Der Kaiser von Kalifornien - Volksbühne Berlin
Überblick ohne Horizont
von Christian Rakow
Berlin, 27. August 2020. Es ist schön, dass diese Theatersaison trotz Corona mit einem vertrauten Moment beginnt. "Wie bitte, zweieinhalb Stunden?", blickten sich die Gäste am Eingang der Volksbühne entgeistert an, denn man hatte geglaubt, dass die Hygieneregeln allenfalls schlanke Neunzigminüter zulassen. Aber wir sind am Rosa-Luxemburg-Platz. Hier sind die Belüftungsanlagen dem Vernehmen nach Extraklasse, und Überlänge gehört zur DNA des Hauses.
Ökonomiegeschichtliche Reflexion mit Luis Trenker
Das Grundgefühl von "Langer Marsch" passt natürlich ganz gut zu diesem Western aus der Goldgräberzeit, den Alexander Eisenach als Autor und Regisseur angerichtet hat: "Der Kaiser von Kalifornien" ist inspiriert vom Schweizer Abenteurer Johann August Sutter, der in Kalifornien um 1839 die Privatkolonie New Helvetia gründete und prosperieren ließ, bis Gold auf seinem Land gefunden wurde, die Arbeitskräfte abwanderten und seine Güter eingingen.
Luis Trenker verklärt Sutter mit dem titelgebenden Film "Der Kaiser von Kalifornien" (von 1936), der für Eisenach gleichwohl nur eine untergeordnete Rolle spielt. Das Geschäft des Theatermachers ist seit Längerem die ökonomiegeschichtliche Reflexion, die er in gelehrten Referaten über wechselnde Stoffe legt. In Berlin gab's von ihm letzthin den Thomas-Mann-Kommentar "Felix Krull" und den hermetischen Nachklapp aus eigener Feder "Die Stunde der Hochstapler", beide am Berliner Ensemble. Im "Kaiser von Kalifornien" sucht Eisenach nun die Bruchstelle von der alten landwirtschaftlich geprägten Kolonial-Ökonomie zur modernen Finanzwirtschaft und ihren Glaubenszusammenhängen.
Letztes Abendmahl als römisches Gelage
Atmosphärisch hebt er an, Live-Percussion und sphärische Sounds (von Sven Michelson und Niklas Kraft) entrücken die Welt ins Dämmertal. Ein großes, ruhiges Wimmelbild entsteht, von Live-Videokameras eingefangen: Die Eroberer des Westens, die ihre Gesichtsmasken wie Banditen tragen, besiedeln ein eisernes Fort mit vier Wachtürmen, das Bühnenbildner Daniel Wollenzin mittig mit einem imposanten Mühlrad versehen hat. Bald schaffen sie Getreide herbei, Wein. Eine Ansicht des letzten Abendmahls formt sich, nur dass die Jünger um Sutter wie Sprösslinge von Billie the Kid aussehen und ihr Tisch nach römischem Gelage.
Für diese Saisoneröffnung wirft die Volksbühne alles an Schauspielkraft in die Waagschale: "Fack ju Göhte"- und "Berlin Alexanderplatz"-Frontfrau Jella Haase ist mit dabei, Robert Kuchenbuch als knurrender Kopfgeldjäger, Manolo Bertling, der das süße Lied des Venture-Kapitals säuselt, oder Sarah Franke als schmerzbefreit die Spitzhacke schwingende Goldgräberin. Den Protagonisten Sutter knallt Johanna Bantzer mit filigran breitbeiniger Cowboy-Coolness in die Volksbühnen-Steppe. Wann immer man etwas von diesen Figuren zu sehen kriegt, möchte man verweilen. Gern auch länger als die angesagten zweieinhalb Stunden. Aber viel kriegt man von ihnen leider nicht.
Geschichtsvorlesung der spröden Sorte
Denn schon bald kommt dem Regisseur Alexander Eisenach der Autor in die Quere. Und der hat eher weniger mit Figuren zu schaffen und überhaupt wenig mit Szenen oder Handlungsförmigem. Was er seinen Akteuren in den Mund legt, klingt wie akademische Sachbuchprosa, die ein gutes Stück von der Spiegel Bestsellerliste entfernt ihr karges Dasein fristet: mit knallhartem Substantivstil, ohne Anschauliches, ohne konkretes Erzählen, Schlagwort auf Schlagwort gehäuft.
Kostprobe gefällig? Orpheus, den es irgendwann hereinweht, sagt: "Ich falle ohne Rückhalt, ohne Stabilität, inmitten einer erschreckenden Freiheit. / Ich falle in den Ruin und in die Verzweiflung, in die Liebe und die Hemmungslosigkeit. Fallen bedeutet: Leidenschaft und Hingabe, Niedergang, Katastrophe, Dekadenz und Befreiung. / Im freien Fall, leidend und genießend. Duldend oder akzeptierend. / Diese Perspektive verschafft mir einen Überblick ohne Horizont oder den historischen Standpunkt, von dem aus ich die Ordnung in ihrer Gänze betrachten kann. / Wenn ich heranzoome, werde ich Zeuge eines Klassenkampfs, von oben gesehen, und ich sehe wie die Erde verarbeitet wird, diese Insel, dieses kleine Fragment des Universums, vermischt mit Blut, definiert durch die Geophysik und die Daten für ihre eigene Darstellung."
Das Heranzoomen, das dieser Orpheus hier für sich behauptet, praktiziert der Autor an keiner Stelle. Alles wird auf Stichwortgabe reduziert, mit Fremdtexten aufgeblasen, und als Zuschauer darf man sich in inneren Ratespielen ergehen (der Ich-hab's-erkannt-Faktor wird zur Durchhaltepille in diesem Corona-Theatermarathon). So weicht der famose Stoff um den skrupellos aufsteigenden und untergehenden Kolonialcowboy Sutter einem vergröberten Blick auf die Rolle von Glauben und Fiktionen in der Entwicklungsgeschichte der Zivilisation – vom Götterglauben der Agrarrevolution bis zum Kreditwesen der Wachstumswirtschaft. Eine Geschichtsvorlesung der spröden Sorte, an der sich die Schauspieler zunehmend gottverlassen abrackern. So viel Schufterei, und keine Goldnuggets nirgends!
Der Kaiser von Kalifornien
von Alexander Eisenach
Regie: Alexander Eisenach, Bühne: Daniel Wollenzin, Kostüme: Lena Schmid, Pia Dederichs, Licht: Johannes Zotz, Video und Live-Kamera: Oliver Rossol, Dramaturgie: Hannah Schünemann.
Mit: Sólveig Arnarsdóttir, Johanna Bantzer, Manolo Bertling, Sarah Franke, Katja Gaudard, Sebastian Grünewald, Jella Haase, Robert Kuchenbuch, Daniel Nerlich, Emma Rönnebeck sowie Sven Michelson, Niklas Kraft (Musiker).
Premiere am 27. August 2020
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause
www.volksbuehne.berlin
Der Anfang ist gut, bilderreich, findet Katrin Bettina Müller in der taz (29.8.2020). Aber die Typen, die danach entwickelt werden, erlebe man kaum in eine Geschichte eingespannt. Das erschwere auf die Dauer die Aufmerksamkeit. "Man fühlt sich ein wenig, als hätte man einen Abenteuerroman kaufen wollen und stattdessen ein Sachbuch in den Händen, von frischen Studienabgängern der Soziologie oder Ökonomie geschrieben."
"Leider klingen Eisenachs Texte eher nach Seminar als nach Bühne", findet auch Christine Wahl im Tagesspiegel (29.8.2020). "Die gewaltigen Mittel, die er inszenatorisch auffährt – Livevideo auf flächendeckendem Gazevorhang, treibender Percussion-Sound der Musiker Sven Michelson und Niklas Kraft – können den drögen Lehrcharakter des Abends nicht kompensieren."
Eisenach behalte seine weitschweifenden und sehr grundsätzlichen Überlegungen über das menschliche Zusammenleben unter dem Einfluss des Kapitals über weite Strecken erstaunlich fest im Zaum, meint hingegen Fabian Wallmeier (28.8.2020) im RBB. "Doch im letzten Drittel verliert er den Faden. Nach dem vielleicht stärksten Bild der Inszenierung, in dem das Ensemble den Western-Stepptanz vom Beginn in Infektionsschutzanzügen ins immer Unheimlichere steigert, dreht die Inszenierung völlig frei."
Eisenach versuche, Sutters Aufstieg und Fall weiter und neu zu durchdenken, "seine Schlüsselthemen virtuos, teils aber auch allzu dichotomisch zu durchleuchten", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (29.8.2020). "Die Schule Sebastian Hartmanns sieht und hört man diesem anspruchsvollen Reflexionstheater deutlich an." Das Bühnenbild, das schwarz-weiße Licht und die filmischen Mehrfachüberblendungen verwandelten den Raum "in ein Labyrinth aus vielen Zeiten und Erzählhaltungen", lobt Meierhenrich. "Leider verliert diese luftige Tiefe durch den sich heillos übernehmenden Text bald jede Bodenhaftung."
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