Den Helfern ist nicht zu helfen

von Alexander Jürgs

Darmstadt, 29. August 2020. Das ist natürlich ein kluger Kniff, wenn man will, dass wenigstens ein paar Leute mehr pro Aufführung etwas zu sehen bekommen: das Stück auf zwei Bühnen spielen zu lassen. In den Kammerspielen des Darmstädter Staatstheaters sitzt der eine Publikumsteil, im Foyer der zweite. Live-Videos, von den Schauspielern selbst gefilmt, auf LED-Bildschirme übertragen, sorgen dafür, dass die Handlung an beiden Orten ohne Lücke verfolgt werden kann – wobei die, die im eigentlichen Theatersaal Platz gefunden haben, deutlich im Vorteil sind. Gespielt wird der größte Teil des Stückes nämlich dort.

Das Hygienekonzept formt das Stück 

Es ist schon rührend, mit welchen Tricks und Ideen an Deutschlands Bühnen gerade versucht wird, trotz Pandemie eine Art Normalbetrieb auf die Beine zu stellen. Doch das Ganze ist auch ein Problem: Denn das, was unternommen werden muss, um Abstandsregeln und Hygeniekonzepte zu erfüllen, bleibt in der Regel nicht ohne Einfluss auf die Ästhetik. Auch bei der Uraufführung von "Lauf und bring uns dein nacktes Leben", dem ersten Theaterstück von Schriftsteller und Reporter Rainer Merkel, ist das so. Es fängt schon damit an, dass der Stoff nun in einer "Darmstädter Fassung" heruntergekürzt auf knapp unter zwei Stunden Länge uraufgeführt wird. Nicht aus künstlerischen Gründen wurde hier gestrichen, sondern wegen der Infektionsgefahr.

LaufUnd 560 robertSchittko uMaskiert und in sicherem Abstand: Ulrike Fischer, Murat Seven, Ernest Allan Hausmann © Robert Schittko

Mit seinem Debüt als Bühnenautor, das 2017 zum Stückemarkt des Berliner Theatertreffens eingeladen war, wirft Rainer Merkel, Jahrgang 1964, ein Schlaglicht auf die Entwicklungsarbeit. Everyday Ghandhi hat der Autor die fiktive Nichtregierungsorganisation getauft, um die sich sein tragisch-komisches Stück dreht. Max (Murat Seven) und Conny (Ulrike Fischer) arbeiten für diese Organisation in Sierra Leone, kümmern sich um eine Handvoll traumatisierter Jungen, die in dem verheerenden Bürgerkrieg, der in dem westafrikanischen Land mehr als zehn Jahre wütete, vermutlich als Kindersoldaten kämpfen mussten – wobei bis zum Ende offen bleibt, ob das tatsächlich der Fall war.

In Darfur sind die Menschen so dankbar

Edgar, der Geschäftsführer (Mathias Znidarec), und Reno, der ehrenamtliche Vorstandschef der NGO (Thorsten Loeb), eine Mischung aus Zyniker und Vaterfigur, reisen an, um das Projekt unter die Lupe zu nehmen, Max und Conny fühlen sich unter Druck gesetzt, fürchten um ihre Jobs. Charlotte, eine frühere erfolgreiche Mitarbeiterin der Organisation, die mittlerweile aber arbeitslos ist (Gabriele Drechsel), nutzt den Besuch, um wieder in Kontakt mit dem Vorstandschef zu gelangen, mit dem sie sich seit Ewigkeiten verbunden fühlt.

Immer deutlicher zeichnet sich das Geflecht ab, dass diese Menschen verbindet. Und auch immer klarer lässt sich erkennen, dass sie in ihrem Zirkel gefangen sind, dass ihr Helfen zum Selbstzweck geworden ist und die Sozialprojekte dementsprechend auch danach beurteilt werden, wie hoch ihr Marketingwert ist. "Unser nächstes Projekt sollte in Darfur sein", sagt Reno einmal. "Die Menschen da sind so demütig und dankbar."

Im Rausch des Helfens

Wie Rainer Merkel auf das blickt, was er in einer Reportage einmal den "Rausch des Helfens" nannte, hat etwas Desillusionierendes. Dabei dürfte es nicht allzu weit von der Wirklichkeit entfernt sein: Zwei Jahre lang hat der Schriftsteller selbst in einem Krankenhaus der Hilfsorganisation Cap Anamur gearbeitet, als Reporter hat er viele Krisenregionen detailliert unter die Lupe genommen und beschrieben. Die Figuren seines Stücks sind vielschichtig, widersprüchlich, nicht mit der Schablone gezeichnet.

Doch das Spiel mit den Videokameras, aber auch, dass mit Ernest Allan Hausmann noch ein Darsteller auf der Bühne agiert, der wie ein Stellvertreter mal in diese, mal in jene Figur schlüpft, der mal den Vorstandschef, mal den Geschäftsführer, mal den Projektkoordinator Max mimt, lässt die Figuren schnell immer unklarer erscheinen. Aus den Dialogen werden Textflächen, was dem komplexen Thema nicht gut tut. So zerfranst das Stück, je länger der Theaterabend läuft, trotz spielfreudigem Ensemble immer mehr. Eine konzentriertere – ja, auch: klassischere – Inszenierung hätte diesem hochspannenden Stoff sicherlich besser getan.

Lauf und bring uns dein nacktes Leben
von Rainer Merkel
Uraufführung
Regie: David Stöhr, Bühne und Kostüm: Sarah Sassen, Musik / Komposition: Shannon Sea, Dramaturgie: Maximilian Löwenstein, Video: Jan Heck.
Mit: Mathias Znidarec, Murat Seven, Thorsten Loeb, Ulrike Fischer, Gabriele Drechsel, Ernest Allan Hausmann.
Premiere am 29. August 2020
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.staatstheater-darmstadt.de

 


Kritikenrundschau

"Der Vergeblichkeitsfuror der Figuren" drohe "zu versickern wie Wassertropfen im Wüstensand", schreibt Volker Oesterreich in der Rhein-Neckar-Zeitung (30.8.2020). "Andererseits ist die weltweite Gefährdung im Foyer und in den Kammerspielen des Staatstheaters Darmstadt sehr präsent. Per Live-Video werden die Szenen in den Saal übertragen, die draußen im Foyer gespielt wird – und umgekehrt. Dabei assoziieren die weit voneinander platzierten Zuschauer womöglich ihren Berufsalltag mit Videokonferenzen im Homeoffice. Doch zu viel bleibt an der Oberfläche. Das Virus der inszenatorischen Tristesse und des sprachlichen Smalltalk-Geplänkels ist zu stark." Gleichwohl würden die Regie in ihrem starken Umgang mit den Corona-Vorgaben und das Ensemble "vom Premierenpublikum zu Recht gefeiert".

"Merkels Fragen sind wichtig. Interessant fürs Theater sind sie nur so bedingt", schreibt Eva-Maria Magel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (31.8.2020). Technisch "prima gelöst" findet sie die Hybridform aus Livespiel und Videoübertragung. "Das etwas Sterile der Videos passt zu den Protagonisten der NGO", die helfen wollen, aber nur um ihr eigenes Ego kreisen. Text und Spiel neigten zu Überdeutlichkeit: "Etwas zäh treten persönliche Beweggründe aller Beteiligten, sich in Afrika zu engagieren, zutage, dazu ihre von Klischees beladenen Blicke auf die unsichtbare lokale Zielgruppe, der sie sich als 'Aufopferungskünstler' widmen." Das zersplittert-flächige Spiel, das die Rollentexte auf immer wieder andere Sprecher übertrage, mindere das Interesse an den Biographien und der eher epischen Handlung, die einem alten Kunstgriff folge: "Wenn von Afrika erzählt wird, verschwimmen in er weißen Perspektive Realität, Wahn, Fiktion."

Psychologisch genau beobachte Rainer Merkels Text die Verunsicherung und die Angst der europäischen Helfer, schreibt Johannes Breckner im Darmstädter Echo (31.8.2020). Aber in der modellhaft zugespitzten Problematik gelinge es ihm nicht, sein Thema "dramatisch wirklich zu fassen". Das liege nicht an den Corona-bedingten Kürzungen, sondern daran, "dass der Autor Haltungen ins Rennen schickt und keine Charaktere". David Stöhrs Regie verstärke diesen Effekt noch, indem sie die eindeutige Zuordnung von Darsteller und Rolle aufweiche. "Weit entfernt" sei die Aufführung von der spannungsvollen Dramatik, die im explosiven Stoff stecken könnte.

Stöhr lasse Hausmann, "der ostfriesische wie ghanaische Wurzeln hat, mal in diese, mal in jene Rolle schlüpfen: Es dreht die Dinge, ändert die Wahrnehmung", so Sylvia Staude in der Frankfurter Rundschau (31.8.2020). Die Kammerspiele würden so symbolisch zur Gated Community, "in die sich die Helfer zurückziehen, damit sie bloß nicht zu viel Kontakt mit den Einheimischen haben, schon gar nicht mit den Traumatisierten".

Kommentare  
Lauf und bring ..., Darmstadt: Rahmen der Realität
Wie kann der Kritiker bei einem Stück über eine Art gated community in der sich die NGO-Mitarbeiter*innen bewegen, nicht darauf kommen, dass es nicht nur mit Hygiene-Konzepten zu tun hat, dass eine Live-Aufführung im Kammerspiel-Keller in das weiße cleane Theaterfoyer, per Kamera und Kopfhörer in die Distanz übertragen wird, wobei das Foyer als Übergangs-Ort auch für den airport steht? Das Konzept, einen Text über Absonderung, Luxus-Blasen und eine neue ansteckende Krankheit (hier Ebola) mit räumlicher Distanz zu spielen, macht auch vor Corona-Konzepten Sinn und ist schlau. Gerade wenn es auch um das (westliche) Bild das von "Afrika" produziert wird, geht. Dem Regie-Team ging es sicher nicht um die Anzahl der verkauften Karten dabei.
Lauf..., Darmstadt: Kritik-Kritik
Lieber Alexander Jürgs, liebes nachtkritik-Team,
wir befinden uns in Zeiten von Corona. Theater versuchen, wie viele andere Institutionen aufzumachen, zu spielen und mit der derzeitigen Krise umzugehen. Es eröffnen sich neue Möglichkeiten, andere schliessen sich. In diesem Zusammenhang frage ich mich: Was soll diese Kritik? Eine, die mit überalterten Bewertungsnormen und -floskeln überheblich über Theater urteilt, als wäre in den letzten Monaten nichts geschehen. Sorry, das geht nicht. Gerade von der Plattform "nachtkritik" erwarte ich eine progressive und neue Form der Kritik, die zumindest versucht mit den neuen Gegebenheiten umzugehen.
Was soll das bitte, zu schreiben, es wäre "rührend" von den Theatern einen Normalbetrieb wieder herstellen zu wollen. Hier ist nichts "rührend", es ist ein Kampf ums überleben und ich fühle mich als Theatermacher, hier weder ernst genommen noch respektiert. "Rührend" ist höchstens diese Kritik, die von einem "spielfreudigen" Ensemble spricht, aber noch nicht mal in der Lage ist, einzelne Darsteller zu benennen. Was soll das? "Rührend" ist der Wunsch nach einer "klassischeren" Inszenierung. Was soll das sein? Was hätte das konkret gebracht? Ich wünsche mir von einer Kritik einen Bericht über das Gesehene, darüber was aufgeht und was weniger funktioniert, um vor allem einen Eindruck davon zu kriegen, was mit dem Abend versucht wird. Eine Kritik der Corona-Einschränkung brauche ich nicht. Genauso wenig pauschalisierende Wertungen des Ensembles oder der Inszenierung. Schwach und enttäuschend diese Kritik und wenig informativ.
Lauf ...,Darmstadt: angebracht
Lieber Arbeiter,
danke.
Hatte diese schlecht geschriebene Kritik auch mit Stirnrunzeln gelesen und mir gedacht wie "rührend" es ist weiterhin ein corona-unberührtes-Kunstrichtertum inklusive sinnloser Inszenierungshinweise zu lesen, aber dann doch nichts dazu geschrieben. Zeilengeld wird ja weiterhin auch für das "rührend" dahinsiechende Feuilleton nicht ganz unwichtig sein, und größere Genauigkeit aka Liebe zum Gegenstand würde ich in der momentanen Krisensituation auch erwarten. Das soll nun weiß Gott kein Aufruf zum Jubelpersertum sein, aber Präzision in der Beschreibung und ja vielleicht auch einfach ein paar mehr Worte der Deskription wie Analyse wären momentan schon angebracht, sollte man sich nicht leichtfertig in einer Krise auch aus Hybris und Blasiertheit um den eigenen Spielpartner bringen wollen.
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