Großstadtcowboy, was nun?

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 28. August 2020. Vorne auf der Bühne steht ein kleines Fernsteuerauto, einsam und alleine wie ein vergessenes Spielzeug. Die Wand dahinter ist in ein Video vom Kreuzberger Oranienplatz in der Dämmerung getaucht. Und die Sentimentalitäts-Latte für diese erste Premiere im Maxim Gorki Theater nach Lockdown und Sommerpause liegt gleich schon sehr hoch, noch bevor die Geschichte von "Berlin Oranienplatz" überhaupt begonnen hat.

"Willst du, dass ich hierbleibe?"

Hakan Savaş Mican hat sich nur ein bisschen von Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" geliehen. Sein Mitte 30-jähriger Protagonist Can soll ins Gefängnis gehen, weil er seinen Traum, als Sohn von "Import-Export-Mehmet" zum gefeierten Modedesigner aufzusteigen, mit dem Verkauf gefälschter Klamotten finanziert hat und dabei erwischt wurde. Gefängnis wartet also auf ihn, und Schulden warten auf ihn, und wir verbringen seinen letzten Tag in Freiheit mit ihm, an dem er den Plan macht, am nächsten Morgen nach Istanbul abzuhauen, an dem er aber vor allem Menschen aus seiner Vergangenheit aufsucht oder zufällig trifft auf seinen Wegen durchs hochsommerliche heimatliche Kreuzberg.

berlinoranienplatz1 560 UteLangkafel uDer doppelte Taner Şahintürk, Sesede Terziyan und die Band © Ute Langkafel

Dabei ist nicht nur das Wetter warm, sondern auch zwischenmenschlich begegnet die Welt Can mit freundlicher Aufmerksamkeit. Er muss sich nie verzweifelt aufbäumen gegen eine gefühlskalte Umwelt, er muss sich gar nicht erst die Blöße geben seine Situation zu erklären, weil sie sich in den Begegnungen ganz von selbst entfaltet und von den anderen, ob Mutter, Reisebüro-Angestellter oder alter Bekannter, mehr oder weniger umfassend erkannt wird.

Auf der Bühne sorgt die Live-Band mit angenehmem Bar-Jazz für eine stabile Atmosphäre, und Taner Şahintürk ist in der Rolle des Can der knuffigste lonesome cowboy, den man sich vorstellen kann. Aber ein lonesome cowboy bleibt er eben auch, denn die ganze Anteilnahme ändert nichts an seiner Lage. Besiegelt wird das zum Schluss, im einzigen Moment, in dem er selbst einen Anker auswirft, seiner Ex-Freundin Zeynep (Sesede Terziyan) von seinem Plan, nach Istanbul abzuhauen, erzählt und sie dann fragt: Willst du, dass ich hierbleibe? Statt direkt auf diese Frage zu antworten, bietet sie ihm an, ihn am nächsten Morgen zum Gefängnis zu begleiten.

"Warum haben manche ein privilegiertes Leben?"

In dieser Szene ist die Inszenierung ganz in der Intimität des Theaterraums angekommen, wenn Zeynep sich nach einem Auftritt als Amy Winehouse-Double in ihrer Garderobe die Beehive-Perücke abnimmt, während Can seiner Verzweiflung – natürlich im pandemisch gebotenen Sicherheitsabstand – verhältnismäßig freien Lauf lässt. Ja, das ist hemmungslos klischeehaft, so wie auch Cans Begegnung mit seiner fürsorglichen Mutter, während diese auf dem Markt weggeschmissenes Gemüse einsammelt. So wie überhaupt der etwas hölzerne Aufbau der Geschichte, die auf der Bühne beginnt als Film mit kleinen, zunächst eher illustrativ wirkenden theatralen Einsprengseln.

berlinoranienplatz3 560 UteLangkafel uSesede Terziyan mit Beehive-Perücke © Ute Langkafel

Doch dann verwebt Hakan Savaş Mican die Videobilder mit immer stärker werdenden Theaterszenen, lässt das Theater schließlich übernehmen und kann sich dabei auf Spieler*innen verlassen, die die Geschichte ausnahmslos mit Gefühlsleben prall befüllen. Darum geht es hier, nicht in erster Linie darum, eine klare politische Message zu formulieren, auch wenn Can sich und die anderen einmal fragt: "Warum kommen manche auf die Welt als Kinder einer reichen, wohlhabenden Familie und haben ein tolles, privilegiertes Leben und andere nicht. Warum stellen wir die nicht in Frage, die uns sagen, dass wir kein besseres Leben haben können als unsere Eltern?"

Beeindruckende emotionale Fallhöhe

Im Film-Theater-Verblendungs-Prinzip liegt der Trick von "Berlin Oranienplatz", und Mican wendet es zunehmend virtuos auch auf die reinen Theaterszenen an, wenn zum Beispiel in der Koranschule die Background-Sängerinnen aus dem Jazzclub von der Szene davor in gläubige Sinnsucher*innen mutieren, die gleichwohl jede ihrer Fragen an den Imam mit einer explosiven Gesangseinlage rahmen, als würden sie sich noch mitten in der Show befinden.

The show must go on – das gilt ja eben auch für Can, dem hier kein eindeutiger Ausweg aus der Ungerechtigkeit seines Schicksals geboten wird und dem Taner Şahintürk eine beeindruckende emotionale Fallhöhe verleiht, wenn er in den Filmbildern mit undurchdringlicher Miene seinen Mercedes-Oldtimer durch Berlin steuert und in den Theaterszenen keine der vielen Nuancen auslässt, die der Stücktext zwischen den Zeilen belässt. Wenn er ganz zum Schluss noch einmal ausbricht aus dem Film und sein Fernsteuerauto gegen die Hinterwand des Bühnenraums fahren lässt, ist man ganz bei ihm im dann doch offenen Ende dieser Berlin-Geschichte, die in zwei weiteren Teilen fortgesetzt werden soll.

 

Berlin Oranienplatz
von Hakan Savaş Mican
Regie: Hakan Savaş Mican, Musikalische Leitung: Jörg Gollasch, Video: Mikko Gaestel, Bühne: Alissa Kolbusch, Kostüme: Sylvia Rieger, Dramaturgie: Irina Szodruch, Holger Kuhla, Livemusik: Lukas Fröhlich, Peer Neumann, Lizzy Scharnofske, Natalie Plöger.
Mit: Emre Aksızoğlu, Anastasia Gubareva, Sema Poyraz, Taner Şahintürk, Falilou Seck, Tim Seyfi, Sesede Terziyan.
Premiere am 28. August 2020
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

Eine "berührende erzählerische Inszenierung, in der es um Einsamkeit geht" hat Ulrich Seidler gesehen und schreibt in der Berliner Zeitung (29.8.2020): "Das Tolle an Hakan Savas Mican und natürlich an dem Ensemble ist, dass keine der Figuren für dumm verkauft wird."

"Cans Verwerfungen und Unzulänglichkeiten, seine geplatzten Träume und aufkeimenden Hoffnungen packt Mican in eine wohlig-warme Melancholie, umspielt vom geschmeidig gespielten Kuschel-Jazz", sagt Fabian Wallmeier im rbb Kulturradio (29.8.2020). "Der Abend tut niemals weh, geht aber eben auch niemals richtig zu Herzen."

"In seiner konsequent schwermütigen Grundstimmung mit zarten Hoffnungsmomenten scheint 'Berlin Oranienplatz' wie gemacht für diesen ambivalenten Spielzeitbeginn", schreibt Tom Wohlfarth in der taz (31.8.2020). "Der große Bruder in Berlin-Mitte wird allerdings – inhaltlich wie ästhetisch – kaum einmal von Ferne sichtbar. Nachdem zuletzt Burhan Qurbani mit seiner fulminanten Verfilmung von Döblins 'Jahrhundertroman' dessen mythischen Kampf des Individuums um Selbstbehauptung kongenial in ein migrantisches Milieu der Gegenwart transportiert hat, backt man am Gorki momentan noch (krisenbedingt?) kleinere Brötchen. Hoffen wir, dass die beiden folgenden Teile dieser 'Stadt-Trilogie' den Weg aus der Krise heraus etwas deutlicher aufzeigen – oder sich weniger große Vorbilder wählen."

"Spätestens nach zwei Minuten dieser warmherzigen Großstadtballade hat man alle Corona-Zumutungen vergessen", lobt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (31.8.2020): "Wie schön, dass wieder Theater gespielt wird!" Regisseur Hakan Savaş Mican erzähle "lakonisch und klar, mit Liebe zu seinen Figuren, ohne falsche Töne oder Typenverkürzungen". Außerdem lerne man "wie oft am Gorki, die Stadt aus etwas anderen Perspektiven kennen".

"Das Eröffnungsstück dieser Gorki-Saison unter Krisen-Bedingungen hätte nicht besser (...) passen können", schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (1.9.2020). Regisseur Mican lasse "Videoszenen und Live-Performance ineinandergreifen", während "eine Jazz- Combo aus Natalie Plöger, Lizzy Scharnofske, Lukas Fröhlich und Peer Neumann" den "Soundtrack mit Film-noir-Appeal" liefere. Diese Form "geht auf, weil sie im Dienst der Geschichte steht".

mehr nachtkritiken