.

Natürlich ist auch unsere Sparte nicht gefeit vor dem Erfolgsdruck und dem "Das muss jetzt irgendwie gut werden". Ich kann mich da nur in aller Form entschuldigen, wenn ich mich mal im Ton vergriffen oder zu starken Druck ausgeübt habe, weil ich zu sehr wollte, dass alles funktioniert. Um so etwas zu verhindern, haben wir seit einiger Zeit Zwischengespräche eingeführt. Damit eine Produktion nicht vor sich hin köchelt und dann plötzlich stellt man in den Endproben fest: Oh mein Gott, was ist denn da los? 

Wie funktionieren diese Gespräche konkret?

Es ist so, dass es immer – ganz egal ob die Produktion gut oder schlecht läuft – nach etwa drei Probenwochen ein Gespräch mit den Mitgliedern einer Produktion stattfindet. Da wird dann ausgewertet: Wie geht es den Kolleg*innen? Wo steht die Regie, wo das Ensemble? Was passiert in der Produktion? Wir haben eine neutrale Kollegin außerhalb des Schauspiels gefunden, die diese Gespräche moderiert, und die wichtigen Punkte an mich und Anna Haas weiterkommuniziert. Das bringt unglaublich viel, auch für den konkreten Arbeitsprozess. 

Es hat in den vergangenen Jahren verstärkt Initiativen gegeben, die Theaterstrukturen so umzugestalten, dass sie weniger anfällig für Machtmissbrauch sind. So hat der Bühnenverein 2018 auf seiner Jahresversammlung einen Verhaltenskodex zur Prävention von sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch verabschiedet. Wie wurde das bei Ihnen konkret umgesetzt?

Es gab eine Dienstvereinbarung für partnerschaftliches Verhalten, die wurde von der Theaterleitung und dem Personalrat unterschrieben, sie ist allen zugänglich und wird allen Verträgen der Gastkünstler beigelegt.

Was heißt das, Dienstvereinbarung?



In dieser Vereinbarung werden ganz grundsätzliche Dinge festgelegt wie ein respektvolles und wertschätzendes Miteinander. Sie soll jede Form von Übergriffen und Diskriminierung unterbinden, Mobbing und sexuelle Übergriffe verhindern und setzt sich für Chancengleichheit, Diversität und Geschlechtergerechtigkeit ein. Das ist grundsätzlich ein sehr wichtiges und richtiges Papier, nur es muss auch im täglichen Miteinander gelebt werden. 

Achtet jemand darauf, dass das funktioniert? Gibt es bei Ihnen eine Schiedsstelle oder Vertrauensperson?

Es gibt eine Agentin für Diversität, der man diese riesige Aufgabe natürlich nicht aufbürden kann – und natürlich Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsbeauftragte und den Personalrat. Aber auch alle genannten zusammen können das nicht leisten. Ich bin sehr gespannt, welche Rolle der von der Ministerin und dem Verwaltungsrat vorgeschlagene Vertrauensanwalt konkret im Betrieb spielen kann und welche effektiven Schutzmechanismen wir in den Alltag implementieren können. Ich glaube, nur wenn die Leute angstfrei sind und miteinander im Austausch, kann man sich auch extremes Theater auf der Bühne erlauben. Wenn die Leute Angst haben, gibt das auch auf der Bühne keine guten Energien.

Wie sieht vor dem Hintergrund der aktuellen Erfahrungen für Sie eine ideale Stadttheater-Struktur aus?

Es ist ja das erste Mal, dass ich eine Schauspieldirektion innehabe – auch das erste Mal, dass ich in diesem Generalintendanten-Modell gearbeitet habe. Und ich muss sagen: Das ist kein zukunftsträchtiges Modell. Ich glaube es ist nicht gut, wenn eine Person so viel Macht bündelt. Das ist tatsächlich die Quintessenz der Erfahrungen hier. Dieses Modell der Generalintendanz, das ja aus dem Militär stammt, ist überholt. Wenn man diese großen Mehrspartenhäuser retten möchte, was sehr wichtig ist, ist das nur mit unabhängig voneinander arbeitenden Leitungsteams möglich. Ein so großes System kann nur funktionieren, wenn die Macht gleich verteilt ist. Das macht die Struktur für die Politik vielleicht komplizierter, weil mit mehr Menschen gesprochen werden muss. Aber im Einzelnen ist diese Aufteilung von Macht und Verantwortung für die Kunst und auch für die Freiheit, die man dann hat, viel besser. 

Wie geht es in Karlsruhe jetzt weiter? 

Ich war in der Mitarbeiterversammlung mit der Ministerin und dem Bürgermeister dabei – und das war hart. Die Leute sind sehr, sehr aufgebracht über die Entscheidung, dass Peter Spuhler im Amt bleibt. Es muss sich hier jetzt wirklich in kürzester Zeit etwas verbessern, sonst wird das hier nicht weitergehen mit ihm – so, wie die Stimmung ist unter den Mitarbeiter*innen, also das ist schon speziell. Peter Spuhler bleibt, aber er ist jetzt ein Intendant unter Beobachtung. 

Und wie ist Ihre Haltung dazu?

Unter der Prämisse, dass schriftlich festgelegt wird, dass die Machtkompetenzen von Peter Spuhler eingeschränkt werden und die Spartenleiter*innen mehr Kompetenzen und mehr Freiheiten bekommen, begrüße ich erst einmal, dass Peter Spuhler bleibt. Ich finde es tatsächlich richtig, ihm die Chance zu geben zu zeigen, dass er sich ändern kann und bereit ist, in den Strukturwandel zu gehen. Aber ich weiß auch, dass es ein harter Weg ist. Das wird uns allen viel mehr abverlangen. Es bedeutet viel mehr Arbeit einerseits, andererseits vielmehr Freiheit, noch mehr Verantwortung innerhalb jeder Sparte – aber ich sehne mich total danach.

 

Anna Bergmann, Schauspieldirektorin am Staatstheater Karlsruhe, studierte Theaterwissenschaft, Philosophie und Anglistik an der FU Berlin und Regie an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch". Seit 2003 arbeitet sie als Regisseurin an den großen Bühnen im deutschsprachigen Raum. Seit 2014 inszeniert sie auch regelmäßig am Uppsala Stadsteater sowie am Stadsteater Malmö, u.a. Persona von Ingmar Bergman in Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin. Die Arbeit wurde zum Berliner Theatertreffen 2019 eingeladen. 2016 war Anna Bergmann für ihre Inszenierung von Fräulein Julie am Wiener Theater in der Josefstadt für den Nestroy-Preis in der Kategorie "Beste Regie" nominiert.

 

Mehr zum Thema: Georg Patzer berichtet von der Pressekonferenz des Karlsruher Verwaltungsrats, der sich für den Amtsverbleib von Generalintendant Peter Spuhler ausgesprochen hat.

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