Ein Glas Wasser regiert die Welt

von Barbara Villiger Heilig

6. August 2020. In den letzten Jahren kamen wenige Theaterkritiken, die sich Werner Düggelin widmeten, ohne die Bezeichnung "Altmeister" aus. Darüber konnte vergessen werden, dass "der Dügg", wie ihn nicht nur Freunde und Bekannte nannten, seine fulminante Karriere als Jungstar begonnen hatte – und übrigens noch, auch als er schon weit über achtzig war, eine jugendlich unbeschwerte Haltung der Welt gegenüber behielt. Er liebte es, im Restaurant ausgiebig zu tratschen, und freute sich, wenn er via Handy das Neuste – oder Letzte – aus der Theaterwelt erfuhr, das ihm "seine" Schauspieler, darunter immer wieder sehr junge, brühwarm berichteten.

Dass ihn das Älterwerden beschäftigte, zeigt der Mini-Text, den er für eine Schwerpunktbeilage der «Neuen Zürcher Zeitung»-Beilagen beisteuerte. Thema: Alter. Es sei brutal, grausam, hieß es da; helfen könne einem nur das Glück: "Wenn man die Möglichkeit hat, noch das zu tun, was Spaß macht; wenn man noch kritisch denken kann; wenn man die Lust aufs Leben noch behält, die Neugier, die Träume." Ihm selbst war dieses Glück lange beschieden.

Mit 200 Franken nach Paris

Sein Traum war das Theater, dem er sich ab der Studentenzeit verschrieben hatte. Lieber als die Hörsäle der Uni Zürich war ihm das Schauspielhaus am Pfauen, wo der 1929 in Siebnen, Kanton Schwyz, Geborene als Beleuchter bereits Regie führen wollte. Insofern, als er – die Anekdote erzählte er gern – eines Abends einen berühmten Schauspieler, den er speziell unausstehlich fand, statt ins Licht ins Dunkel rückte. Als Regieassistent weigerte er sich, Probenrapporte zu schreiben, weshalb ihm Leopold Lindtberg schließlich 200 Franken in die Hand drückte und ihn nach Paris schickte. Das war Intuition: Die Stadt wurde Düggelins zweite Heimat. Zu Beginn der 1950er Jahre brodelte nicht nur die dortige Theaterszene, und nachdem Düggelin mit einer eigenen Truppe in Asnière draufgängerisch, aber brotlos experimentiert hatte, lernte er Roger Blin kennen, der ihn 1953 bei der Uraufführung von Becketts "Warten auf Godot" assistieren ließ.

Dueggelin Werner 280 Schauspielhaus Zuerich xWerner Düggelin (1929-2020) © Schauspielhaus ZürichBeckett blieb eine Konstante im Theaterleben von Düggelin, der es bei seiner Rückkehr nach Zürich zustande brachte, dass Blin mit der "Godot"-Inszenierung am hiesigen Schauspielhaus gastierte und das Stück dort kurz darauf auch auf Deutsch herausbrachte – zum Missfallen des ratlosen Publikums allerdings. Auch er habe Beckett damals nicht verstanden, sagte Düggelin viele Jahre später. Gespürt hat er aber sehr wohl, dass es sich nicht um "absurdes" Theater handelte, sondern um genau komponierte Parabeln auf die menschliche Existenz. Später, als er sie selbst inszenierte, fand er den Zugang über die Form: Erklärend-deutende Psychologie lehnte er strikt ab. Habe man Beckett gefragt, was dies oder jenes bedeute, sei die Antwort immer gewesen: "Nichts."

Von Zürich ging's nach Darmstadt, wo der große Rudolf Sellner dem Jungregisseur – inzwischen hatte er ein bisschen inszeniert – carte blanche gab. Mit dem Chefdramaturgen Claus Bremer teilte er eine Wohnung, deren Wände die beiden mit einem Cocteau-Diktum dekorierten: "Un verre d'eau règne le monde." (dt. Ein Glas Wasser regiert die Welt.) Tiefsinn oder Nonsense? Jedenfalls besiegelten sie ihre beginnende Freundschaft mit Hochprozentigerem als Wasser, auch wenn es noch nicht jene Bordeaux waren, die Düggelin später bei Dürrenmatt in einem Crash-Kurs trinken und schätzen lernen sollte.

Die Basler Ära

Mit ausschlaggebend für den Erfolg, welcher Düggelin nun von Darmstadt nach Bochum und sogleich auch ans Bayerische Staatsschauspiel in München trug, war ein Theaterkritiker: Denn vor seiner Zeit bei der FAZ hatte Georg Hensel in Darmstadt seine Sicherheit als Talent-Entdecker bewiesen. Düggelin wurde zum heißbegehrten Jungregisseur am Berliner Schiller-Theater, am Burgtheater Wien, in Hamburg, Düsseldorf, bei den Salzburger Festspielen – und in Zürich. Dann aber, 1968, kam Basel, wo er – nun als Intendant – den Betrieb umkrempelte: Junges Publikum holte er mittels Jazz- und Pop-Konzerten ins Theater, Diskussionsrunden sorgten für intellektuellen Austausch, avantgardistische Literaturabende gehörten ins Programm. Kurz: All das, was im heutigen Stadttheaterbetrieb dazugehört, erfanden Düggelin und seine Crew – der als Chefdramaturg Herman Beil angehörte – bereits zu ihrer Basler Zeit in der "Kunsthalle", dem benachbarten Restaurant mit dem quasi ausgelagerten Intendantenbüro.

GluecklicheTage1 560 ToniSuter TTFotografie uLeib-und-Magen-Autor Samuel Beckett: "Glückliche Tage" inszenierte Werner Düggelin 2015 am Schauspielhaus Zürich © Toni Suter / T+T Fotografie

Im Zentrum aber stand die Theaterarbeit mit vielen Uraufführungen und Schweizerischen Erstaufführungen, mit einem tollen Ensemble – und international bekannten Regisseuren. Eröffnet hatte Düggelin seine Ära mit Friedrich Dürrenmatts Shakespeare-Bearbeitung "König Johann". Ein Riesenerfolg; doch im weiteren Verlauf der Zusammenarbeit mit diesem Spezialkaliber von Autor kam es zum Eklat. Trotzdem ging Düggelins Basler Intendanz, die bis 1974 dauerte, in die Annalen der Stadtgeschichte ein; und es ist kein Zufall, dass der Regisseur, nachdem er eine Weile das Centre Culturel Suisse in Paris geleitet hatte, fortan zwischen Basel und Zürich pendelte.

An beiden Orten arbeitete er ab den 1980er Jahren regelmäßig, wobei seine Inszenierungen immer leichter, luftiger und gleichzeitig konzentrierter wurden, schwerelose Träume von nachhaltiger Wirkung. Requisiten waren verpönt, überflüssige Worte auch. Ben Jonsons Monsterstück "Volpone" dauerte bei Düggelin bloß eine gute Stunde, doch sogar bei Laura de Weck, der minimalistischen Jungdramatikerin, von der er zwei Stücke uraufführte, setzte er den Bleistift an. Nie regierte das Konzept, stets standen die Schauspieler im Mittelpunkt der wundersamen Bilder, zu denen sich dramatische Plots unter seiner Regie fügten. Was der leidenschaftliche Kunstliebhaber Düggelin bei den geliebten Agnes Martin, Cy Twombly, Jean Tinguely, Jean-Michel Basquiat fand, strahlte auch sein – ja – Alterswerk aus: Transparenz, Klarheit, Charme und Poesie.

Vergangene Nacht ist Werner Düggelin in Basel gestorben.

 

Barbara Villiger Heilig ist promovierte Romanistin. Sie war von 1991 bis 2017 Redaktorin und führende Theaterkritikerin im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung und gehörte dem Kritikerteam der Sendung "Literaturclub" des Schweizer Fernsehens an. 2017 wechselte sie zum Online-Magazin "Republik". Heute arbeitet sie als Freelance-Kulturjournalistin.



Mehr zum Thema auf nachtkritik.de: Die Meldung zum Tod von Werner Düggelin. Im Lexikoneintrag alle jüngeren Inszenierungen von Werner Düggelin, die hier besprochen wurden.

 


Presseschau

"Der beste aller Zuhörer" und ein "Regie-Beichtvater von Gnaden" ist Werner Düggelin für Gerhard Stadelmaier von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (6.8.2020). "Der 'Dügg' schien halt seinen Figuren immer so nahe, als wollte er sie im Traum fangen, aber im Wachsein erst belauschen. So wurde er zu einem der ganz Großen im Revier der europäischen Feinheitstheaterkünstler."

"Seine Inszenierungen forderten Reduktion um jeden ästhetischen und kulinarischen Preis und huldigten dem Verzicht auf jedwede Handlung und objektive Dramaturgie", schreibt Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (6.8.2020). Seine Inszenierungen seien "moderner als das, was wir gewöhnlich für modernes, zeitgenössisches Theater nehmen", gewesen. "Werner Düggelin war ein für die Schweiz untypischer Träumer von Gegenwelten, die nur aus der Poesie hervorgehen können."

"Werner Düggelin war der wohl letzte lebende Altmeister der Regie – ein Autodidakt und Lausbub, der mit seinem künstlerischen Credo 'Clarté et Simplicité' die Theaterlandschaft nicht nur der Schweiz und viele Generationen von Bühnenkünstlern und -künstlerinnen bereichert und geprägt hat", heißt es im Schweizer Rundfunk in den SRF 4 News (6.8.2020).

Im St. Gallener Tagblatt (6.8.2020) schreibt Julia Stephan: "Düggelins Theater war nie kopflastig, dafür 'prall', was nicht bunt oder knallig meint, sondern ein alle Theatermittel kennendes und deshalb umso bewusster einsetzendes Kalkül. Schauspieler waren Düggs Leidenschaft; mit ihnen lebte und litt er. Und er war ein Visionär und Träumer, dem man oft liebevoll nachsagte, er sei ein Spinner. Einer, der seinem minimalistischen Stil bis in die hohen Jahre treu blieb, ihn sogar noch steigerte bis zur Perfektion."

 

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